Passagier nach Frankfurt Агата Кристи Aus dem Englischen von Leonie Bubenheim Hachette Collections Die Originalausgabe erschien unter dem Titel PASSENGER TO FRANKFURT © 1970 Agatha Christie Limited, a Chorion Company. All rights reserved. Passagier nach Frankfurt Übersetzung von Leonie Bubenheim. Copyright © 2008 Hachette Collections Für Margaret Guillaume Einleitung Die Autorin spricht: Die erste Frage, die einem immer gestellt wird, entweder persönlich oder schriftlich, ist: «Woher bekommen Sie Ihre Einfälle?» Die Versuchung ist groß zu antworten: «Ich gehe immer zu Harrods» oder «Ich bekomme sie meistens von den Army & Navy Stores.» Oder schnippisch: «Versuchen Sie es mal bei Marks & Spencer.» Die allgemein verbreitete Meinung scheint zu sein, dass es irgendwo einen Zauberbrunnen mit Einfällen gibt, den die Schriftsteller anzapfen können. Man kann seinen Interviewpartner auch kaum in die Zeit von Elisabeth der I. zurückverweisen mit dem Shakespeare-Vers: Sag mir, wo wächst Fantasie? Sitzt im Herz, im Kopfe sie? Wie wurde sie genähret? Sag an, sag an… Also sagt man nur entschieden: Ich habe sie im Kopf. Das bringt natürlich niemanden weiter. Wenn man den Interviewer sympathisch findet, gibt man nach und wird ein bisschen ausführlicher. «Wenn ein spezieller Einfall attraktiv erscheint und man hat das Gefühl, man könnte etwas damit anfangen, schiebt man ihn hin und her, macht ein paar Kunststückchen damit, baut ihn aus, spielt ihn wieder herunter und bekommt ihn so nach und nach in Form. Dann muss man natürlich anfangen, alles niederzuschreiben. Das ist bei weitem nicht so lustig – sondern harte Arbeit. Alternativ kann man ihn beiseitelegen, auf Lager, zur Verwendung in vielleicht ein oder zwei Jahren.» Die zweite Frage lautet dann meist: «Nehmen Sie Ihre Charaktere alle aus dem richtigen Leben?» Darauf folgt dann eine empörte Ablehnung dieser monströsen Behauptung. «Nein, das tue ich nicht. Ich erfinde sie. Sie gehören mir. Es müssen meine Charaktere sein – die tun, was ich will, die sein müssen, wie ich sie mir wünsche – für mich zum Leben erwachen, manchmal mit ihren eigenen Vorstellungen, aber nur weil ich sie habe real werden lassen.» Also, man hat seine Ideen entwickelt, auch die Charaktere – jetzt aber kommt die dritte Anforderung – der Schauplatz. Die ersten beiden Punkte kommen aus inneren Quellen, aber der dritte liegt außerhalb – er muss dort sein – und warten – schon existieren. Das erfindet man nicht – es ist vorhanden – es ist wirklich. Man hat vielleicht schon einmal eine Nilkreuzfahrt gemacht – man erinnert sich an alles – genau der Schauplatz, den man sich für diese bestimmte Geschichte vorstellt. Man hat irgendwo in Chelsea gegessen. Es gab einen Streit – ein junges Mädchen hat einem anderen ein Büschel Haare ausgerissen. Ein wunderbarer Anfang für das Buch, das man als Nächstes schreiben möchte. Man reist mit dem Orientexpress. Was für ein Spaß, ihn zum Schauplatz der Handlung zu machen, die man bereits im Sinn hat. Man geht zum Tee bei einer Freundin. Bei der Ankunft klappt ihr Bruder das Buch, das er gerade liest, zu – legt es beiseite und sagt: «Nicht schlecht, aber um Himmels willen, warum haben sie Evans nicht gefragt?» Also beschließt man sofort, dass das Buch, das man in Kürze zu schreiben gedenkt, den Titel tragen soll «Warum haben sie Evans nicht gefragt?» Man weiß noch nicht, wer Evans sein wird. Doch das macht nichts. Evans wird schon auftauchen – der Titel steht auf jeden Fall. So erfindet man seine Schauplätze nicht im eigentlichen Sinne. Sie liegen außerhalb, rundherum, existieren bereits, man muss nur die Hand ausstrecken und sich etwas aussuchen. Einen Zug, ein Krankenhaus, ein Hotel in London, einen Strand in der Karibik, ein Dorf auf dem Lande, eine Cocktailparty, eine Mädchenschule. Es gibt nur eine Bedingung – sie müssen vorhanden sein – bereits existieren. Wirkliche Menschen, reale Orte. Ein bestimmter Punkt in Zeit und Raum. Wenn der im Hier und Heute liegt – wie bekommt man dann die volle Information – neben dem, was man mit eigenen Augen und Ohren wahrgenommen hat? Die Antwort ist beängstigend einfach. Die Presse bringt es jeden Tag, serviert in der Morgenzeitung unter der allgemeinen Schlagzeile «Nachrichten». Man entnimmt alles der Titelseite. Was ist heute los auf der Welt? Was sagt, denkt, tut alle Welt? Man muss nur einen Spiegel für das Jahr 1970 in England vor die Zeitung halten. Man sieht sich diese Titelseite einen Monat lang jeden Tag an, macht Notizen, ordnet und sortiert. Jeden Tag gibt es ein Tötungsdelikt. Ein Mädchen wurde erwürgt. Eine alte Frau wurde überfallen und ihrer mageren Ersparnisse beraubt. Junge Männer oder Jungs – sie attackieren oder werden attackiert. Gebäude und Telefonhäuschen wurden zerschlagen und sind ausgebrannt. Drogenschmuggel. Raub und Überfälle. Vermisste Kinder und die Leichen ermordeter Kinder, aufgefunden nicht weit von ihrem Elternhaus. Soll das England sein? Ist England wirklich so? Man hat das Gefühl – nein – noch nicht, aber es könnte so sein. Angst kommt auf – Angst vor dem, was sein könnte. Nicht so sehr wegen der tatsächlichen Ereignisse, sondern wegen der Ursachen, die dahinterstecken könnten. Manche kennt man, manche sind unbekannt, aber man fühlt sie. Und nicht nur in England ist das der Fall. Es gibt kleinere Artikel, auf anderen Seiten der Zeitung – mit Nachrichten aus Europa – aus Asien, aus Amerika – weltweite Nachrichten. Flugzeugentführungen. Entführungen. Gewalt. Aufstände. Hass. Anarchie – und all das nimmt ständig zu. Alles scheint zu einem Kult der Zerstörung hinzuführen, auf die Lust an der Grausamkeit. Was hat das alles zu bedeuten? Eine Shakespeare-Zeile schickt ihr Echo aus der Vergangenheit, sie sagt vom Leben: … ein Märchen ist’s, Erzählt von einem Blödling, voller Klang und Wut, Das nichts bedeutet. Und doch weiß man – aus eigener Erfahrung –, wie viel Güte es noch auf dieser unserer Welt gibt, wie viel Freundlichkeit, wie viel Herzensgüte, Akte des Mitleids, Nachbarschaftshilfe, die Hilfe, die Jungen und Mädchen leisten. Warum dann diese fürchterliche Stimmung in den Tagesnachrichten – von Dingen, die sich ereignen – die reale Fakten sind? Um im Jahr 1970 eine Geschichte zu schreiben, muss man sich mit dem Hintergrund arrangieren. Wenn die Geschichte fantastisch, unwahrscheinlich ist, muss man sich mit ihrem Hintergrund abfinden. Sie muss selbst eine Fantasie sein – eine fantastische Dichtung, eine Extravaganz. Der Schauplatz muss die fantastischen, unwahrscheinlichen Fakten des täglichen Lebens enthalten. Kann man sich eine Fantasie-Bewegung vorstellen? Eine heimliche Machtkampagne? Kann die manische Sucht nach Zerstörung eine neue Welt schaffen? Kann man noch einen Schritt weiter gehen und die Erlösung andeuten, eine Erlösung durch unwahrscheinlich und unmöglich scheinende Mittel? Nichts ist unmöglich, das hat die Wissenschaft uns gelehrt. Diese Geschichte ist im Kern eine Fantasie. Sie gibt nicht vor, etwas anderes zu sein. Aber die meisten Ereignisse, die darin vorkommen, geschehen oder deuten sich in der Welt von heute an. Es ist keine unmögliche Geschichte – nur eine fantastische. 1. Buch. Reiseunterbrechung Kapitel 1 Passagier nach Frankfurt I «Bitte anschnallen.» Die Passagiere im Flugzeug leisteten nur zögernd Folge. Es herrschte allgemein der Eindruck, dass sie unmöglich schon in Genf ankommen könnten. Die Schläfrigen stöhnten und gähnten. Die noch Benommeneren mussten sanft von einer gebieterischen Stewardess geweckt werden. «Ihre Sitzgurte, bitte.» Die trockene Stimme kam herrisch über den Lautsprecher. Sie erklärte auf Deutsch, Französisch und Englisch, dass eine kurze Schlechtwetterstrecke durchzustehen sei. Sir Stafford Nye öffnete den Mund so weit wie möglich, gähnte und setzte sich aufrecht in seinen Sitz. Er hatte gerade selig vom Angeln in einem englischen Fluss geträumt. Ein Mann von 45 Jahren, mittelgroß, mit ebenmäßigem olivenfarbenen, glattrasierten Gesicht. Seine Kleidung tendierte eher zum Bizarren. Als Mann aus bester Familie kultivierte er ganz souverän solche Launen in seiner Bekleidung. Wenn dies seine konventioneller gekleideten Kollegen gelegentlich zusammenzucken ließ, so war das nur ein Quell boshafter Belustigung für ihn. Er hatte etwas von einem Dandy aus dem 18. Jahrhundert. Er genoss es aufzufallen. Seine bevorzugte Reisekleidung war eine Art Räuberumhang, den er einmal auf Korsika gekauft hatte. Er war von einem besonders dunklen Lila-Blau, hatte ein scharlachrotes Futter und besaß eine burnusartige Kapuze, die er nach Belieben über den Kopf ziehen konnte, um sich vor Zugluft zu schützen. In diplomatischen Kreisen galt Sir Stafford Nye als Enttäuschung. Von Jugend an aufgrund seiner Begabungen für Großes bestimmt, hatte er, was die Erfüllung der Erwartungen betraf, eklatant versagt. Ein eigenwilliger Sinn für schwarzen Humor pflegte ihn ausgerechnet in den entscheidenden ernsten Momenten zu überfallen. Im Zweifelsfall zog er es vor, seinem seltsamen Humor zu frönen statt sich zu langweilen. Er war eine bekannte Persönlichkeit des öffentlichen Lebens, ohne sich jemals irgendwie hervorgetan zu haben. Man war der Ansicht, dass Stafford Nye, wenn auch äußerst brillant, ein eher unzuverlässiger Mensch sei und auch bleiben würde. In diesen Zeiten verworrener Politik und verworrener internationaler Beziehungen war Sicherheit der Brillanz vorzuziehen, besonders wenn man den Botschafterrang anstrebte. Sir Stafford wurde aufs Abstellgleis geschoben, war jedoch gelegentlich mit Missionen betraut, die der Kunst der Intrige bedurften, allerdings nicht allzu wichtig oder allzu öffentlicher Natur waren. Journalisten bezeichneten ihn zuweilen als die unbekannte Größe der Diplomatie. Ob Sir Stafford selbst unzufrieden mit seiner Karriere war, wusste niemand. Vielleicht nicht einmal Sir Stafford selbst. Er war ein Mann mit gewissen Eitelkeiten, aber auch jemand, der es sehr genoss, seinem Hang zum Unfug nachzugeben. Er kehrte gerade von einer Untersuchungskommission in Malaysia zurück. Er hatte sie als ausgesprochen uninteressant empfunden. Seine Kollegen hatten seiner Meinung nach bereits im Voraus beschlossen, wie ihre Untersuchungsergebnisse aussehen sollten. Sie beobachteten und lauschten, ihre vorgefassten Ansichten wurden davon jedoch in keiner Weise berührt. Sir Stafford hatte versucht, einigen Sand ins Getriebe zu werfen, mehr nur so zum Spaß als aus ausgesprochener Überzeugung. Zumindest hatte es die Situation etwas belebt, dachte er. Er wünschte sich mehr Gelegenheit zu solchen Aktivitäten. Seine Kollegen in der Kommission waren solide, zuverlässige Burschen – und bemerkenswert langweilig. Sogar das einzige weibliche Mitglied, die allseits bekannte Mrs. Nathaniel Everidge, sonst wohlbekannt für ihre Spleens, war keine Närrin, wenn es um eindeutige Fakten ging. Sie schaute, sie lauschte – und ging auf Nummer sicher. Er hatte sie früher schon einmal getroffen, anlässlich einer Tagung wegen eines Problems in einer der Balkanhauptstädte. Dort hatte sich Sir Stafford nicht enthalten können, einige interessante Vorschläge zu unterbreiten. In der skandalverliebten Zeitschrift Inside News wurde angedeutet, dass die Anwesenheit von Sir Staffort Nye in jener Balkan-Kapitale innig mit den dortigen Problemen verwoben und seine Mission von geheimer Art und höchst delikat sei. Eine Art Freund hatte Sir Stafford ein Exemplar zugesandt, die betreffenden Passagen waren markiert. Sir Stafford war nicht abgeschreckt. Er las es mit einem freudigen Grinsen. Es amüsierte ihn sehr, wie lächerlich weit die Journalisten in diesem Fall von der Wahrheit entfernt waren. Seine Anwesenheit in Sofiagrad war einzig dem unschuldigen Interesse an seltenen Wildblumen und der dringlichen Einladung seiner betagten Freundin Lady Lucy Cleghorn zuzuschreiben, die ständig auf der Suche nach diesen scheuen Blumen-Raritäten war. Sie schien jederzeit bereit, beim Anblick irgendeines Blümchens, bei dem die Länge des lateinischen Namens im umgekehrten Verhältnis zu seiner Größe stand, eine Felsklippe zu erklimmen oder mit Freuden in eine Moorpfütze zu springen. Eine kleine Gruppe von Enthusiasten hatte diese botanische Exkursion etwa zehn Tage lang an den Berghängen unternommen, da ging es Sir Stafford auf, dass der Abschnitt in der Zeitschrift nicht der Wahrheit entsprach. Er war der Wildblumen ein wenig – wirklich nur ein wenig – überdrüssig. Und so sehr er Lucy auch zugetan war, ihre Fähigkeit trotz ihrer über 60 Lenze die Berge in Höchstgeschwindigkeit zu erklimmen und ihn mit Leichtigkeit zu überholen, ärgerte ihn zuweilen. Immerzu schwebte ihr königsblauer Hosenboden direkt vor seiner Nase. Und auch wenn an anderen Stellen hinreichend knochig, war sie, Gott seis geklagt, zu ausladend in den Hüften, um königsblaue Cordhosen zu tragen. Dann doch besser eine nette kleine internationale Affäre, in der er die Hand im Spiel haben könnte… Im Flugzeug erklang wieder die metallische Lautsprecherstimme. Sie verkündete den Passagieren, dass die Maschine wegen dichten Nebels in Genf nach Frankfurt umgeleitet und von dort nach London weiterfliegen würde. Passagiere nach Genf würden sobald wie möglich von Frankfurt zurückgeflogen werden. Sir Stafford Nye war das gleichgültig. Wenn in London Nebel wäre, würden sie die Maschine vermutlich nach Prestwick umleiten. Er hoffte, das würde nicht geschehen. Er war bereits zu oft in Prestwick gewesen. Das Leben an sich, dachte er, und Flugreisen im Besonderen, waren wirklich übertrieben langweilig. Wenn nur – er wusste selbst nicht was – wenn nur – was? II In der Transitlounge in Frankfurt war es warm, also warf Sir Stafford seinen Umhang zurück, das scharlachrote Futter dramatisch um die Schultern drapiert. Er trank ein Glas Bier und lauschte mit halbem Ohr den verschiedensten Durchsagen. «Flug 4387 nach Moskau. Flug 2381 nach Ägypten und Kalkutta.» Reisen über den ganzen Erdball. Wie romantisch das hätte sein können. Aber die Atmosphäre einer Passagierlounge auf dem Flughafen hatte rein gar nichts Romantisches. Es gab zu viel zu kaufen, zu viele eintönige Sitzgelegenheiten, zu viel Plastik, zu viele Menschen, zu viele schreiende Kinder. Er versuchte, sich zu erinnern, wer gesagt hatte: Ich wünschte, ich liebte die Menschheit; ich wünschte, ich liebte ihr einfältig Gesicht. Vielleicht Chesterton? Es war auf jeden Fall richtig. Man musste nur genügend Leute zusammenbringen, dann sahen alle so peinlich gleichförmig aus, dass es kaum auszuhalten war. Nur ein interessantes Gesicht jetzt, dachte Sir Stafford, was für einen Unterschied das schon machen würde. Er sah verächtlich nach zwei jungen Frauen, erstklassig gekleidet, in die übliche Uniform ihres Landes, immer kürzere und kürzere Miniröcke – England, vermutete er –, und nach einer weiteren jungen Frau, noch besser gekleidet – wirklich sehr gut aussehend –, die etwas, das man wohl als Hosenanzug bezeichnete, trug. Sie war auf dem Laufsteg der Mode schon ein wenig weiter vorangekommen. Er interessierte sich nicht besonders für gut aussehende junge Frauen, die wie alle anderen gut aussehenden jungen Frauen aussahen. Er hätte lieber eine, die anders aussah. Eine Frau setzte sich neben ihn auf das Kunstledersofa. Ihr Gesicht weckte sofort seine Aufmerksamkeit. Nicht nur, weil es anders war, er glaubte fast, sie zu kennen, es war ein ihm bekanntes Gesicht. Er hatte sie schon einmal gesehen. Er konnte sich nicht erinnern, wo oder wann, sie war ihm aber auf jeden Fall bekannt. Er schätzte ihr Alter auf vielleicht fünf- oder sechsundzwanzig. Eine feine, schmale Adlernase, eine dichte schwarze Haarmähne, die bis auf die Schulter fiel. Sie hielt eine Zeitschrift vor sich, schenkte ihr aber keine Aufmerksamkeit. Stattdessen sah sie ihn an, mit fast gespannter Aufmerksamkeit. Plötzlich sprach sie ihn an. Sie hatte eine tiefe Altstimme, fast wie ein Mann, und einen leichten ausländischen Akzent. «Darf ich Sie ansprechen?», fragte sie. Er sah sie einen Augenblick eindringlich an, bevor er antwortete. Nein – nicht was man hätte glauben können –, das war kein Annäherungsversuch. Das war etwas anderes. «Ich sehe keinen Grund», sagte er, «warum Sie das nicht tun sollten. Wie es scheint, haben wir viel Zeit totzuschlagen.» «Nebel», sagte die Frau, «Nebel in Genf, vielleicht Nebel in London. Nebel überall. Ich weiß nicht, was ich tun soll.» «Machen Sie sich keine Gedanken», sagte er beruhigend, «irgendwo werden sie schon landen. Die sind ganz tüchtig, bestimmt. Wohin reisen Sie denn?» «Ich war nach Genf unterwegs.» «Nun, irgendwie werden Sie dort schon ankommen.» «Ich muss jetzt dorthin. Wenn ich nach Genf komme, ist alles in Ordnung. Dort ist jemand, der mich abholt. Da werde ich sicher sein.» «Sicher?» Er lächelte. «Sicher ist ein Schlagwort, aber nicht die Art Schlagwort, an dem die Menschen heutzutage interessiert sind. Und doch kann es eine Menge bedeuten. Es bedeutet sehr viel für mich.» Dann sagte sie: «Sehen Sie, wenn ich nicht nach Genf gelangen kann, muss ich entweder das Flugzeug hier verlassen oder in dieser Maschine nach London Weiterreisen, ohne dass Vorkehrungen getroffen sind, und dann werde ich ermordet.» Sie sah ihn scharf an. «Ich nehme an, Sie glauben mir nicht.» «Ich fürchte, nein.» «Es ist aber wahr. Menschen können ermordet werden. Sie werden es, jeden Tag.» «Wer will Sie ermorden?» «Ist das wichtig?» «Nicht für mich.» «Sie können mir glauben, wenn Sie nur wollen. Ich sage die Wahrheit. Ich brauche Hilfe. Hilfe, um sicher nach London zu gelangen.» «Und warum wollen Sie mich dafür aussuchen?» «Weil ich glaube, dass Sie etwas über den Tod wissen. Sie haben Tod erfahren, vielleicht einen Tod gesehen.» Er sah sie scharf an und dann wieder weg. «Irgendwelche anderen Gründe?» «Ja. Das hier.» Sie streckte ihre schmale olivenfarbene Hand aus und berührte die Falten des voluminösen Umhangs. «Das hier.» Sein Interesse war zum ersten Mal geweckt. «Was meinen Sie damit?» «Er ist ungewöhnlich – etwas Besonderes. Nicht das, was jeder trägt.» «Das ist wohl wahr. Meinen Sie, es zeugt von meiner Manieriertheit?» «Eine Manieriertheit, die mir vielleicht nützlich sein könnte.» «Was meinen Sie damit?» «Ich möchte Sie um etwas bitten. Sie werden vielleicht ablehnen, aber vielleicht auch nicht, weil ich denke, dass Sie ein risikofreudiger Mann sind. So wie ich eine risikofreudige Frau bin.» «Ich werde mir Ihren Plan anhören», sagte er mit dem Anflug eines Lächelns. «Ich möchte Ihren Umhang tragen. Ich möchte Ihren Pass haben. Ich möchte Ihre Bordkarte für die Maschine. Gleich, in etwa zwanzig Minuten oder so, wird der Flug nach London aufgerufen. Ich werde Ihren Pass haben und Ihren Umhang tragen. Und damit werde ich nach London reisen und so sicher ankommen.» «Sie meinen, Sie wollen sich für mich ausgeben? Mein liebes Mädchen!» Sie öffnete ihre Handtasche und entnahm ihr einen kleinen viereckigen Spiegel. «Schauen Sie mal», sagte sie. «Schauen Sie mich an und dann sehen Sie Ihr eigenes Gesicht an.» Jetzt sah er es, sah, was in Gedanken vage an ihm genagt hatte. Seine Schwester Pamela, die vor etwas zwanzig Jahren gestorben war. Sie waren sich immer sehr ähnlich gewesen, er und Pamela. Eine starke Familienähnlichkeit. Sie hatte ein leicht maskulines Gesicht gehabt. Sein Gesicht hatte, besonders in der Jugend, eher weibliche Züge. Sie hatten beide eine Nase mit hohem Rücken, schräge Augenbrauen, Lippen, die zu einem leicht seitlichen Lächeln verzogen waren. Pamela war groß gewachsen, etwa 1,75 Meter, er ungefähr 1,80 Meter. Er betrachtete die Frau, die ihm den Spiegel gereicht hatte. «Es besteht eine gewisse Ähnlichkeit im Gesicht, das meinen Sie doch, nicht wahr? Aber, mein liebes Mädchen, keine, der mich oder Sie kennt, würde sich davon täuschen lassen.» «Natürlich nicht. Verstehen Sie nicht? Das ist nicht notwendig. Ich trage Hosen auf der Reise. Sie sind mit der Kapuze über dem Kopf gereist. Ich muss nur meine Haare abschneiden, sie in Zeitungspapier wickeln und in einen der Papierkörbe hier werfen. Dann ziehe ich Ihren Burnus über, ich habe Ihre Bordkarte, Ihr Ticket und Ihren Pass. Es sei denn, jemand ist an Bord, der Sie gut kennt – und ich nehme an, das ist nicht der Fall, sonst hätten Sie miteinander gesprochen. Also kann ich sicher als Sie verreisen: Ich zeige Ihren Pass vor, wenn nötig, und ziehe mir die Kapuze über den Kopf, sodass nur Nase und Augen zu sehen sind. Ich kann einfach aussteigen, wenn das Flugzeug seinen Bestimmungsort erreicht hat, und niemand wird wissen, dass ich an Bord war. Ich gehe davon und verschwinde in der Londoner City in der Menge.» «Und was mache ich?», fragte Sir Stafford mit dem Anflug eines Lächelns. «Ich habe einen Vorschlag, wenn Sie bereit sind, ihn anzunehmen.» «Heraus damit», sagte er, «ich höre Vorschläge immer gern.» «Sie stehen auf und gehen weg, kaufen eine Zeitung oder ein Magazin oder ein Geschenk am Geschenktresen. Sie lassen Ihren Umhang einfach hier auf dem Sitz liegen. Wenn Sie mit dem, was Sie gekauft haben, zurückkommen, setzen sie sich woanders hin – vielleicht ans Ende der Bank dort auf der anderen Seite. Vor Ihnen wird ein Glas stehen, immer noch dieses Glas hier. Darin befindet sich etwas, das Sie einschläfern wird. Schlafen Sie in einer ruhigen Ecke.» «Und was passiert dann?» «Sie sind dann vermutlich das Opfer eines Raubüberfalls geworden», sagte sie. «Irgendjemand hat Ihnen ein paar K.-o.-Tropfen in den Drink getan und Ihre Brieftasche gestohlen. Etwas in der Art. Sie klären Ihre Identität, sagen, dass Ihr Pass und Ihre Sachen gestohlen wurden. Sie können mit Leichtigkeit Ihre Identität beweisen.» «Sie wissen, wer ich bin? Ich meine, Sie kennen meinen Namen?» «Noch nicht», sagte sie. «Ich habe ja Ihren Pass noch nicht gesehen. Ich habe keine Ahnung, wer Sie sind.» «Und trotzdem behaupten Sie, ich könne meine Identität leicht beweisen.» «Ich besitze gute Menschenkenntnis. Ich weiß, wer wichtig ist und wer nicht. Sie sind eine bedeutende Persönlichkeit.» «Und warum sollte ich all das tun?» «Vielleicht retten Sie damit einem Menschen das Leben.» «Ist das nicht eine sehr unglaubwürdige Geschichte?» «Oh ja. Sehr unglaubwürdig. Glauben Sie mir?» Er sah sie nachdenklich an. «Wissen Sie, wie Sie klingen? Wie eine schöne Spionin in einem Kriminalroman.» «Ja, vielleicht. Aber ich bin nicht schön.» «Und Sie sind keine Spionin?» «Man könnte mich vielleicht so nennen. Ich besitze bestimmte Informationen. Informationen, die ich für mich behalten möchte. Sie müssen mich ernst nehmen, es sind Informationen, die wichtig für Ihr Land sein könnten.» «Finden Sie nicht, dass Sie sich ziemlich absurd anhören?» «Doch. Schriftlich würde es absurd scheinen. Aber es gibt so viele absurde Dinge, die wahr sind, oder?» Er sah sie erneut an. Sie war Pamela sehr ähnlich. Ihre Stimme, wenn auch mit fremder Intonation, klang wie Pamelas Stimme. Was sie vorschlug, war lächerlich, absurd, völlig unmöglich und vielleicht sogar gefährlich. Gefährlich für ihn. Eine Frechheit, ihm so etwas vorzuschlagen! Was würde dabei herauskommen? Es wäre wirklich interessant, das herauszufinden. «Was habe ich davon?», fragte er. «Das würde ich gerne wissen.» Sie sah ihn prüfend an. «Zerstreuung», sagte sie. «Etwas jenseits des täglichen Einerleis? Ein Gegenmittel gegen die Langeweile vielleicht? Wir haben nicht viel Zeit. Es liegt ganz bei Ihnen.» «Und was geschieht mit Ihrem Pass? Muss ich mir am Tresen eine Perücke kaufen, wenn es hier so etwas zu kaufen gibt? Muss ich mich als Frau ausgeben?» «Nein. Es geht nicht darum, die Rollen zu tauschen. Sie sind ausgeraubt und betäubt worden, aber Sie bleiben Sie selbst. Entscheiden Sie sich. Die Zeit wird knapp. Ich muss schließlich noch meine Verwandlung vollziehen.» «Sie haben gewonnen», sagte er. «Man soll das Außergewöhnliche nicht ablehnen, wenn es einem angeboten wird.» «Ich habe gehofft, das Sie es so nehmen würden, aber es war ungewiss.» Stafford Nye zog seinen Pass aus der Tasche. Er steckte ihn in die Außentasche des Umhangs, den er getragen hatte. Er stand auf, gähnte, sah sich um und spazierte zum Tresen, wo verschiedene Waren zum Verkauf angeboten wurden. Er blickte nicht einmal zurück. Er kaufte ein Taschenbuch und befühlte ein paar kleine Stofftiere, passende Geschenke für ein kleines Kind. Schließlich suchte er sich einen Pandabären aus. Er sah sich in der Lounge um und kehrte an seinen alten Platz zurück. Die junge Frau war mit dem Umhang verschwunden. Ein halbes Glas Bier stand noch auf dem Tisch. Hier, dachte er, gehe ich nun ein echtes Risiko ein. Er nahm das Glas, ging etwas zur Seite und trank es aus. Nicht schnell. Ganz langsam. Es schmeckte genauso wie vorher. Dann ging er quer durch die Lounge in eine weit entfernte Ecke. Dort saß eine etwas laute Familie, alle lachten und redeten wild durcheinander. Er ließ sich in ihrer Nähe nieder, gähnte und ließ seinen Kopf auf das Kissen zurückfallen. Ein Flug nach Teheran wurde aufgerufen. Eine große Anzahl von Passagieren erhob sich und stellte sich in die Schlange an dem Flugsteig mit der aufgerufenen Nummer. Die Lounge blieb immer noch halb voll. Er öffnete sein Buch und gähnte erneut. Er war jetzt wirklich müde, sehr müde… Er musste jetzt überlegen, wohin er am besten gehen könnte, um zu schlafen. Irgendwo, wo er bleiben konnte… Trans European Airways kündigten den Abflug ihrer Maschine Flug 309 nach London an. III Eine ganze Reihe von Passagieren erhob sich, um dem Aufruf zu folgen. Um diese Zeit waren noch mehr Passagiere in die Transitlounge gekommen. Sie warteten auf andere Maschinen. Ankündigungen wegen des Nebels in Genf und anderer Reisebehinderungen folgten. Ein schlanker Mann von mittlerer Größe ging durch die Halle, um seinen Platz in der Warteschlange für die Maschine einzunehmen. Er trug einen dunkelblauen Umhang, dessen rotes Futter zu sehen war. Die Kapuze war über das kurz geschorene Haupt gezogen. Seine Frisur war nicht viel fransiger als die vieler junger Leute heutzutage. Er zeigte seine Bordkarte und verschwand durch das Tor Nummer neun. Weitere Bekanntgaben folgten. Swissair mit Flug nach Zürich. BEA nach Athen und Zypern – und dann eine andere Art von Durchsage. «Miss Daphne Theodofanous, Passagier nach Genf, bitte zum Abflugschalter kommen. Die Maschine nach Genf ist wegen Nebels verspätet. Die Passagiere werden über Athen umgeleitet. Die Maschine ist jetzt zum Abflug bereit.» Andere Durchsagen folgten, für Passagiere nach Japan, Ägypten und Südafrika, Flüge in alle Welt. Mr. Sidney Cook, Passagier nach Afrika, wurde dringend gebeten, zum Schalter zu kommen, wo ihn eine Mitteilung erwartete. Daphne Theodofanous wurde erneut aufgerufen. «Dies ist der letzte Aufruf für Flug 309.» In einer Ecke der Lounge sah ein kleines Mädchen einen Mann im dunklen Anzug an, der fest eingeschlafen war, seinen Kopf an das Kissen des roten Sessels gelehnt. In der Hand hielt er einen kleinen flauschigen Pandabären. Das kleine Mädchen streckte die Hand nach dem Pandabären aus. Seine Mutter sagte: «Nein, Joan, fass das nicht an. Der arme Herr ist eingeschlafen.» «Wo fährt er denn hin?» «Vielleicht fliegt er auch nach Australien», sagte die Mutter. «Wie wir.» «Hat er auch so eine kleine Tochter wie mich?» «Anscheinend», sagte die Mutter. Das kleine Mädchen seufzte und guckte wieder sehnsüchtig auf den Panda. Sir Stafford Nye schlief weiter. Er träumte gerade, er versuche einen Leoparden zu schießen. «Ein sehr gefährliches Tier», sagte er zu dem Safariwächter, der ihn begleitete. «Ein sehr gefährliches Tier, habe ich immer gehört. Einem Leoparden kann man niemals trauen.» In diesem Augenblick änderte sich der Traum, wie Träume das so an sich haben, und er trank Tee mit seiner Großtante Matilda und versuchte, sie zum Zuhören zu bringen! Sie war schwerhöriger als je zuvor. Er hatte keine der Durchsagen wahrgenommen, außer der ersten für Miss Daphne Theodofanous. Die Mutter des kleinen Mädchens sagte: «Ich habe mich immer gefragt, was wohl mit den Passagieren los ist, die nicht erscheinen. Fast jedes Mal, wann immer und wo immer man auch hinfliegt, hört man diese Durchsagen. Es gibt immer irgendjemand, den sie nicht finden. Jemand, der den Aufruf nicht gehört hat oder nicht in der Maschine ist oder irgend so was. Ich frage mich immer, wer das ist und was sie gerade tun oder warum sie nicht gekommen sind. Ich nehme an, dass Miss Soundso oder wer auch immer einfach ihren Flug verpasst hat. Was werden sie dann mit ihr machen?» Niemand konnte ihre Frage beantworten, weil niemand etwas darüber wusste. Kapitel 2 London Sir Stafford Nye besaß eine sehr hübsche Wohnung mit Aussicht auf den Green Park. Er stellte die Kaffeemaschine an und schaute nach, ob er am Morgen Post bekommen hatte. Offensichtlich gab es nichts wirklich Aufregendes. Er sah die Briefe durch, ein oder zwei Rechnungen, eine Quittung, Briefe mit ziemlich uninteressanten Poststempeln. Er schob sie zusammen und legte sie auf den Tisch, wo bereits Post lag, die sich während der letzten beiden Tage angesammelt hatte. Er musste sich wohl bald einmal daransetzen. Seine Sekretärin würde irgendwann im Laufe des Nachmittags hereinkommen. Er ging zurück in die Küche, goss Kaffee in eine Tasse und nahm sie mit zum Tisch. Er griff die zwei oder drei Briefe, die er noch nach seiner Ankunft am späten Abend geöffnet hatte. Einen nahm er zur Hand und lächelte ein wenig, als er ihn las. «Elf Uhr dreißig, eine passende Zeit. Aber ich glaube, ich überdenke die Sache besser noch einmal und bereite mich auf Chetwynd vor.» Jemand schob etwas in den Briefkasten. Er ging in die Halle und holte die Morgenzeitung. Es gab wenig Neues in der Zeitung. Eine politische Krise, eine Nachrichtengeschichte aus Übersee, die beunruhigend sein könnte, aber das glaubte er nicht. Es war wohl nur ein Journalist, der Dampf ablassen wollte und versuchte, die Dinge wichtiger erscheinen zu lassen, als sie waren. Man muss den Leuten Lesestoff bieten. Ein Mädchen war im Park erwürgt worden. Es wurden immerzu Mädchen erwürgt. Eines pro Tag, dachte er gefühllos. Kein Kind war entführt oder vergewaltigt worden an diesem Morgen. Das war eine angenehme Überraschung. Er machte sich einen Toast und trank seinen Kaffee. Später verließ er das Gebäude, ging auf die Straße und durch den Park in Richtung Whitehall. Er lächelte in sich hinein. Das Leben, fand er, war an diesem Morgen ziemlich angenehm. Er begann an Chetwynd zu denken. Wenn es einen albernen Narren gab, dann war das Chetwynd. Tolle Fassade, scheinbar wichtig, und ein wunderbar misstrauischer Verstand. Er würde es genießen, sich mit Chetwynd zu unterhalten. Er erreichte Whitehall mit einer passablen Verspätung von sieben Minuten. Das musste sein, da er bedeutender war als Chetwynd, dachte er. Er betrat den Raum, Chetwynd saß hinter seinem Schreibtisch, auf dem eine Menge Papiere lagen. Eine Sekretärin saß davor. Er sah entsprechend wichtig aus, wie immer, wenn er etwas erreicht hatte. «Hallo, Nye», sagte Chetwynd und strahlte über sein ganzes eindrucksvoll gut aussehendes Gesicht. «Bist du froh, wieder hier zu sein? Wie war es in Malaysia?» «Heiß», antwortete Stafford Nye. «Ja, nun, ich denke, es ist immer heiß dort. Ich nehme an, du meinst das Wetter und nicht die Politik, oder?» «Oh, nur das Wetter», erwiderte Stafford Nye. Er nahm dankend eine Zigarette und setzte sich. «Gab es irgendwelche relevanten Ergebnisse?» «Oh, wohl kaum. Nichts was man Ergebnisse nennen könnte. Ich habe meinen Bericht eingereicht. Alles viel Gewäsch wie üblich. Wie geht’s Lazenby?» «Ach, er ist eine Landplage, wie immer. Er ändert sich nie», sagte Chetwynd. «Nein, das wäre wohl zu viel der Hoffnung. Ich habe bisher noch nie mit Bascombe gearbeitet. Er kann ganz lustig sein, wenn er will.» «Wirklich? Ich kenne ihn nicht besonders gut. Ja, ich nehme an, er kann lustig sein.» « Sonst gibt es nichts Neues, oder?» «Nein, nichts was dich interessieren könnte.» «Du hast in deinem Brief nicht genau erwähnt, warum du mich sehen wolltest.» «Ach, ich will nur ein paar Sachen mit dir durchgehen, das ist alles. Weißt du, falls du irgendwas Besonderes mitgebracht haben solltest. Etwas, worauf wir vorbereitet sein sollten, weißt du. Fragen im Unterhaus oder irgend so was.» «Ja, natürlich.» «Du bist zurückgeflogen, nicht? Hattest ein paar Probleme, wie ich höre.» Stafford Nye setzte genau das Gesicht auf, das er sich vorgenommen hatte aufzusetzen. Es war ein bisschen schuldbewusst, mit einem schwachen Anflug von Ärger. «Oh, du hast also davon gehört», sagte er. «Eine alberne Geschichte.» «Ja. Das war es wohl.» «Erstaunlich», sagte Stafford Nye, «wie die Dinge immer an die Presse geraten. Es gab eine Notiz in den ‹Letzten Meldungen› heute Morgen.» «Das hat dir wohl nicht sonderlich gefallen, oder?» «Na, das stellt mich doch wohl als ziemlichen Esel hin, oder? Das muss ich ja zugeben. Und das in meinem Alter.» «Was genau ist denn passiert? Ich habe mich gefragt, ob der Zeitungsbericht vielleicht übertrieben hat.» «Na ja, sie haben wohl herausgeholt, so viel sie konnten, das ist alles. Du weißt, wie diese Reisen sind. Sterbenslangweilig. In Genf war Nebel, also mussten sie die Maschine umleiten. Dann hatten wir zwei Stunden Aufenthalt in Frankfurt.» «Und da ist es passiert?» «Ja. Man langweilt sich ja zu Tode auf diesen Flughäfen. Flugzeuge kommen, Flugzeuge gehen. Der Lautsprecher immer auf vollen Touren. Flug 302 nach Hongkong, Flug 109 nach Irland. Und so weiter. Leute erheben sich von ihren Plätzen und gehen fort. Und du sitzt nur da und gähnst.» «Was genau ist denn passiert?», fragte Chetwynd. «Nun, ich hatte einen Drink vor mir stehen, ein Pils, um genau zu sein, und dann wollte ich mir neuen Lesestoff besorgen. Ich hatte alles, was ich dabeihatte, schon gelesen. Also ging ich zum Tresen und kaufte irgendein albernes Taschenbuch. Ich glaube, es war ein Krimi. Und ich kaufte ein Kuscheltier für eine meiner Nichten. Dann ging ich zurück, leerte meinen Drink, schlug das Buch auf und schlief ein.» «Ich verstehe. Du bist also einfach eingeschlafen.» «Das ist nicht ungewöhnlich, oder? Ich glaube, mein Flug wurde aufgerufen, aber wenn, dann habe ich es nicht gehört. Offensichtlich habe ich es aus gutem Grund nicht gehört. Normalerweise kann ich jederzeit auf einem Flughafen einschlafen und trotzdem einen Aufruf, der mich betrifft, hören. Doch diesmal war es anders. Als ich aufwachte beziehungsweise wieder zu mir kam, wie immer du es auch nennen magst, hatte man mir schon einige medizinische Aufmerksamkeit gewidmet. Offenbar hatte mir jemand K.-o.-Tropfen oder irgend so was in den Drink getan. Das muss geschehen sein, als ich weg war, um das Buch zu kaufen.» «Schon etwas außergewöhnlich, oder?», sagte Chetwynd. «Jedenfalls ist mir so etwas noch nie passiert», antwortete Stafford Nye, «und ich hoffe, es wird auch nie wieder geschehen. Man fühlt sich als völliger Idiot. Und hat obendrein einen Kater. Irgendwann kamen dann ein Arzt und eine Krankenschwester. Zumindest ist kein großer Schaden entstanden. Meine Brieftasche mit etwas Geld wurde gestohlen und mein Pass. Das war natürlich unangenehm. Glücklicherweise hatte ich nicht viel Geld dabei. Meine Reiseschecks waren in einer Innentasche. Es gibt natürlich immer bürokratische Probleme, wenn man seinen Pass verliert. Ich hatte zum Glück Briefe und andere Dinge dabei, also war es nicht schwierig, meine Identität zu beweisen. Irgendwann war alles geklärt und ich konnte meinen Flug fortsetzen.» «Trotzdem sehr ärgerlich für dich», sagte Chetwynd. «Für jemanden in deiner Position, meine ich.» Sein Ton war tadelnd. «Ja», sagte Stafford Nye, «es stellt mich nicht in einem besonders gute Licht dar, oder? Ich meine, nicht so clever, wie man es von einem Mann meines äh – Standes – erwarten sollte.» Diese Vorstellung schien ihn zu belustigen. «Kommt so was oft vor? Hast du darüber etwas herausgefunden?» «Ich glaube nicht, dass das häufig vorkommt. Vielleicht aber doch. Ich glaube, jeder mit einem Hang zum Taschendiebstahl könnte einen schlafenden Mann entdecken und seine Finger in dessen Tasche stecken. Und wenn er ganz gut ist in seinem Gewerbe ist, könnte er dabei eine Brieftasche, Geldbörse oder Ähnliches erwischen und auf etwas Glück hoffen.» «Ziemlich unangenehm, seinen Pass zu verlieren.» «Ja, ich muss jetzt einen neuen beantragen. Muss wohl eine Menge Erklärungen abgeben. Wie gesagt, die ganze Sache ist verdammt albern. Und, ehrlich gesagt, Chetwynd, es zeigt mich nicht gerade von meiner besten Seite, oder?» «Das ist nicht deine Schuld, Junge. Das könnte doch jedem passieren.» «Nett von dir, das zu sagen», erwiderte Stafford Nye und lächelte ihn freundlich an. «Es wird mir eine Lehre sein, nicht wahr?» «Du glaubst doch nicht, dass irgendjemand unbedingt deinen Pass haben wollte?» «Ich glaube nicht», antwortete Stafford Nye, «warum sollte jemand meinen Pass wollen? Es sei denn, es war jemand, der mich ärgern wollte, und das ist kaum anzunehmen. Oder jemand, dem mein Passfoto gefallen hat – und das ist noch unwahrscheinlicher!» «Hast du irgendjemand gesehen, den du kennst, in – wo warst du noch mal? – Frankfurt?» «Nein, niemanden.» «Hast du mit irgendjemand gesprochen?» «Nichts Besonderes. Ich sagte irgendwas zu einer netten dicken Dame mit einem kleinen Kind, um es bei Laune zu halten. Kam aus Wigan, glaube ich, und wollte nach Australien. Ich kann mich an niemanden sonst erinnern.» «Bist du sicher?» «Da war irgend so eine Frau, die wissen wollte, was sie tun müsse, wenn sie in Ägypten Archäologie studieren wolle. Ich sagte ihr, ich wisse gar nichts darüber und sie solle am besten beim Britischen Museum anfragen. Und ich wechselte ein paar Worte mit einem Mann, der, glaube ich, gegen Vivisektion war. Er war ziemlich leidenschaftlich dagegen.» «Ich habe immer das Gefühl», sagte Chetwynd, «dass mehr hinter solchen Dingen steckt.» «Was für Dinge?» «Na, solche, wie sie dir passiert sind.» «Ich kann mir nicht vorstellen, was dahinterstecken sollte», sagte Stafford Nye. «Ich kann mir nur vorstellen, dass irgendwelche Journalisten daraus eine Story machen könnten. Die sind so gerissen in solchen Dingen. Trotzdem, es ist eine blöde Geschichte. Lass sie uns einfach vergessen. Ich nehme an, alle meine Freunde werden mich ausfragen, jetzt, da es in der Presse erschienen ist. – Wie geht’s denn dem alten Leyland? Was treibt er so? Ich habe ein paar Geschichten über ihn gehört dort draußen. Leyland redet immer ein bisschen zu viel.» Die beiden Männer unterhielten sich noch freundschaftlich für etwa zehn Minuten, dann stand Sir Stafford auf und ging. «Ich habe heute Morgen noch eine Menge zu tun», sagte er. «Geschenke kaufen für meine Verwandtschaft. Das Problem ist, wenn man nach Malaysia fährt, erwartet die ganze Verwandtschaft exotische Geschenke. Ich glaube, ich gehe mal zu Liberty. Dort haben sie eine ganz gute Auswahl an fernöstlicher Ware.» Er zog fröhlich von dannen und nickte draußen auf dem Korridor einigen Männern zu, die er kannte. Nachdem er gegangen war, wies Chetwynd per Telefon seine Sekretärin an: «Fragen Sie Colonel Munro, ob er zu mir kommen kann.» Colonel Munro trat ein, mit einem weiteren groß gewachsenen Mann mittleren Alters. «Ich weiß nicht, ob Sie Horsham kennen», sagte er. «Aus der Sicherheitsabteilung.» «Ich glaube, ich habe Sie bereits kennengelernt», antwortete Chetwynd. «Nye ist gerade gegangen, oder?», fragte Colonel Munro. «Ist was dran an der Geschichte über Frankfurt? Irgendwas, meine ich, dem wir unsere Aufmerksamkeit schenken sollten?» «Scheint nicht so», erwiderte Chetwynd, «er war ein bisschen verlegen deswegen. Er denkt, es lasse ihn als ziemlichen Esel erscheinen. Tut es natürlich auch.» Horsham nickte. «Er empfindet das so, ja?» Chetwynd zog die Schultern hoch. «Solche Dinge passieren eben», sagte er. «Ich weiß», antwortete Colonel Munro, «ja, ja, ich weiß. Trotzdem, irgendwie habe ich bei Nye immer das Gefühl, er sei ein wenig unberechenbar. Dass er in mancher Hinsicht, nun, nicht sehr gefestigt ist in seinen Ansichten.» Horshman erwiderte: «Es spricht nichts gegen ihn, rein gar nichts, soweit uns bekannt ist.» «Oh, ich meine nicht, dass da irgendetwas nicht stimmt», sagte Chetwynd. «Es ist nur – wie soll ich sagen –, er nimmt die Dinge nicht so richtig ernst.» Mr. Horsham trug einen Schnurrbart. Er fand es praktisch, einen Schnurrbart zu tragen. So sah niemand, wenn er ein Lächeln kaum unterdrücken konnte. «Er ist kein dummer Kerl», sagte Munro. «Sie glauben doch nicht, dass – nun, ich meine, dass es hier irgendetwas Zweifelhaftes geben könnte.» «Seinerseits? Das scheint nicht so.» «Sind Sie alles durchgegangen, Horsham?» «Nun ja, wir haben nicht viel Zeit gehabt. So weit ist alles in Ordnung. Aber jemand hat seinen Pass benutzt.» «Benutzt? Wie denn?» «Er ist in Heathrow durchgelaufen.» «Wollen Sie damit sagen, dass sich jemand als Sir Stafford Nye ausgegeben hat?» «Nein, nein», sagte Horsham, «nicht direkt. Darauf hätten wir nicht hoffen können. Der Pass ging zusammen mit anderen Pässen durch. Niemand hatte Alarm gegeben. Ich glaube, zu diesem Zeitpunkt war er noch nicht einmal aus seiner Betäubung durch das Rauschmittel oder was auch immer sie ihm verabreicht haben aufgewacht. Er war noch in Frankfurt.» «Aber jemand könnte den Pass gestohlen haben und in die Maschine gestiegen und so nach London gelangt sein?» «Ja», sagte Munro, «das nimmt man an. Entweder jemand nahm die Brieftasche mit dem Geld und der Pass war darin, oder jemand brauchte dringend einen Pass und entschied sich für Sir Stafford Nye als passenden Kandidaten für den Diebstahl. Ein Drink steht auf dem Tisch, man gibt eine Prise hinein, wartet, bis der Mann einschläft, nimmt den Pass und geht das Risiko ein.» «Aber ein Pass wird doch immerhin überprüft. Es müsste doch aufgefallen sein, dass es nicht der richtige Mann war», sagte Chetwynd. «Nun, es muss wohl eine gewisse Ähnlichkeit bestanden haben», sagte Horsham. «Aber es existierte ja auch keine Mitteilung über den Verlust. Es war also keine besondere Aufmerksamkeit auf diesen bestimmten Pass gelenkt worden. Eine große Menschenmenge wird durchgeschleust, auf einen Flieger mit Verspätung. Der Mann sieht dem Foto in seinem Pass einigermaßen ähnlich. Das ist alles. Ein kurzer Blick, der Pass wird zurückgegeben, weiter geht’s. Gewöhnlich interessieren sie sich nur für die ankommenden Ausländer, nicht für die britische Bagage. Dunkles Haar, dunkelblaue Augen, glatt rasiert, 1,80 oder was immer es sein mag. Das ist alles, was man sehen will. Er steht nicht auf einer Liste für unerwünschte Ausländer oder so.» «Ich weiß, ich weiß. Doch Sie sagen, wenn jemand nur eine Brieftasche stehlen wollte oder Geld oder dergleichen, hätte er den Pass bestimmt nicht verwendet, oder? Das ist doch viel zu riskant.» «Ja», sagte Horsham, «das ist das Interessante daran. Natürlich», fuhr er fort, «stellen wir Nachforschungen an, stellen hier und da ein paar Fragen.» «Und was ist Ihre eigene Meinung?» «Das möchte ich jetzt noch nicht sagen, ich brauche noch ein bisschen Zeit, wissen Sie. Man soll nichts übereilen.» «Sie sind alle gleich», sagte Colonel Munro, als Horsham den Raum verlassen hatte. «Sie sagen einem nie was, diese verdammten Sicherheitsleute. Sie würden das niemals zugeben, wenn Sie glauben, eine Spur zu haben.» «Nun, das ist nur natürlich», erwiderte Chetwynd. «Sie könnten ja auch falschliegen.» Kapitel 3 Der Mann von der Reinigung Sir Stafford Nye kehrte in seine Wohnung zurück. Eine große Frau stürmte aus der kleinen Küche und begrüßte ihn lautstark. «Sie sind also wieder gut angekommen, Sir. Diese grässlichen Flugzeuge. Man weiß ja nie, was passiert, oder?» «Sehr wahr, Mrs. Worrit», erwiderte Sir Stafford Nye. «Der Flieger hatte zwei Stunden Verspätung». «Genau wie mit den Autos, nicht wahr?», sagte Mrs. Worrit. «Ich meine, man weiß nie, was schiefgehen kann mit ihnen, nicht wahr? Es ist nur schlimmer in der Luft, nicht wahr? Man kann nicht einfach am Bordstein halten oder so. Ich meine, so ist es doch. Ich für meinen Teil würde nie in ein Flugzeug steigen.» Sie fuhr fort: «Ich habe ein paar Sachen bestellt, ich hoffe, das ist in Ordnung. Eier, Butter, Kaffee, Tee –» Sie ratterte die Liste mit der Beredsamkeit eines Fremdenführers aus dem Nahen Osten herunter, der die Touristen durch einen Pharaonenpalast führt. «So», sagte Mrs. Worrit und hielt inne, um Atem zu schöpfen, «ich glaube, das ist alles, was Sie benötigen könnten. Ich habe auch den französischen Senf bestellt.» «Nicht Dijon-Senf, oder? Sie versuchen immer, Ihnen Dijon-Senf anzudrehen.» «Ich weiß nicht, wer das war, aber es ist ‹Ester Tragon›, den mögen Sie doch, oder?» «Ganz recht», erwiderte Sir Stafford, «Sie sind ein echtes Weltwunder.» Mrs. Worrit schien geschmeichelt zu sein. Sie ging wieder in Richtung Küche, als Sir Stafford die Hand auf die Klinke seiner Schlafzimmertür legte, in der Absicht hineinzugehen. «Ist doch in Ordnung, Sir, dass ich Ihre Sachen dem Herrn mitgegeben habe, der vorbeikam, um sie abzuholen? Sie hatten nichts gesagt und auch nichts hinterlassen deswegen.» «Was für Sachen?», fragte Sir Stafford Nye und blieb stehen. «Zwei Anzüge, so, wie der Herr, der sie abholen kam, gesagt hat. Von Twiss and Bonywork. Ich glaube, es waren dieselben, die schon mal da waren. Wir hatten ein wenig Ärger mit der Schwan-Wäscherei, wenn ich mich recht erinnere.» «Zwei Anzüge? Was für Anzüge?», fragte Sir Stafford Nye. «Na, einmal der, in dem Sie zurückgekommen sind. Ich glaube zumindest, das war einer von den beiden. Bei dem anderen war ich mir nicht so sicher. Aber das war der blaue Nadelstreifenanzug, für den Sie bei der Abreise keine Anweisungen hinterlassen hatten. Der konnte die Reinigung auch vertragen, außerdem musste am rechten Ärmelaufschlag etwas geflickt werden. Aber das wollte ich nicht alleine veranlassen, als Sie nicht da waren. Das mache ich nicht so gern», sagte Mrs. Worrit mit augenfälliger Rechtschaffenheit. «Also, der Bursche, wer immer es war, hat diese Anzüge mitgenommen?» «Ich hoffe, ich habe nichts Falsches gemacht?» Mrs. Worrit war besorgt. «Der blaue Nadelstreifenanzug ist mir egal. Das ist wohl am besten so. Der Anzug, den ich auf der Heimreise anhatte, nun…» «Er ist ein bisschen dünn für die Jahreszeit, dieser Anzug, wissen Sie, Sir. Eher passend für die Gegenden, wo Sie waren. Dort, wo es heiß ist. Und er konnte eine Reinigung gebrauchen. Er sagte, Sie hätten wegen der Anzüge angerufen. Das sagte der Herr, der sie abholen kam.» «Ging er in mein Zimmer, um sie selbst rauszuholen?» «Ja, Sir. Ich dachte, das wäre am besten so.» «Sehr interessant», sagte Sir Stafford, «ja, sehr interessant.» Er ging in sein Schlafzimmer und sah sich um. Alles war sauber und ordentlich. Das Bett war gemacht. Die ordnende Hand von Mrs. Worrit war deutlich zu erkennen. Sein Elektrorasierer hing am Aufladegerät, die Gegenstände auf dem Frisiertisch waren ordentlich aufgestellt. Er ging zum Kleiderschrank und sah hinein. Er schaute in die Schubladen der Kommode, die beim Fenster an der Wand stand. Alles war wohlgeordnet. Eigentlich war es viel ordentlicher, als es sein sollte. Er hatte am Vorabend ein wenig ausgepackt, und das Wenige nur oberflächlich sortiert. Unterwäsche und einigen Krimskrams hatte er in die jeweiligen Schubladen geworfen, hatte sie aber nicht sorgsam eingeordnet. Er hätte das selbst entweder heute oder morgen getan. Das erwartete er nicht von Mrs. Worrit. Er erwartete von ihr nur, dass sie die Dinge so ließ, wie sie sie vorfand. Nach seiner Reise hatte er genug Zeit, alles neu zu ordnen und zu sortieren, je nach Wetter- oder sonstiger Lage. Also hatte sich jemand hier umgesehen, hatte Schubladen herausgezogen und sie schnell durchsucht. Und dann die Sachen wieder zurückgetan, teilweise versehentlich ordentlicher, als es vorher war. Ein schneller, sorgfältiger Job. Und dann war er mit zwei Anzügen und einer plausiblen Erklärung verschwunden. Ein Anzug, offensichtlich von Sir Stafford auf Reisen getragen, und ein Anzug aus leichtem Material, vielleicht nach Übersee mitgenommen und wieder zurückgebracht. Aber warum? «Weil», sagte sich Sir Stafford nachdenklich, «weil jemand etwas gesucht hat. Aber was? Und wer? Und schließlich auch: Warum?» Ja, das war interessant. Er setzte sich auf einen Stuhl und dachte nach. Sein Blick wanderte zu dem Tisch am Bett, auf dem, ziemlich keck, der kleine Stoffpanda saß. Der löste einen bestimmten Gedankengang bei ihm aus. Er ging zum Telefon und wählte eine Nummer. «Bist du das, Tante Matilda?», fragte er. «Hier ist Stafford.» «Ach, mein lieber Junge, du bist also zurück. Ich bin ja so froh. Ich habe gestern in der Zeitung gelesen, dass sie die Cholera in Malaysia haben, zumindest glaube ich, es war Malaysia. Ich bringe all diese Orte immer durcheinander. Ich hoffe, du kommst mich bald besuchen? Tu nicht so, als wärest du zu beschäftigt. Du kannst nicht die ganze Zeit beschäftigt sein. Das akzeptiert man wirklich nur bei Wirtschaftsmagnaten, Leuten in der Industrie, weißt du. Immer beschäftigt mit Fusionen und Übernahmen. Ich weiß nie wirklich, was das alles zu bedeuten hat. Früher hieß das, man erledigte seine Arbeit mit Anstand, aber heute bedeutet es, alles ist mit Atombomben und Fabriken aus Beton verwickelt», sagte Tante Matilda ziemlich willkürlich. «Und diese fürchterlichen Computer, die alle deine Zahlen durcheinanderbringen, ganz geschweige davon, dass sie sie auch noch in falscher Form schreiben. Wirklich, sie haben unser Leben heutzutage sehr schwierig gemacht. Du würdest niemals glauben, was sie mit meinem Bankkonto angestellt haben. Und mit meiner Postanschrift. Na, ich glaube, ich lebe einfach schon zu lange.» «Glaub das ja nicht! Ist es in Ordnung, wenn ich nächste Woche komme?» «Komm doch gleich morgen, wenn du möchtest. Ich habe den Vikar zum Dinner, aber ich kann ihn leicht wieder ausladen.» «Aber nicht doch, dazu besteht keine Notwendigkeit.» «Doch, jede Notwendigkeit. Er ist ein höchst aufdringlicher Mensch, und er will auch noch eine neue Orgel. Die alte ist aber noch ganz passabel, so wie sie ist. Ich meine, das eigentliche Problem ist der Organist, nicht die Orgel. Ein abgrundtief schlechter Musiker. Dem Vikar tut er leid, weil er seine Mutter verloren hat, der er sehr zugetan war. Also wirklich, wenn man seine Mutter liebt, so heißt das nicht unbedingt, dass man auch gut Orgel spielen muss, oder? Man muss die Dinge doch so sehen, wie sie sind.» «Ganz recht. Aber es muss nächste Woche sein – ich habe ein paar Sachen zu erledigen. Wie geht’s Sybil?» «Das liebe Kind! Sehr ungezogen, aber eine wahre Freude.» «Ich habe ihr einen Kuschelpanda mitgebracht», sagte Sir Stafford. «Nun, das ist aber nett von dir, mein Lieber.» «Ich hoffe, er gefällt ihr», erwiderte Sir Stafford, schaute dem Panda in die Augen und war plötzlich leicht nervös. «Na ja, zumindest hat sie sehr gute Manieren», sagte Tante Matilda. Eine etwas dubiose Antwort, deren Bedeutung Sir Stafford nicht ganz einzuschätzen wusste. Tante Matilda schlug ihm für die nächste Woche ein paar passende Züge vor, mit der Warnung, dass sie sehr oft überhaupt nicht oder nach geändertem Fahrplan fuhren, und wies ihn auch an, ihr einen Camembert und einen halben Stilton mitzubringen. «Es ist unmöglich, hier etwas zu bekommen. Unser Lebensmittelladen – so ein netter Inhaber, so hilfsbereit und genau mit dem guten Geschmack für das, was wir alle gern hatten – hat sich plötzlich in einen Supermarkt verwandelt, sechsmal so groß, alles neu gebaut, Körbe und Drahtkörbe zum Herumtragen und Füllen mit Sachen, die man gar nicht möchte, und Mütter die dauernd ihre Kinder verlieren, heulen und hysterisch werden. Sehr anstrengend. Nun, lieber Junge, ich erwarte dich.» Sie hängte auf. Das Telefon läutetet sofort wieder. «Hallo, Stafford, hier ist Eric Pugh. Ich hörte du bist zurück aus Malaysia – wie wär’s mit einem Dinner heute Abend?» «Das würde mir sehr gefallen.» «Gut – im Limpits Club – Viertel nach acht?» Mrs. Worrit keuchte ins Zimmer, gerade als Sir Stafford den Hörer auflegte. «Ein Gentleman ist unten und möchte Sie sehen, Sir», sagte sie. «Zumindest glaube ich, er ist einer. Jedenfalls hat er gesagt, es würde Ihnen nichts ausmachen.» «Wie heißt er denn?» «Horsham, Sir, wie der Ort auf dem Weg nach Brighton.» «Horsham.» Sir Stafford Nye war ein wenig überrascht. Er verließ das Schlafzimmer und ging eine halbe Treppe hinunter, die in das große Wohnzimmer im unteren Stock führte. Mrs. Worrit hatte sich nicht geirrt. Es war wirklich Horsham. Er sah genauso aus wie eine halbe Stunde zuvor: robust, vertrauenswürdig, gespaltenes Kinn, buschiger grauer Schnurrbart, Unerschütterlichkeit vermittelnd. «Ich hoffe, es stört sie nicht», sagte er freundlich und erhob sich. «Was soll mich nicht stören?», fragte Sir Stafford Nye. «Mich so bald wiederzusehen. Wir haben uns im Flur vor Mr. Gordon Chetwynds Tür getroffen – Sie erinnern sich?» «Kein Problem, wirklich», sagte Sir Stafford Nye. Er schob eine Zigarettendose über den Tisch. «Nehmen Sie Platz. Haben Sie etwas vergessen, ist etwas ungesagt geblieben?» «Sehr netter Mann, Mr. Chetwynd», sagte Horsham. «Ich glaube, wir haben ihn beruhigen können. Ihn und Colonel Munro, sie sind ein bisschen verstört wegen der ganze Geschichte, wissen Sie. Über Sie, meine ich.» «Wirklich?» Sir Stafford Nye setze sich ebenfalls. Er lächelte, rauchte und blickte nachdenklich auf Henry Horsham. «Und wie geht es jetzt weiter?» «Ich habe gerade überlegt, ob ich Sie fragen könnte – ohne allzu neugierig zu erscheinen –, wohin Sie als Nächstes gehen?» «Das sage ich Ihnen sehr gern», erwiderte Sir Stafford Nye. «Ich werde zu einer meiner Tanten fahren, Lady Matilda Cleckheaton. Ich gebe Ihnen gerne die Adresse, wenn Sie möchten.» «Ich kenne sie bereits», sagte Henry Horsham. «Nun, ich denke, das ist eine sehr gute Idee. Sie wird sich sehr freuen zu sehen, dass Sie wirklich sicher nach Hause gekommen sind. Es hätte auch brenzlig werden können, nicht wahr?» «Denken das Colonel Munro und Mr. Chetwynd?» «Nun, Sie wissen ja, wie es ist, Sir», antwortete Horsham. «Sie wissen es allzu gut. Sie sind immer in Aufregung, die Herren in dieser Abteilung. Sie sind sich nicht sicher, ob sie Ihnen trauen sollen oder nicht.» «Mir trauen?», fragte Sir Stafford Nye mit beleidigter Stimme. «Was meinen Sie damit, Mr. Horsham?» Mr. Horsham war nicht verblüfft. Er grinste nur. «Sehen Sie», sagte er. «Sie haben den Ruf, die Dinge nicht allzu ernst zu nehmen.» «Ach, ich dachte, ich sei ein Sympathisant oder ein Überläufer zur anderen Seite. So was in der Art.» «Ach nein, Sir, sie glauben nur, Sie seien nicht seriös. Sie denken, Sie machen hin und wieder gern einen kleinen Scherz.» «Man kann nicht einfach so durchs Leben gehen und dabei sich und andere immer ernst nehmen», sagte Sir Stafford Nye missbilligend. «Nein. Aber, wie ich schon sagte, Sie sind ein ziemliches Risiko eingegangen, nicht wahr?» «Ich frage mich gerade, ob ich auch nur im Mindesten verstehe, wovon Sie überhaupt reden.» «Ich werde es Ihnen sagen. Die Dinge laufen manchmal schief, Sir, und sie gehen nicht immer daneben, weil gewisse Leute das veranlasst haben. Das, was man den Allmächtigen nennen könnte, hat seine Hand im Spiel oder der andere Herr – ich meine den mit dem Schwanz.» Sir Stafford Nye war leicht abgelenkt. «Meinen Sie den Nebel in Genf?», fragte er. «Genau, Sir. Es gab Nebel in Genf und das hat die Pläne einiger Menschen durcheinandergebracht. Jemand steckte schlimm in der Klemme.» «Erzählen Sie mir alles», erwiderte Sir Stafford Nye. «Ich möchte es wirklich gerne wissen.» «Nun, ein Passagier fehlte, als Ihr Flugzeug gestern Frankfurt verlassen hat. Sie hatten Ihr Bier getrunken und schnarchten angenehm und komfortabel in einer Ecke vor sich hin. Und eine Passagierin erschien nicht, sie riefen sie wieder und wieder auf. Am Ende flog die Maschine vermutlich ohne sie ab.» «Aha. Und was ist mit ihr geschehen?» «Es wäre interessant, das zu wissen. Jedenfalls ist Ihr Pass in Heathrow angekommen, auch wenn Sie nicht ankamen.» «Und wo ist er jetzt? Soll ich ihn etwa haben?» «Nein. Ich glaube nicht. Das wäre wirklich zu schnelle Arbeit gewesen. Sehr zuverlässiger Stoff, dieses Rauschmittel. Gerade richtig, wenn ich so sagen darf. Es hat sie betäubt, ohne allzu schädliche Nebenwirkungen zu hinterlassen.» «Es hat mir einen sehr unangenehmen Kater beschert», sagte Sir Stafford. «Ach, das lässt sich nicht vermeiden. Nicht unter diesen Umständen.» «Was wäre denn geschehen», fragte Sir Stafford, «da Sie doch alles zu wissen scheinen, wenn ich den Vorschlag abgelehnt hätte, der mir möglicherweise – und ich will nur sagen möglicherweise – unterbreitet wurde?» «Es ist gut möglich, dass es für Mary Ann der letzte Vorhang gewesen wäre.» «Mary Ann, wer ist Mary Ann?» «Miss Daphne Theodofanous.» «Das ist der Name, den ich möglicherweise gehört habe – der des aufgerufenen Passagiers?» «Ja, sie reiste unter diesem Namen. Wir nennen sie Mary Ann.» «Wer ist sie? – Nur interessehalber?» «In ihrer Sparte ist sie mehr oder weniger die Beste.» «Und was ist ihre Sparte? Gehört sie zu uns oder zu denen, wenn Sie wissen, wer ‹die› sind? Ich muss gestehen, ich habe selbst ein wenig Schwierigkeiten, mich für das eine oder andere zu entscheiden.» «Ja, das ist nicht so einfach, nicht wahr? Mit den Chinesen und den Russkis und der ziemlich schrägen Bande, die hinter all den Studentenunruhen steckt, und der Neuen Mafia und der seltsamen Bagage in Südamerika. Und die nette kleine Gruppe von Finanziers, die irgendetwas Schräges in petto hat. Ja, es ist schwer zu sagen.» «Mary Ann», sagte Sir Stafford Nye nachdenklich. «Ein eigenartiger Name für jemanden, der mit richtigem Namen Daphne Theodofanous heißt.» «Nun, ihre Mutter ist Griechin, ihr Vater war Engländer, und ihr Großvater war österreichischer Staatsbürger.» «Was wäre geschehen, wenn ich ihr ein gewisses Kleidungsstück nicht – geliehen hätte?» «Sie wäre vielleicht getötet worden.» «Aber, aber. Wirklich?» «Wir haben Probleme mit dem Flughafen Heathrow. Neulich sind dort seltsame Dinge passiert. Dinge, die einer gewissen Erklärung bedürfen. Wäre das Flugzeug wie geplant über Genf geflogen, wäre alles gut gegangen. Sie hätte vollen Schutz gehabt, alles war arrangiert. Aber diese andere Route – es wäre keine Zeit gewesen, etwas zu arrangieren, und man weiß ja nicht immer, wer wer ist, heutzutage. Jeder spielt ein doppeltes Spiel oder ein drei- oder vierfaches.» «Sie machen mir Angst», sagte Sir Stafford Nye. «Aber es geht ihr doch gut, oder? Ist es das, was Sie mir sagen wollen?» «Ich hoffe, es geht ihr gut. Wir haben nichts Gegenteiliges gehört.» «Wenn es Ihnen irgendwie hilft», sagte Sir Stafford Nye. «Jemand ist heute Morgen hierhergekommen, als ich ausgegangen war, um mit meinen kleinen Freunden in Whitehall zu sprechen. Er gab vor, ich hätte eine Reinigungsfirma angerufen, und nahm den Anzug mit, den ich gestern getragen habe, und noch einen anderen Anzug. Es mag sein, dass ihm der andere Anzug einfach gefiel, oder er hatte die Angewohnheit, die Anzüge von Herren, die gerade aus Übersee zurückgekommen sind, einzusammeln. Oder – vielleicht haben Sie ein weiteres ‹oder› beizusteuern?» «Er könnte etwas gesucht haben.» «Ja, das denke ich auch. Jemand hat etwas gesucht. Und dann alles nett und ordentlich arrangiert. Allerdings nicht so, wie ich es hinterlassen hatte. Nun gut, er hat etwas gesucht. Aber was hat er gesucht?» «Ich bin mir nicht sicher», sagte Horsham langsam. «Ich wollte, ich wäre es. Irgendetwas ist im Gange – irgendwo. Kleine Fetzen gucken heraus, wie bei einem schlecht gepackten Paket, wissen Sie. Man bekommt hier und da einen kleinen Einblick. Einmal denkt man, es trägt sich bei den Bayreuther Festspielen zu, im nächsten Augenblick glaubt man, es zeigt sich auf einer Estanzia in Südamerika, dann bekommt man einen kleinen Hinweis in den USA. Sehr schlimme Dinge geschehen an allen möglichen Orten und arbeiten auf irgendetwas hin. Vielleicht etwas Politisches, vielleicht auch etwas ganz anderes als Politik. Wahrscheinlich geht es um Geld.» Er fügte hinzu: «Sie kennen doch Mr. Robinson, nicht wahr? Oder besser, Mr. Robinson kennt Sie, hat er, glaube ich, gesagt.» «Robinson?» Sie Stafford Nye überlegte. «Robinson. Netter englischer Name.» Er sah zu Horsham hinüber. «Großes gelbes Gesicht? Fett? Hat die Finger in Finanzgeschäften, so ganz allgemein?» Er fragte: «Ist er auch auf der Seite der Engel? Wollen Sie mir das vielleicht sagen?» «Ich weiß nichts von Engeln», erwiderte Henry Horsham. «Er hat uns jedenfalls hier im Lande aus mehr als einer Klemme geholfen. Leute wie Mr. Chetwynd mögen ihn nicht besonders. Sie denken, er sei zu teuer, glaube ich. Er neigt zum Geiz, Mr. Chetwynd. Und besitzt die Gabe, sich Feinde am falschen Ort zu schaffen.» «Früher bezeichnete man das als ‹arm, aber ehrlich›», sagte Sir Stafford Nye nachdenklich, «ich nehme an, Sie würden es anders ausdrücken. Sie würden unseren Mr. Robinson als teuer, aber ehrlich bezeichnen. Oder, sagen wir es so: ehrlich, aber teuer.» Er seufzte. «Ich wünschte, Sie könnten mir erklären, worum es hier eigentlich geht», sagte er anklagend. «Da bin ich anscheinend in etwas verwickelt und habe keinen Schimmer, was es ist.» Er schaute Henry Horsham hoffnungsvoll an, aber Horsham schüttelte den Kopf. «Keiner von uns weiß es. Zumindest nicht genau», sagte er. «Was könnte ich denn hier versteckt haben, dass jemand kommt, herumwühlt und es sucht?» «Offen gestanden, ich habe keine blasse Ahnung, Sir Stafford.» «Nun, das ist schade, denn ich habe auch keine.» «Soweit Sie wissen, haben Sie gar nichts. Niemand hat Ihnen etwas gegeben, zum Mitnehmen irgendwohin oder zur Aufbewahrung?» «Rein gar nichts. Wenn sie Mary Ann meinen, so sagte sie, sie müsse ihr Leben retten, sonst nichts.» «Sie haben ihr Leben gerettet, es sei denn, es stünde etwas anderes in den Abendzeitungen.» «Dieses Kapitel scheint so ziemlich abgeschlossen zu sein, nicht wahr? Schade. Ich werde immer neugieriger. Ich möchte nur allzu gerne wissen, was als Nächstes passiert. Ihr scheint alle sehr pessimistisch zu sein.» «Offen gestanden sind wir das. Die Dinge entwickeln sich nicht gerade zum Besten in diesem Land. Wundert Sie das?» «Ich weiß, was Sie meinen. Ich frage mich manchmal selbst…» Kapitel 4 Dinner mit Eric I «Darf ich dir etwas erzählen?», fragte Eric Pugh. Sir Stafford Nye sah ihn an. Er kannte Eric Pugh schon viele Jahre. Sie waren nie enge Freunde gewesen. Der gute Eric war – das fand zumindest Sir Stafford – ein ziemlich langweiliger Kerl. Allerdings war er treu. Und er war der Typ Mensch, der, auch wenn er nicht sehr amüsant war, das Talent besaß, alles in Erfahrung zu bringen. Alle möglichen Leute erzählten ihm irgendetwas, und er behielt es und speicherte es ab. Manchmal besaß er nützliche Informationen. «Du bist also wieder zurück von der Konferenz in Malaysia?» «Ja», erwiderte Sir Stafford. «Ist irgendwas Besonderes los gewesen dort?» «Nur das Übliche», antwortete Sir Stafford. «Ach. Ich frage mich, ob etwas, na, du weißt schon, was ich meine. Ob irgendwas passiert ist, was die Hühner aufgescheucht hat.» «Was, auf der Konferenz? Nein, alles war peinlich vorhersehbar. Jeder sagte genau das, was man erwartet hatte, leider nur viel ausführlicher, als man für möglich gehalten hätte. Ich weiß nicht, warum ich überhaupt an solchen Veranstaltungen teilnehme.» Eric Pugh machte ein oder zwei langweilige Bemerkungen über die wahren Absichten der Chinesen. «Ich glaube nicht, dass sie wirklich irgendetwas im Schilde führen», sagte Sir Stafford. «Immer die üblichen Gerüchte über die Krankheiten des armen alten Mao, weißt du, und wer gegen ihn intrigiert und warum.» «Und was ist mit der Arabien-Israel-Geschichte?» «Das entwickelt sich auch nach Plan. Nach ihrem Plan, heißt das. Und überhaupt, was hat das mit Malaysia zu tun?» «Nun, ich habe gerade nicht über Malaysia gesprochen.» «Jetzt siehst du aus, wie die falsche Schildkröte aus Alice im Wunderland.» «Nun, ich habe mich nur gefragt – vergib mir –, ob du nicht irgendetwas getan hast, was dir einen dunklen Fleck in deiner Akte eingetragen hat.» «Ich?», fragte Sir Stafford und sah höchst überrascht aus. «Nun, du weißt, wie du bist, Staff. Du versetzt den Leuten manchmal gern einen Schreck, nicht wahr?» «In letzter Zeit habe ich mich tadellos verhalten», erwiderte Sir Stafford. «Was hast du denn über mich gehört?» «Ich hörte, dass es auf deiner Heimreise Unannehmlichkeiten im Flugzeug gab.» «Ach. Von wem hast du denn das gehört?» «Na, du weißt doch, ich habe den alten Cartison getroffen.» «Ein schrecklicher alter Langweiler. Er stellt sich immer Dinge vor, die gar nicht existieren.» «Ja, ich weiß, dass das so ist. Aber er sagte nur, dass irgendjemand – Winterton, zumindest – zu denken schien, du führtest etwas im Schilde.» «Etwas im Schilde führen? Ich wollte, es wäre so.» «Irgendein Spionageschwindel läuft irgendwo, und er war ein wenig in Sorge wegen einiger Leute.» «Was glauben die denn, was ich bin? Ein neuer Philby oder etwas in der Art?» «Du weißt, dass du manchmal sehr unangebrachte Witze machst.» «Manchmal kann ich einfach nicht widerstehen», sagte ihm sein Freund. «All diese Politiker und Diplomaten und diese Leute. Sie sind so verdammt ernsthaft. Von Zeit zu Zeit möchte man einfach ein wenig Unruhe stiften.» «Dein Sinn für Humor ist sehr schräg, mein Junge. Wirklich. Manchmal mache ich mir Sorgen um dich. Sie wollten dir einige Fragen stellen über eine Sache, die auf dem Rückflug passiert ist, und sie scheinen anzunehmen, dass du nicht – nun –, dass du vielleicht nicht die ganze Wahrheit gesagt hast.» «Aha, das ist es also, was sie denken? Interessant. Das muss ich, glaube ich, erst mal verarbeiten.» «Nun, mach nur nichts Unüberlegtes.» «Ich brauche einfach manchmal meinen Spaß.» «Hör mal, alter Kumpel, du wirst doch nicht deine Karriere ruinieren, nur um deinem schrägen Sinn für Humor nachzugeben?» «Ich bin recht bald zu dem Schluss gekommen, dass es nichts Langweiligeres gibt als eine Karriere.» «Ich weiß, ich weiß. Du neigtest schon immer zu dieser Haltung. Und du bist auch nicht so weit aufgestiegen, wie es hätte sein sollen. Du warst einmal im Rennen für Wien. Ich sehe nicht gern, wie du dir alles verscherzt.» «Ich versichere dir, ich benehme mich mit größter Ernsthaftigkeit und Tugend», sagte Sir Stafford Nye. Er fügte hinzu: «Nimms leicht, Eric. Du bist ein guter Freund, das meine ich ernst.» Eric schüttelte zweifelnd den Kopf. Es war ein schöner Abend. Sir Stafford ging zu Fuß durch den Green Park nach Hause. Als er am Birdcage Walk die Straße überquerte, entging er nur um Haaresbreite einem die Straße herunterschießenden Wagen. Sir Stafford war ein sportlicher Mann. Mit einem Satz sprang er auf den Bürgersteig in Sicherheit. Der Wagen verschwand die Straße hinunter. Er wunderte sich. Einen Augenblick lang hätte er schwören können, dass dieser Wagen ihn absichtlich überfahren wollte. Ein interessanter Gedanke. Erst war seine Wohnung durchsucht worden, nun war womöglich er selbst das Ziel. Vielleicht ein bloßer Zufall. Und doch, im Laufe seines Lebens, das er zum Teil in den wildesten Gegenden verbracht hatte, war er der Gefahr oft begegnet. Er wusste sozusagen, wie sich die Gefahr anfühlte. Jetzt spürte er sie. Irgendwo hatte ihn jemand im Visier. Aber warum? Und aus welchem Grund? Soweit er wusste, hatte er seinen Kopf nicht zu weit aus dem Fenster gestreckt. Er schloss seine Wohnung auf und nahm die Post, die innen auf dem Boden lag. Nichts Besonderes. Ein paar Rechnungen und ein Exemplar der Zeitschrift Lifeboat. Er warf die Rechnungen auf den Schreibtisch und riss die Verpackung von Lifeboat auf. Gelegentlich spendete er dafür. Er blätterte ohne großes Interesse die Seiten durch, weil er noch ganz in Gedanken war. Dann hielt er abrupt inne. Etwas war zwischen zwei Seiten geklebt. Er betrachtete es genau. Es war sein Pass, der ihm überraschenderweise zurückgegeben wurde. Er riss ihn heraus und betrachtete ihn. Der letzte Stempel war der Ankunftsstempel von Heathrow vom Vortage. Sie hatte seinen Pass benutzt, war sicher angekommen und hatte diesen Weg gewählt, um ihn zurückzugeben. Wo war sie jetzt? Er hätte es gern gewusst. Er fragte sich, ob er sie jemals Wiedersehen würde. Wer war sie? Wo war sie hingegangen und warum? Es war wie das Warten auf den zweiten Akt eines Theaterstücks. Eigentlich dachte er, dass der erste Akt noch gar nicht zu Ende war. Was hatte er gesehen? Vielleicht ein altmodisches Eröffnungsspiel. Eine junge Frau, die albernerweise den Wunsch hatte, sich zu verkleiden und als Mann auszugeben. Die die Passkontrolle in Heathrow hinter sich gebracht hatte, ohne Verdacht zu erregen, und durch dieses Tor nach London verschwunden war. Nein, er würde sie wahrscheinlich nie Wiedersehen. Das ärgerte ihn. Aber warum, dachte er, warum möchte ich das? Sie war nicht sonderlich attraktiv, sie war nichts Besonderes. Nein, das war nicht ganz richtig. Sie war schon jemand Besonderes, sonst hätte sie ihn nie dazu verleiten können, ohne spezielle Überredungskunst, ohne sichtbare sexuelle Verführung, mit nichts außer einer einfachen Bitte um Hilfe, zu tun, was sie wollte. Die Bitte eines menschlichen Wesens an das andere, weil – so hatte sie zumindest angedeutet – sie die Menschen kannte und spürte, dass er bereit war, ein Risiko einzugehen, um einem anderen Menschen zu helfen. Und er war tatsächlich ein Risiko eingegangen, dachte Sir Stafford Nye. Sie hätte alles Mögliche in sein Bierglas tun können. Wenn sie es gewollt hätte, hätte man ihn als Leiche auf einem Sessel in der Abflughalle des Flughafens finden können. Und wenn sie sich mit Drogen auskannte – und das tat sie zweifelsohne –, hätte sein Tod als Herzattacke aufgrund der Höhe oder schwieriger Luftdruckverhältnisse gedeutet werden können – irgend so etwas. Aber warum dachte er darüber nach? Er würde sie wohl kaum Wiedersehen, und darüber war er verärgert. Ja, er war verärgert, und das gefiel ihm nicht. Er dachte noch eine Weile über die Sache nach. Dann setzte er eine Anzeige auf, die dreimal erscheinen sollte. «Passagier nach Frankfurt, 3. November. Bitte melden bei Mitreisendem nach London.» Mehr nicht. Entweder würde sie sich melden oder nicht. Wenn ihr die Anzeige jemals unter die Augen kam, würde sie wissen, wer sie aufgegeben hatte. Sie hatte seinen Pass besessen, sie kannte seinen Namen. Sie konnte ihn aufsuchen. Vielleicht würde er von ihr hören. Oder auch nicht. Wahrscheinlich eher nicht. Wenn nicht, würde es bei dem Eröffnungsspiel bleiben, ein albernes kleines Spiel, das Zuspätkommende noch ins Theater einließ und sie unterhielt, bis das Hauptgeschehen des Abends begann. Sehr nützlich in den Zeiten vor dem Krieg. Doch aller Wahrscheinlichkeit nach würde er nichts mehr von ihr hören, und einer der Gründe war womöglich, dass sie die Sache, wegen der sie nach London gekommen war, bereits erledigt hatte – was immer es auch sein mochte – und dann das Land wieder verlassen hatte und nach Genf, in den Mittleren Osten, nach Russland, China, Südamerika oder in die Vereinigten Staaten geflogen war. Und warum, dachte Sir Stafford, schließe ich Südamerika mit ein? Es muss einen Grund dafür geben. Niemand hatte je Südamerika erwähnt. Außer Horsham, das stimmte. Und selbst Horsham hatte Südamerika nur nebenbei erwähnt. Am folgenden Morgen, als er langsam nach Hause schlenderte, nachdem er die Anzeige aufgegeben hatte, nahm er mit halbem Auge die Herbstblumen im Sankt James Park wahr. Die Chrysanthemen sahen mit ihren knopfartigen Köpfen aus Gold und Bronze steif und langbeinig aus. Ihr Geruch drang schwach zu ihm durch. Es roch leicht nach Ziege und erinnerte ihn an die Berghänge in Griechenland. Er musste die Kleinanzeigen im Auge behalten. Allerdings jetzt noch nicht. Zwei oder drei Tage würden mindestens vergehen, bis seine Anzeige geschaltet war und jemand Zeit genug hatte, zu antworten. Wenn es eine Antwort geben würde, so durfte er sie nicht verpassen. Irgendwie war es irritierend, nicht zu wissen, um was es überhaupt ging. Er versuchte, sich an das Gesicht seiner Schwester Pamela zu erinnern, nicht an das Gesicht der jungen Frau vom Flughafen. Ihr Tod war lange her. Natürlich erinnerte er sich an sie, aber irgendwie konnte er sich ihr Gesicht nicht vorstellen. Es irritierte ihn, dass ihm das nicht gelang. Er war stehen geblieben, gerade als er eine der Straßen überqueren wollte. Es herrschte kein Verkehr, mit Ausnahme eines Wagens, der mit dem feierlichen Gehabe einer gelangweilten Witwe langsam dahinzockelte. Ein älterer Wagen, dachte er. Eine altmodische Daimlerlimousine. Er zuckte mit den Schultern. Warum stand er hier so dämlich herum, in Gedanken verloren? Er machte einen raschen Schritt, um die Straße zu überqueren, und plötzlich beschleunigte die Witwenlimousine – wie er sie gerade genannt hatte – überraschend. Beschleunigte mit erstaunlicher Geschwindigkeit. Sie schoss mit solcher Wucht auf ihn zu, dass er gerade noch Zeit hatte, auf den gegenüberliegenden Bürgersteig zu springen. Dann verschwand sie wie ein Blitz um die Straßenecke weiter unten. «Kann es sein», sagte Sir Stafford zu sich selbst, «dass da wirklich jemand ist, der mich nicht leiden kann? Jemand, der mich verfolgt, mich auf meinem Heimweg beobachtet und nur auf eine gute Gelegenheit wartet?» II Colonel Pikeaway war von massiger Gestalt. Er saß ausgestreckt auf seinem Stuhl in dem kleinen Raum in Bloomsbury, wo er die Zeit von zehn bis fünf, mit Ausnahme einer kurzen Mittagspause, verbrachte. Wie üblich war er von dichtem Zigarrenrauch umgeben. Seine Augen hielt er geschlossen, nur ein gelegentliches Blinzeln verriet, dass er nicht schlief. Er erhob selten den Kopf. Irgendjemand hatte gesagt, er sähe aus wie eine Kreuzung zwischen einem antiken Buddha und einem großen blauen Frosch, mit vielleicht, wie ein respektloser Jüngling hinzugefügt hatte, einem Hauch von unehelichem Nilpferd in der Ahnenreihe. Das sanfte Brummen einer Gegensprechanlage auf seinem Schreibtisch weckte ihn. Er blinzelte dreimal und öffnete die Augen. Dann streckte er seine sehr schlaff aussehende Hand aus und nahm den Hörer ab. «Was ist?», fragte er. «Der Minister ist eingetroffen und möchte Sie sehen.» «Tut er das?», fragte Colonel Pikeaway. «Und was für ein Minister ist das? Der Baptistenpfarrer von der Kirche um die Ecke?» «Oh nein, Colonel Pikeaway, es ist Sir George Packham.» «Schade», sagte Colonel Pikeaway mit asthmatischen Atemzügen. «Sehr schade. Der Reverend McGill ist viel amüsanter. Er hat so eine großartige Aura von Höllenfeuer um sich.» «Soll ich ihn hereinbringen, Colonel Pikeaway?» «Er erwartet sicher, sofort vorgelassen zu werden. Staatssekretäre sind viel empfindlicher als Außenminister», sagte Colonel Pikeawy düster. «Alle diese Minister bestehen darauf, zu kommen und sich überall mit ‹Kätzchen› zu umgeben.» Sir George Packham wurde hereingeführt. Er hustete und keuchte. Das war nicht verwunderlich, denn die Fenster des kleinen Raumes waren fest verschlossen. Colonel Pikeaway lehnte sich in seinem Stuhl zurück, über und über mit Zigarrenasche bedeckt. Die Luft war nahezu unerträglich, der Raum wurde in offiziellen Kreisen das ‹kleine Freudenhaus› genannt. «Ach, mein Lieber», sagte Sir George munter, ganz im Gegensatz zu seiner asketischen und traurigen Erscheinung. «Lange ist’s her, seit wir uns gesehen haben.» «Setzen Sie sich doch», sagte Pikeaway. «Möchten Sie eine Zigarre?» Sir George schüttelte sich leicht. «Nein, danke», sagte er. Er sah scharf zu den Fenstern hin. Colonel Pikeaway übersah den Hinweis. Sir George räusperte sich und hustete erneut, bevor er sagte: «Ähm – Ich glaube, Horsham war bei Ihnen.» «Ja, Horsham war hier und hat seine Geschichte runtergerattert», sagte Colonel Pikeaway. Er erlaubte sich, die Augen wieder zu schließen. «Ich dachte, das wäre am besten so. Ich meine, dass er Sie hier aufsucht. Es ist von höchster Wichtigkeit, dass die Dinge nicht überall verbreitet werden.» «Ach», sagte Colonel Pikeaway, «aber das werden sie, nicht wahr?» «Wie bitte?» «Sie werden es», wiederholte Colonel Pikeaway. «Ich weiß nicht, wie viel Sie – ähm – nun, über diese letzte Geschichte wissen.» «Wir wissen alles hier», erwiderte Colonel Pikeaway. «Dazu sind wir schließlich da.» «Oh – Oh ja, natürlich. Wegen Sir S. N. – Sie wissen, wen ich meine?» «Vor Kurzem ein Passagier aus Frankfurt», sagte Colonel Pikeaway. «Eine äußerst ungewöhnliche Geschichte. Man kann sich kaum vorstellen…» Colonel Pikeaway hörte höflich zu. «Was soll man nur über diese Geschichte denken?», fuhr Sir George fort. «Kennen Sie ihn persönlich?» «Ich bin ihm ein- oder zweimal begegnet», sagte Colonel Pikeaway. «Man kommt nicht umhin, sich zu fragen –» Colonel Pikeaway unterdrückte unter Mühen ein Gähnen. Er war der Gedanken, Fragen und Vorstellungen von Sir George reichlich müde. Er hatte sowieso eine schlechte Meinung von Sir Georges geistigen Fähigkeiten. Ein vorsichtiger Mann, von dem man sicher sein konnte, dass er auch seine Abteilung sehr vorsichtig führte. Kein Mann von sprühendem Intellekt. Vielleicht, dachte Colonel Pikeaway, war das auch besser so. Jedenfalls sind die, die immer nur nachdenken und nichts Genaues wissen, meist ziemlich sicher auf den Posten, wo Gott und die Wähler sie hingesetzt haben. «Man kann die Enttäuschungen, die wir in der Vergangenheit erlitten haben, nicht völlig vergessen», fuhr Sir George fort. Colonel Pikeaway lächelte freundlich. «Charleston, Conway und Courtfold», sagte er. «Voll im Vertrauen, geprüft und genehmigt. Alle mit C, alle betrügerisch wie die Sünde.» «Manchmal frage ich mich, ob man überhaupt noch jemandem trauen kann», sagte Sir George unglücklich. «Das ist leicht zu beantworten», sagte Colonel Pikeaway. «Man kann es nicht.» «Nehmen wir Sir Stafford Nye», sagte Sir George. «Ausgezeichnete Familie, ich kannte seinen Vater und seinen Großvater.» «Es gibt oft einen Ausrutscher in der dritten Generation», sagte Colonel Pikeaway. Diese Bemerkung half Sir George kaum weiter. «Ich muss leider bezweifeln… Ich meine, manchmal erscheint er wirklich unseriös.» «Einmal habe ich meine beiden Nichten mitgenommen, um die Loireschlösser zu besichtigen, als ich ein junger Mann war», sagte Colonel Pikeaway unerwartet. «Ein Mann angelte irgendwo am Ufer. Ich hatte auch meine Angelrute dabei. Er sagte zu mir: ‹Vous n’etes pas un pecheur sérieux. Vous avez des femmes avec vous.›» «Denken Sie, Sir Stafford –?» «Nein, nein, er hatte niemals viel mit Frauen zu tun. Sein Problem ist die Ironie. Er liebt es, die Leute zu überraschen. Er kann sich einfach nicht helfen, er muss sich auf Kosten anderer amüsieren.» «Nun, das ist nicht sehr zufriedenstellend, oder?» «Warum nicht? », fragte Colonel Pikeaway. «Sich kleine Scherze zu erlauben, ist besser, als ein Geschäft mit einem Überläufer zu machen.» «Wenn man nur sicher sein könnte, dass er wirklich zuverlässig ist. Was ist Ihre persönliche Meinung?» Colonel Pikeaway lächelte freundlich. «Ich würde mir an Ihrer Stelle keine Sorgen machen», sagte er. III Sir Stafford Nye schob seine Kaffeetasse zur Seite. Er nahm die Zeitung, sah sich die Schlagzeilen an und öffnete sie dann sorgfältig auf der Seite mit den Kleinanzeigen. Er hatte diese Rubrik schon seit sieben Tagen durchgesehen. Es war enttäuschend, aber nicht überraschend. Warum in aller Welt sollte er erwarten, eine Antwort zu bekommen? Seine Augen glitten langsam abwärts über verschiedene Skurrilitäten, die diese Seite in seinen Augen immer recht faszinierend machten. Sie waren nicht immer persönlich. Die Hälfte oder mehr als die Hälfte waren verbrämte Werbeanzeigen oder Angebote von Dingen, die zum Verkauf standen oder gesucht wurden. Sie hätten wahrscheinlich in einer anderen Rubrik erscheinen sollen, aber sie hatten ihren Weg hierher gefunden, unter der Annahme, dass sie hier mehr Aufmerksamkeit finden würden. Hier standen ein oder zwei von der hoffnungsvollen Variante. «Junger Mann, der nicht hart arbeiten und ein angenehmes Leben führen möchte, sucht einen passenden Job.» «Junge Frau möchte nach Kambodscha reisen. Bitte keine Kinderbetreuung.» «Feuerwaffe, in Waterloo verwendet. Gebote erwünscht.» «Wunderbarer Webpelzmantel. Sofort zu verkaufen. Besitzerin geht ins Ausland.» «Kennen Sie Jenny Capstan? Ihre Kuchen sind super. Kommen Sie in die Lizzard Street Nr. 14, S.W. 3.» Für einen Augenblick hielt Stafford Nyes Finger inne. Jenny Capstan. Der Name gefiel ihm. Gab es eine Lizzard Street? Das nahm es an. Er hatte jedoch nie davon gehört. Mit einem Seufzer bewegte er seinen Finger weiter die Rubrik entlang nach unten und hielt fast sofort wieder an. «Passagier aus Frankfurt, Donnerstag, 11. November, Hungerford-Brücke, 7.20.» Donnerstag, 11. November. Das war – ja, das war heute. Sir Stafford lehnte sich in seinem Stuhl zurück und trank noch etwas Kaffee. Er war aufgeregt, richtiggehend nervös. Hungerford, die Hungerford-Brücke. Er stand auf und ging in die kleine Küche. Mrs. Worrit schnitt Kartoffeln in Streifen und warf sie in eine große Schüssel mit Wasser. Sie sah leicht erstaunt auf. «Wünschen Sie irgendetwas, Sir?» «Ja», sagte Sir Stafford Nye. «Wenn jemand Sie zur Hungerford-Brücke bitten würde, wo würden Sie dann hingehen?» «Wo ich hingehen würde?» Mrs. Worrit überlegte. «Meinen Sie, wenn ich da hingehen wollte?» «Wir können von dieser Annahme ausgehen.» «Nun, dann würde ich wohl zur Hungerford-Brücke gehen, nicht wahr?» «Heißt das, Sie würden nach Hungerford in Berkshire fahren?» «Wo ist denn das?», fragte Mrs. Worrit. «Acht Meilen hinter Newbury.» «Von Newbury habe ich schon einmal gehört. Mein Alter hat dort letztes Jahr auf ein Pferd gewettet. Hat auch gewonnen.» «Also würden sie nach Hungerford bei Newbury fahren?» «Nein, natürlich nicht», sagte Mrs. Worrit. «Den ganzen Weg dorthin – warum? Ich würde natürlich zur Hungerford-Brücke gehen.» «Sie meinen –?» «Nun, die ist bei Charing Cross. Sie wissen sicher, wo die ist. Über die Themse.» «Ja», sagte Sir Stafford Nye, «ja, ich weiß ganz gut, wo das ist. Vielen Dank, Mrs. Worrit.» Das war, hatte er das Gefühl, wie einen Penny um Kopf oder Zahl zu werfen. Eine Anzeige in einer Morgenzeitung in London ließ auf die Hungerford-Eisenbahnbrücke in London schließen. Es war anzunehmen, dass sich die Anzeige darauf bezog. Aber wegen der Person, die die Anzeige aufgegeben hatte, war sich Sir Stafford Nye durchaus nicht sicher. Ihre Vorstellungen waren, nach dem flüchtigen Eindruck, den er von ihr hatte, von besonderer Art. Sie entsprachen nicht den normalen Reaktionen, die man erwartete. Aber was sollte er sonst tun? Außerdem gab es womöglich noch andere Hungerfords in den verschiedensten Regionen Englands, die wahrscheinlich auch Brücken hatten. Aber heute… Nun, er würde sehen. IV Es war ein kalter, windiger Abend mit gelegentlichen Schauern von dünnem nebligen Regen. Sir Stafford Nye schlug den Kragen seines Regenmantels hoch und trottete weiter. Es war nicht das erste Mal, dass er die Hungerford-Brücke überquerte, aber es war ihm nie als Vergnügungsspaziergang erschienen. Unter ihm war der Fluss, und eine Menge hastender Gestalten wie er überquerten die Brücke. Die Regenmäntel fest geschlossen, die Hüte heruntergezogen, hatten alle den ernsthaften Wunsch, sobald wie möglich nach Hause zu kommen, um dem Wind und Regen zu entgehen. Es würde nicht einfach sein, dachte Sir Stafford Nye, irgendjemanden in dieser wuselnden Menge zu erkennen. 7 Uhr 20. Keine gut gewählte Zeit für jegliche Art von Rendezvous. Vielleicht war es doch die Hungerford-Brücke in Berkshire. In jedem Fall war es sehr seltsam. Er trottetet weiter. Er hielt die gleiche Geschwindigkeit, überholte niemand, der vor ihm ging, drückte sich an denen, die ihm entgegenkamen, vorbei. Er ging schnell genug, um nicht von den Leuten hinter ihm überholt zu werden, obwohl sie die Möglichkeit hatten, wenn sie es wollten. Vielleicht war es ein Scherz, dachte Sir Stafford Nye. Nicht gerade seine Art von Scherz. Und doch – es war auch nicht ihre Art von Humor, so nahm er zumindest an. Hastende Gestalten überholten ihn wieder und stießen ihn leicht zur Seite. Eine Frau im Regenmantel kam daher, sie ging mühsam. Sie stieß mit ihm zusammen, rutschte aus, fiel auf die Knie. Er half ihr auf. «Ist alles in Ordnung?» «Ja, danke.» Sie eilte weiter, aber als sie an ihm vorbeiging, drückte ihre nasse Hand, die er gehalten hatte, als er sie auf die Füße zog, ihm etwas in die Hand. Dann war sie weg, verschwunden in der Menge. Stafford Nye ging weiter. Er konnte sie nicht überholen. Sie wollte auch nicht überholt werden. Er eilte weiter und seine Hand umfasste etwas ganz fest. Und so schien er schließlich und endlich am Ende der Brücke auf der Surrey-Seite angelangt zu sein. Ein paar Minuten später kehrte er in ein kleines Cafe ein, setzte sich an einen Tisch und bestellte einen Kaffee. Dann sah er sich an, was er in der Hand hielt. Es war ein sehr dünner Umschlag aus Ölpapier. Darin lag ein billiger weißer Umschlag. Auch den öffnete er. Der Inhalt überraschte ihn. Es war eine Eintrittskarte. Eine Eintrittskarte für die Festival Hall am folgenden Abend. Kapitel 5 Ein Wagner-Motiv Sir Stafford Nye machte es sich in seinen Sitz bequem und lauschte dem anhaltenden Hämmern der Nibelungen, mit dem das Programm begann. Obwohl er Wagner-Opern liebte, war Siegfried nicht gerade sein Favorit unter den Opern, die den Ring bildeten. Rheingold und Götterdämmerung galt seine Vorliebe. Die Musik des jungen Siegfried, der dem Gesang der Vögel lauschte, hatte ihn immer aus irgendeinem seltsamen Grund irritiert, anstatt ihn mit romantischen Gefühlen zu erfüllen. Vielleicht war es wegen einer Aufführung, die er einmal in jungen Jahren in München besucht hatte und die einen wunderbaren Tenor, leider von übermäßigen Proportionen, präsentiert hatte. Damals war er zu jung gewesen, um die Freuden der Musik von der optischen Freude zu trennen, einen zumindest annähernd jung erscheinenden Siegfried zu sehen. Die Tatsache, dass ein überdimensionaler Tenor in überschäumender Jugendlichkeit auf dem Boden herumrollte, hatte ihn abgestoßen. Er war auch nicht sehr angetan von Vögeln und Waldgeweben. Nein, lieber jederzeit die Rheintöchter, obwohl in München sogar die Rheintöchter in jenen Tagen von recht kompakten Proportionen waren. Aber das störte ihn nicht so sehr. Dahingetragen vom melodischen Fließen des Wassers und dem jubelnden unpersönlichen Gesang, hatte er es nicht zugelassen, dass der visuelle Eindruck ihn beeinflusste. Von Zeit zu Zeit sah er sich vorsichtig um. Er hatte seinen Platz schon ziemlich früh eingenommen. Das Haus war wie üblich voll besetzt. Die Pause nahte. Der Platz neben ihm war leer geblieben. Jemand, der hätte kommen sollen, war nicht gekommen. War das die Antwort, oder war jemand wegen einer Verspätung nur nicht eingelassen worden, eine Praxis, die bei Wagner-Aufführungen immer noch eingehalten wurde. Er ging nach draußen, wanderte umher, trank eine Tasse Kaffee, rauchte eine Zigarette und kehrte zurück, als der Aufruf kam. Als er zu seinem Platz zurückkehrte, war der Sitz neben ihm besetzt. Sofort spürte er seine Aufregung wieder. Er setzte sich. Ja, es war die Frau aus der Frankfurter Abflughalle. Sie schaute ihn nicht an, sondern blickte starr geradeaus. Im Profil sah ihr Gesicht genauso klar geschnitten und rein aus, wie er es in Erinnerung hatte. Sie bewegte leicht den Kopf, und ihr Blick ging über ihn hinweg, ohne ein Wiedererkennen zu signalisieren. So intensiv war dieses Nicht-Wiedererkennen, dass es jedes gesprochene Wort ersetzte. Dies war ein Treffen, das geheim bleiben sollte. Die Lichter wurden schwächer, und die Frau neben ihm wandte sich ihm zu. «Verzeihen Sie, könnte ich mir Ihr Programmheft ansehen? Ich habe meines auf dem Weg zu meinem Platz verloren, fürchte ich.» «Natürlich», erwiderte er. Er reichte das Programmheft hinüber, und sie nahm es entgegen. Sie öffnete es und studierte den Inhalt. Der zweite Teil der Aufführung begann. Es fing mit der Lohengrin-Ouvertüre an. Am Ende reichte sie ihm das Programmheft mit ein paar Dankesworten zurück. «Haben Sie vielen Dank. Das war sehr freundlich von Ihnen.» Das nächste Stück war das Waldweben aus Siegfried. Er konsultierte das Programmheft, das sie ihm zurückgegeben hatte. Da bemerkte er etwas, das schwach mit Bleistift unten auf einer Seite geschrieben stand. Er versuchte nicht, es sofort zu lesen. Das Licht hätte dazu auch gar nicht ausgereicht. Er klappte das Programmheft zu und hielt es fest. Er war sich sicher, dass er selbst nichts dorthin geschrieben hatte. Vielleicht hatte sie ihm also ihr eigenes Programmheft gegeben, dachte er, und vorher schon eine Botschaft an ihn hineingeschrieben. Die allgemeine Atmosphäre von Geheimnis und Gefahr herrschte noch immer, dachte er. Das Treffen auf der Hungerford-Brücke und der Umschlag mit der Eintrittskarte, die ihm in die Hand gedrückt worden war. Und nun die Frau, die stumm neben ihm saß. Er sah sie ein- oder zweimal an mit dem flüchtigen, gleichgültigen Blick, den man einer Fremden, die neben einem sitzt, schenkt. Sie saß zurückgelehnt auf ihrem Sessel; ihr hochgeschlossenes Kleid war aus stumpfem, dunklem Krepp. Ein antiker Goldreifen umschloss ihren Hals. Ihr Haar war kurz geschnitten. Sie erwiderte seinen Blick nicht. Er fragte sich, ob irgendjemand auf einem der Plätze in der Festival Hall sie beobachtete – oder ihn? Ob jemand registrierte, wenn sie sich ansahen oder miteinander sprachen? Anzunehmen war das, zumindest bestand die Möglichkeit. Sie hatte seine Zeitungsannonce beantwortet. Das sollte ihm genügen. Seine Neugier war unvermindert, aber er wusste jetzt wenigstens, dass Daphne Theofanous – alias Mary Ann – hier in London war. Es gab künftige Möglichkeiten, mehr darüber zu erfahren, was genau im Gange war. Aber der Schlachtplan musste ihr überlassen bleiben. Er musste ihren Hinweisen folgen. So wie er auf dem Flughafen ihre Anweisungen befolgt hatte, würde er sie auch jetzt befolgen und – er musste es zugeben – das Leben war plötzlich interessanter geworden. Das war besser als die langweiligen Konferenzen in seinem politischen Dasein. Hatte ihn tatsächlich ein Wagen gestreift neulich am Abend? Er glaubte es zumindest. Zwei Versuche – nicht nur einer. Es war allerdings leicht anzunehmen, dass man das Ziel eines Überfalls war. Die Leute fuhren heutzutage so rücksichtslos. Er faltete sein Programmheft zusammen und sah es nicht mehr an. Die Musik ging zu Ende. Die Frau neben ihm sprach plötzlich. Sie drehte nicht den Kopf und man sah sie nicht sprechen. Aber sie sprach hörbar, mit einem kleinen Seufzer zwischen den Worten, als redete sie mit sich selbst oder mit ihrem Nachbarn zur anderen Seite. «Jung-Siegfried», sagte sie und seufzte wieder. Die Vorstellung endete mit dem Marsch aus den Meistersingern. Nach enthusiastischem Beifall begann das Publikum seine Plätze zu verlassen. Er wartete, ob sie ihm irgendeinen Hinweis gäbe, aber das tat sie nicht. Sie nahm Ihren Umhang, verließ die Sitzreihe und bewegte sich mit leicht beschleunigten Schritten mit den anderen Leuten nach vorn und verschwand in der Menge. Stafford Nye ging zu seinem Wagen und fuhr nach Hause. Dort angekommen, legte er das Programmheft aus der Festival Hall auf seinen Schreibtisch und untersuchte es eingehend, nachdem er einen Kaffee aufgesetzt hatte. Das Programmheft war eine echte Enttäuschung. Es schien keinerlei Botschaft zu enthalten. Nur auf einer Seite über der Auflistung der Stücke befanden sich die Bleistiftmarkierungen, die er vage gesehen hatte. Aber es waren keine Wörter, Buchstaben oder Zahlen. Es schien nur eine musikalische Notiz zu sein. Es war, wie wenn jemand ein musikalisches Motiv mit einem etwas unzulänglichen Bleistift in Noten aufgezeichnet hätte. Einen Augenblick lang glaubte Stafford Nye, die Notiz enthalte eine geheime Botschaft, die er mittels Hitzebehandlung hervorbringen könnte. Sehr vorsichtig und etwas beschämt über seine melodramatische Fantasie hielt er sie an die Elektroheizung, aber das führte zu keinem Ergebnis. Mit einem Seufzer warf er das Programmheft zurück auf den Tisch. Er fühlte sich zu Recht verärgert. All dieser Zirkus, ein Rendezvous auf einer windigen und regnerischen Brücke über den Fluss! Ein Konzert neben einer Frau, der er sehnlichst zumindest ein Dutzend Fragen stellen wollte – und am Ende? Nichts! Kein Weiterkommen. Immerhin, sie hatte sich mit ihm getroffen. Aber warum? Wenn sie nicht mit ihm sprechen wollte, keine weiteren Verabredungen mit ihm treffen wollte, warum war sie dann überhaupt gekommen? Sein Blick wanderte gleichgültig durch den Raum zu seinem Bücherregal, in dem sich Thriller, Detektivromane und einige Science-Fiction-Romane befanden; er schüttelte den Kopf. Romane waren der Wirklichkeit unendlich überlegen. Leichen, geheimnisvolle Anrufe, schöne ausländische Spioninnen in Mengen! Aber diese besondere, nur schwer greifbare junge Dame war vielleicht noch nicht fertig mit ihm. Nächstes Mal, dachte er, würde er seine eigenen Vorkehrungen treffen. Er konnte das Spiel genauso spielen wie sie. Er trank noch eine Tasse Kaffee und ging zum Fenster, das Programmheft hielt er fest in der Hand. Als er auf die Straße hinaussah, fiel sein Blick wieder auf das aufgeschlagene Programmheft in seiner Hand und er summte fast unbewusst etwas vor sich hin. Er hatte ein feines Ohr für Musik und konnte ganz leicht die Noten summen, die dort hingekritzelt waren. Wie er sie so summte, klangen sie vage bekannt. Er erhob die Stimme ein wenig. Was war das nur? Tarn, tarn, tarn tarn ti-tam. Ja, definitiv bekannt. Er begann, seine Briefe zu öffnen. Die meisten waren uninteressant. Zwei Einladungen, eine von der Amerikanischen Botschaft, eine von Lady Athelhampton. Eine Wohltätigkeitsveranstaltung, die auch Mitglieder des Königshauses besuchen würden, und es wurde angedeutet, dass fünf Guineen keine exorbitante Gebühr für eine Platzkarte seien. Er legte sie beiseite. Er bezweifelte stark, dass er auch nur eine der Einladungen annehmen würde. Er beschloss, sich aufzumachen und wie versprochen seine Tante Matilda zu besuchen. Er mochte Tante Matilda, auch wenn er sie nicht sehr oft besuchte. Sie lebte in einer großzügigen Wohnung in einem Flügel eines Georgianischen Herrenhauses auf dem Lande, das sie von seinem Großvater geerbt hatte. Die Wohnung bestand aus einem großen, wohlproportionierten Wohnzimmer, einem kleinen ovalen Esszimmer, einer neuen Küche in der ehemaligen Dienstbotenkammer, zwei Gästeschlafzimmern, einem großen komfortablen Schlafzimmer für sich selbst mit dazugehörigem Badezimmer sowie einer passenden Unterkunft für eine geduldige Freundin, die das tägliche Leben mit ihr teilte. Die Reste der treuen Dienerschaft waren gut versorgt und untergebracht. Der Rest des Hauses verblieb unter Tüchern und wurde von Zeit zu Zeit gereinigt. Stafford Nye hing sehr an diesem Haus, er hatte als Junge dort seine Ferien verbracht. Damals war es ein fröhliches Haus gewesen. Sein ältester Onkel lebte dort mit seiner Frau und zwei Kindern. Ja es war schön dort seinerzeit. Es gab genug Geld und ausreichend Personal, um den Haushalt zu führen. In jenen Tagen hatte er die Porträts und Bilder an den Wänden kaum beachtet. Es gab großflächige Exemplare viktorianischer Kunst, die die besten Plätze beanspruchten und die meisten Wände füllten, aber es gab auch andere Meister älteren Ursprungs. Ja, es hatte ein paar gute Porträts gegeben. Einen Raeburn, zwei Lawrence-Bilder, einen Gainsborough, einen Lely, zwei ziemlich dubiose van Dycks. Auch zwei Turners. Einige mussten allerdings verkauft werden, da die Familie Geld brauchte. Es erfreute ihn immer noch, umherzuwandern und die Familienporträts zu studieren, wenn er dort zu Besuch war. Seine Tante Matilda war eine rechte Plaudertasche, und sie freute sich immer über seinen Besuch. Er konnte nicht erklären, warum, aber er hatte sie gern, dennoch war er sich nicht ganz darüber im Klaren, warum er sie ausgerechnet jetzt besuchen wollte. Und was hatte ihn nur auf die Familienporträts gebracht? Ging es darum, dass es dort ein Porträt seiner Schwester Pamela von vor zwanzig Jahren gab, das ein bedeutender Künstler gefertigt hatte? Er wollte dies Porträt von Pamela sehen und genauer betrachten. Sehen, wie stark die Ähnlichkeit war zwischen der Fremden, die sein Leben auf diese wirklich empörende Art durcheinandergebracht hatte, und seiner Schwester. Er nahm das Festival-Hall-Programmheft leicht verärgert wieder zur Hand und begann die aufgezeichneten Noten zu summen. Tam, tam, ti tam – da ging es ihm plötzlich auf, und er wusste, was es war. Das Siegfried-Motiv. Das war, was die Frau am Abend zuvor gesagt hatte. Nicht direkt zu ihm, zu niemandem. Aber das war die Botschaft, die niemand sonst hätte deuten können, da sie sich auf die Musik zu beziehen schien, die gerade gespielt wurde. Und das Motiv war in sein Programmheft geschrieben worden, auch musikalisch formuliert. Jung-Siegfried. Das musste etwas bedeuten. Nun, vielleicht gab es weitere Aufklärung. Jung-Siegfried. Was zur Hölle sollte das wirklich heißen? Warum und wie und wann und was? Lächerlich! All diese Fragen. Er griff zum Telefon und wählte Tante Matildas Nummer. «Aber sicher, lieber Staffy, ich freue mich darauf, dich hier zu haben. Nimm den Zug um vier Uhr dreißig. Der fährt immer noch, weißt du, aber er kommt hier anderthalb Stunden später an. Und er fährt später von Paddington ab – fünf Uhr fünfzehn. Ich nehme an, das halten sie wohl für die Erneuerung der Bahn. Hält auf dem Weg an einigen höchst lächerlichen Stationen. Nun gut. Horace holt dich in King’s Marston ab.» «Er ist also immer noch da?» «Natürlich ist er noch da.» «Das hatte ich auch erwartet», sagte Sir Stafford Nye. Horace, einst Pferdeknecht, dann Kutscher, war ihr Chauffeur geworden und lebte offensichtlich immer noch. «Er muss mindestens achtzig sein», sagte Sir Stafford und lächelte in sich hinein. Kapitel 6 Porträt einer Dame «Du siehst sehr nett und braun gebrannt aus», sagte Tante Matilda und inspizierte ihn anerkennend. «Das liegt an Malaysia, nehme ich an. Wenn es Malaysia ist, wo du warst? Oder war es Siam oder Thailand? Sie ändern die Namen all dieser Orte ständig und das macht es wirklich nicht leicht. Auf jeden Fall war es nicht Vietnam, oder? Weißt du, ich mag den Klang von Vietnam überhaupt nicht. Das ist alles so verwirrend. Nordvietnam und Südvietnam und die Vietcong und die Viet – was immer die anderen sind, und alle wollen sich bekriegen und keiner will aufhören. Sie wollen nicht nach Paris gehen oder sonst wo hin und nicht am runden Tisch sitzen und vernünftig miteinander reden. Glaubst du nicht, mein Lieber – ich habe darüber nachgedacht und ich denke, es wäre eine gute Lösung –, man könnte einfach eine Menge Fußballfelder errichten. Dort könnten sie alle hingehen und sich bekämpfen, aber nicht mit diesen tödlichen Waffen. Nicht dieses grässliche palmenentblätternde Zeugs. Nur aufeinander einschlagen und boxen und so. Es würde allen gefallen, man könnte Eintritt verlangen, und die Leute würden hingehen und zuschauen. Ich glaube wirklich, wir verstehen es nicht, den Leuten die Dinge zu geben, die sie wirklich haben möchten.» «Ich denke, das ist eine gute Idee von dir, Tante Matilda», sagte Sir Stafford Nye, als er ihre angenehm parfümierte, faltige, blassrosa Wange küsste. «Und wie geht es dir, meine Liebe?» «Nun, ich bin alt», sagte Lady Matilda Cleckheaton. «Ja. Ich bin alt. Natürlich weißt du nicht, wie es ist, alt zu sein. Eins kommt zum anderen, Rheumatismus, Arthritis, ein schlimmer Asthmaanfall, eine Halsentzündung oder ein verstauchter Knöchel. Etwas ist immer, weißt du. Nichts Wichtiges. Aber so ist es. Warum kommst du mich besuchen, mein Lieber?» Sir Stafford war ein wenig überrascht von der Direktheit dieser Frage. «Ich besuche dich für gewöhnlich immer, nachdem ich von einer Auslandsreise zurückgekehrt bin.» «Du musst deinen Stuhl näher rücken», sagte Tante Matilda. «Ich bin ein bisschen schwerhöriger als bei unserem letzten Zusammentreffen. Du siehst anders aus… Warum siehst du anders aus?» «Weil ich braun gebrannt bin. Du hast es selbst gesagt.» «Unsinn, das habe ich überhaupt nicht gemeint. Sag mir nicht, dass es endlich eine Frau in deinem Leben gibt.» «Eine Frau?» «Nun, ich hatte es immer im Gefühl, dass es eines Tages so kommen würde. Das Problem ist, du hast zu viel Sinn für Humor.» «Warum glaubst du das?» «Nun, das ist es, was die Leute über dich denken. Dein Humor steht dir auch bei deiner Karriere im Wege. Weißt du, du bist mit all diesen Leuten in Kontakt. In Diplomatie und Politik. Was man so junge Staatsmänner und ältere Staatsmänner und auch mittelalte Staatsmänner nennt. Und all die verschiedenen Parteien. Wirklich, ich finde es höchst albern, zu viele Parteien zu haben. Zuerst einmal diese schrecklichen, schrecklichen Labour-Leute.» Sie streckte ihre konservative Nase in die Höhe. «Als ich ein junges Mädchen war, gab es auch nicht im Entferntesten eine Labour-Partei. Niemand hätte verstanden, was damit gemeint war. Sie hätten es als ‹Unsinn› bezeichnet. Schade, dass es keiner war. Dann sind da natürlich die Liberalen, aber die sind furchtbar schlapp. Und dann sind da die Tories oder die Konservativen, wie sie sich jetzt wieder nennen.» «Und was ist mit denen los?», fragte Stafford Nye und lächelte sanft. «Zu viele ernsthafte Frauen. Das nimmt ihnen den Frohsinn, weißt du.» «Nun, keine politische Partei setzt heutzutage besonders auf Frohsinn.» «Eben», sagte Tante Matilda. «Und deshalb machst du einen Fehler. Du willst die Dinge ein wenig lockerer angehen. Du möchtest ein bisschen Frohsinn, und so nimmst du die Leute sanft auf die Schippe. Und das mögen sie natürlich nicht. Sie sagen ‹Ce n’est pas un garcon sérieux› wie der Mann beim Fischen.» Sir Stafford lachte. Sein Blick wanderte durch den Raum. «Was schaust du dir an?» «Deine Bilder.» «Du willst doch nicht, dass ich sie verkaufe, oder? Alle scheinen heute ihre Bilder zu verkaufen. Wie der alte Lord Grampion, weißt du. Er hat seine Turners verkauft und auch einige seiner Vorfahren. Und Geoffrey Gouldman. All seine wunderbaren Pferdebilder. Waren sie nicht von Stubbs? Irgend so was. Wirklich, die Preise, die man erzielt! Aber meine Bilder will ich nicht verkaufen. Ich mag sie. Die meisten in diesem Raum sind wirklich von Interesse, weil es Vorfahren sind. Ich weiß, dass heute keiner mehr Wert auf Vorfahren legt, aber ich bin eben altmodisch. Ich liebe Vorfahren. Meine eigenen Vorfahren natürlich. Wen siehst du da an? Pamela?» «Ja. Ich habe neulich an sie gedacht.» «Erstaunlich, wie sehr ihr euch ähnelt. Ihr seid ja keine Zwillinge, obwohl man sagt, dass Zwillinge bei unterschiedlichem Geschlecht nicht eineiig sein können. Sie können nicht identisch sein, wenn du verstehst, was ich meine.» «Also muss Shakespeare bei Viola und Sebastian ein ziemlicher Fehler unterlaufen sein.» «Nun, auch normale Brüder und Schwestern können sich ähneln, oder? Du und Pamela, ihr wart euch immer sehr ähnlich. Äußerlich zumindest.» «In anderer Hinsicht nicht? Denkst du nicht, wir waren uns auch ähnlich im Charakter?» «Nein, nicht im Mindesten. Das ist das Interessante daran. Aber natürlich hatten Pamela und du das, was ich das ‹Familiengesicht› nenne. Kein Nye-Gesicht. Ich meine das Baldwen-White-Gesicht.» Sir Stafford Nye hatte sich nie als konkurrenzfähig betrachtet, wenn es um ein Gespräch über Fragen der Genealogie mit seiner Großtante Matilda ging. «Ich habe immer gedacht, dass Pamela und du beide nach Alexa geraten seid», fuhr sie fort. «Wer war denn Alexa?» «Deine Urur-, ich glaube, noch ein Ur- mehr, -Großmutter. Eine ungarische Gräfin oder Baronesse oder so was. Dein Ururgroßvater verliebte sich in sie, als er in Wien bei der Botschaft war. Ja. Ungarin. Das war sie. Auch sehr sportlich. Sie sind sportlich, die Ungarn, weißt du? Sie war Jagdreiterin, mit der Meute, sie ritt erstklassig.» «Hängt sie auch in der Bildergalerie?» «Sie hängt auf dem ersten Treppenabsatz. Genau über dem Ende der Treppe, ein bisschen weiter rechts.» «Ich werde sie mir ansehen, bevor ich zu Bett gehe.» «Warum schaust du sie dir nicht jetzt an? Und dann kannst du wiederkommen und wir können über sie sprechen.» «Das werde ich tun, wenn du möchtest.» Er lächelte sie an. Er rannte aus dem Zimmer und die Treppe hinauf. Ja, sie hatte scharfe Augen, die gute Matilda. Das war das Gesicht, das er gesehen hatte und an das er sich erinnerte. Nicht wegen der Ähnlichkeit mit ihm selbst, nicht einmal wegen der Ähnlichkeit mit Pamela, sondern wegen einer noch stärkeren Ähnlichkeit mit diesem Bild dort. Ein gut aussehendes Mädchen, heimgebracht von seinem Botschafter-Urururgroßvater, wenn das genug der Urs waren. Tante Matilda konnte sich nicht mit nur ein paar davon zufrieden geben. Sie war damals ungefähr zwanzig. Die temperamentvolle junge Frau war eine meisterhafte Reiterin und tanzte göttlich, und die Männer lagen ihr zu Füßen. Aber, so wurde berichtet, sie war dem Urururgroßvater treu, ein sehr standhaftes und nüchternes Mitglied des Diplomatischen Dienstes. Sie hatte ihn in ausländische Botschaften begleitet und war dann hierher zurückgekehrt, hatte Kinder bekommen – drei oder vier, so glaubte er. Von einem dieser Kinder war die Erbschaft ihres Gesichtes, ihrer Nase und ihres Halsansatzes auf ihn und seine Schwester Pamela gekommen. Er fragte sich, ob die junge Frau, die ein Rauschmittel in sein Bier getan und ihn aufgefordert hatte, ihr seinen Umhang zu leihen, und die sich als in tödlicher Gefahr befindlich dargestellt hatte, wenn er nicht tat, was sie verlangte, vielleicht mit ihm verwandt war. Etwa eine Cousine fünften oder sechsten Grades, eine Nachfahrin der an der Wand abgebildeten Frau, die er gerade betrachtete. Vielleicht waren sie von gleicher Nationalität. Jedenfalls sahen sich ihre Gesichter ziemlich ähnlich. Wie aufrecht sie gesessen hatte in der Oper, wie gerade das Profil, das Kinn, die leicht gebogene Adlernase war. Und diese Aura, die sie umgab. II «Hast du Sie gefunden?», fragte Lady Matilda, als ihr Neffe in den weißen Salon zurückkehrte, wie sie ihr Wohnzimmer gewöhnlich bezeichnete. «Sie hat ein interessantes Gesicht, nicht wahr?» «Ja, und sie ist auch sehr gut aussehend.» «Es ist viel besser, interessant zu sein als gut aussehend. Aber du bist nie in Ungarn oder Österreich gewesen, oder? So jemanden würdest du wohl in Malaysia nie treffen. Sie würde niemals dort an einem Tisch herumsitzen und kleine Notizen machen oder Reden korrigieren oder so was. Sie war ein wildes Geschöpf, allen Berichten zufolge. Auch wenn sie wunderbare Manieren hatte. Sie war wie ein Wildvogel. Leider wusste Sie nicht, wann Gefahr lauert.» «Wieso weißt du so viel über sie?» «Oh, ich muss zugeben, ich war keine Zeitgenossin. Ich wurde erst einige Jahre nach ihrem Tod geboren. Dennoch habe ich mich immer für sie interessiert. Sie war abenteuerlustig, weißt du. Äußerst abenteuerlustig. Sehr seltsame Geschichten wurden über sie erzählt, von Dingen, in die sie verwickelt war.» «Und wie hat mein Urururgroßvater darauf reagiert?» «Ich glaube, es hat ihn zu Tode geängstigt», antwortete Lady Matilda. «Man sagte jedoch, dass er ihr sehr zugetan war. Übrigens, Staffy, hast du jemals ‹Der Gefangene von Zenda› gelesen?» «Nun, sicher, das klingt bekannt – es ist der Titel eines Romans.» «Ich dachte, du wüsstest nichts darüber, denn es war lange vor deiner Zeit. Als ich ein junges Mädchen war – da war das unsere erste Begegnung mit dem Romantischen. Keine Popsänger oder Beatles. Nur ein romantischer Roman. Als ich jung war, durften wir keine Romane lesen. Jedenfalls nicht morgens. Höchstens am Nachmittag durfte man sie lesen.» «Was für merkwürdige Regeln», befand Sir Stafford. «Warum war es verboten, am Morgen Romane zu lesen, am Nachmittag jedoch nicht?» «Nun, am Morgen sollten junge Mädchen etwas Nützliches tun. Die Blumen arrangieren oder die silbernen Bilderrahmen putzen, weißt du. All diese Dinge, die wir Mädchen so taten. Ein bisschen mit der Gouvernante lernen – all solche Sachen. Am Nachmittag durften wir uns hinsetzen und ein Buch mit Geschichten lesen, und ‹Der Gefangene von Zenda› war eines der ersten, das uns in die Hände fiel.» «Eine nette, anständige Geschichte, nehme ich an? Ich glaube, ich erinnere mich daran. Vielleicht habe ich es sogar gelesen. Alles ist sehr unschuldig, nehme ich an. Nicht zu erotisch?» «Sicherlich nicht. Wir hatten keine erotischen Bücher. Wir hatten romantische Bücher. ‹Der Gefangene von Zenda› war sehr romantisch. Man verliebte sich üblicherweise in den Helden, in Rudolf Rassendyll.» «An den Namen glaube ich mich auch zu erinnern. Ziemlich blumig, nicht wahr?» «Nun, ich glaube. Es war ein ziemlich romantischer Name. Zwölf Jahre muss ich alt gewesen sein. Ich erinnerte mich daran, als du nach oben gingst, um dir das Porträt anzusehen. Das von Prinzessin Flavia», fügte sie hinzu. Stafford Nye lächelte ihr zu. «Du siehst gerade jung und rosig und sehr sentimental aus», sagte er. «Nun, so fühle ich mich auch. Die jungen Mädchen heutzutage kennen solche Gefühle gar nicht. Sie sinken dahin vor Liebe, oder sie fallen in Ohnmacht, wenn einer Gitarre spielt oder mit sehr lauter Stimme singt, aber sie sind nicht sentimental. Ich war allerdings nicht in Rudolf Rassendyll verliebt. Ich war in den anderen verliebt – in seinen Doppelgänger.» «Er hatte einen Doppelgänger?» «Aber ja, den König von Ruritanien.» «Ach, natürlich, jetzt erinnere ich mich. Daher kommt das Wort Ruritanien: Es wird immer überall eingeworfen. Ja, ich glaube, ich habe es gelesen. Der König von Ruritanien, und Rudolf Rassendyll agierte als Stellvertreter für den König und verliebte sich in Prinzessin Flavia, mit der der König offiziell verlobt war.» Lady Matilda gab noch einige tiefe Seufzer von sich. «Ja, Rudolf Rassendyll hatte sein rotes Haar von einer Vorfahrin geerbt, und irgendwo in dem Buch verneigt er sich vor ihrem Bild und sagt etwas – ich kann mich gerade an den Namen nicht erinnern – über die Gräfin Amelia oder so, von der er sein Aussehen und alles andere geerbt hat. So habe ich dich angeschaut und mir dich als Rudolf Rassendyll vorgestellt. Und du bist hinausgegangen und hast dir ein Bild angesehen von dieser Frau, die vielleicht deine Ahnin hätte sein können. Und du wolltest wissen, ob sie dich an irgendwen erinnert. Also bist du in eine Romanze verwickelt, nicht wahr?» «Warum um Himmels willen glaubst du das?» «Nun, es gibt nicht allzu viele Lebensmuster, weißt du. Man erkennt das Schema, wenn man darauf stößt. Es ist wie ein Strickmusterbuch. Ungefähr 65 verschiedene Fantasiemuster. Dein Muster, würde ich sagen, ist im Augenblick das romantische Abenteuer.» Sie seufzte. «Aber du wirst es mir wahrscheinlich nicht erzählen.» «Es gibt nichts zu erzählen», erwiderte Sir Stafford. «Du warst immer ein geschickter Lügner. Nun, sei’s drum. Bring sie einmal mit zu Besuch. Das ist alles, was ich möchte, bevor die Ärzte es schaffen, mich mit einer weiteren Variante von Antibiotika umzubringen, die sie gerade entdeckt haben. All die bunten Pillen, die ich bis jetzt schon einnehmen musste! Das ist kaum zu glauben!» «Ich weiß nicht, warum du ‹sie› sagst –» «Nicht? Nun, ich erkenne eine ‹sie›, wenn sie mir über den Weg läuft. Irgendwo schlängelt sich eine ‹sie› durch dein Leben. Ich habe keine Ahnung, wie du sie gefunden hast. In Malaysia, am Konferenztisch? Eine Botschaftertochter oder Ministertochter? Eine gut aussehende Sekretärin aus der Botschaft? Nein. Nichts davon scheint zu passen. Auf der Schiffsreise nach Hause? Nein, man fährt heutzutage nicht mehr mit dem Schiff. Vielleicht im Flugzeug.» «Du kommst der Sache schon etwas näher», konnte sich Sir Stafford nicht verkneifen. «Ah!» Sie bohrte weiter. «Eine Stewardess?» Er schüttelte den Kopf. «Nun ja. Behalte dein Geheimnis für dich, ich bekomme es schon heraus, glaube mir. Ich hatte immer einen guten Riecher für alles, was dich betrifft. Auch für die Dinge im Allgemeinen. Natürlich bin ich heute so ziemlich aus allem heraus, aber von Zeit zu Zeit treffe ich meine alten Freunde, und es ist ziemlich leicht, ihnen die eine oder andere Information zu entlocken. Die Leute machen sich Sorgen. Überall – alle sind besorgt.» «Du meinst, es besteht eine allgemeine Unzufriedenheit – oder Besorgnis?» «Nein, das meine ich überhaupt nicht. Ich meine, die in den oberen Etagen sind besorgt. Unsere schrecklichen Regierungen hegen Befürchtungen. Das gut alte verschlafene Außenministerium macht sich Sorgen. Irgendwas bewegt sich, es geschehen Dinge, die nicht sein sollten. Unruhen.» «Studentenunruhen?» «Ach, Studentenunruhen sind nur eine kleine Blüte an diesem Baum. Er gedeiht überall und in jedem Land, so scheint es zumindest. Ich habe ein nettes Mädchen, das jeden Tag kommt, um mir morgens die Zeitungen vorzulesen. Ich kann nicht mehr so gut lesen. Sie hat eine hübsche Stimme. Sie schreibt mir meine Briefe und liest mir Sachen aus der Zeitung vor, und sie ist ein gutes, freundliches Mädchen. Sie liest mir die Dinge vor, die ich gern höre, und nicht die Dinge, von denen sie glaubt, dass sie gut für mich wären. Ja, alle sind besorgt, soweit ich feststellen kann, und das habe ich mehr oder weniger auch von einem sehr guten alten Freund erfahren.» «Einer deiner alten Freunde beim Militär?» «Er ist Generalmajor, wenn du das meinst. Er hat schon vor vielen Jahren seinen Abschied genommen, weiß aber immer noch sehr gut Bescheid. Die Jugend ist sozusagen die Speerspitze des Ganzen. Aber das ist nicht das wirklich Beunruhigende. Sie – wer auch immer sie sein mögen – agieren durch die Jugend. Die Jugend in allen Ländern. Jugend, die angetrieben wird. Jugend, die Slogans ruft. Slogans, die aufregend klingen, auch wenn sie manchmal nicht wissen, was sie bedeuten. Es ist so einfach, eine Revolution anzuzetteln. Das ist ganz natürlich für die Jugend. Die Jugend war immer rebellisch. Sie rebellieren, sie zerstören, sie wollen eine andere Welt als die bestehende. Aber sie sind auch blind. Die Jugend trägt eine Binde vor den Augen. Sie überblicken nicht, wohin sie die Dinge führen. Was kommt als Nächstes? Was steht ihnen vor Augen? Und wer steht hinter ihnen und treibt sie an? Das ist das Erschreckende daran. Weißt du, da ist jemand, der dem Esel eine Karotte vorhält, damit er mitkommt. Und gleichzeitig steht einer hinter dem Esel und treibt ihn mit einem Stecken.» «Du hast ja ganz außerordentliche Fantasien.» «Das sind keine Fantasien, mein lieber Junge. Das haben die Leute damals über Hitler auch gesagt. Über Hitler und die Hitlerjugend. Aber das war lange und sorgfältig vorbereitet. Es war ein Krieg, der in allen Einzelheiten vorbereitet war. Es gab eine fünfte Kolonne, in mehreren Ländern aufgebaut, voll bereit für die Übermenschen. Die Übermenschen sollten die Blüte der deutschen Nation sein. Das dachten sie und daran glaubten sie leidenschaftlich. Jemand anders glaubt vielleicht heute auch so etwas. Es ist eine Glaubenslehre, die sie willig annehmen werden – wenn sie geschickt genug präsentiert wird.» «Von wem sprichst du überhaupt? Meinst du die Chinesen oder die Russen? Was meinst du damit?» «Ich weiß es nicht. Ich habe nicht die leiseste Idee. Aber da ist etwas irgendwo, und es bewegt sich auf derselben Linie. Wieder das Muster, siehst du. Das Schema! Die Russen? Niedergehalten vom Kommunismus. Ich glaube, man hält sie für altmodisch. Die Chinesen? Ich glaube, sie haben die Richtung verloren. Zu viel Vorsitzender Mao vielleicht. Ich weiß nicht, wer diese Leute sind und wer die Planung übernimmt. Wie schon gesagt, es geht um das Warum, das Wo, das Wenn und das Wer.» «Sehr interessant.» «Es ist so beängstigend. Die gleiche Idee kehrt immer wieder. Die Geschichte wiederholt sich. Der junge Held, der goldene Übermensch, dem alle folgen müssen.» Sie hielt inne und fuhr dann fort: «Die gleiche Idee, weißt du. Jung-Siegfried.» Kapitel 7 Rat von Großtante Matilda Großtante Matilda sah ihn an. Sie hatte sehr scharfe und kluge Augen. Stafford Nye hatte das schon früher bemerkt. In diesem Augenblick spürte er es besonders. «Also hast du diesen Ausdruck schon gehört», sagte sie. «Soso.» «Was hat er zu bedeuten?» «Das weißt du nicht?» Sie zog die Augenbrauen hoch. «Hand aufs Herz. Ich schwöre, ich weiß es nicht», sagte Sir Stafford wie in alten Kindertagen. «Ja, das haben wir immer gesagt, nicht wahr?», erinnerte sich Lady Matilda. «Meinst du das ernst, was du sagst?» «Ich weiß wirklich nichts darüber.» «Aber du hast die Bezeichnung schon einmal gehört.» «Ja. Jemand hat sie mir genannt.» «Jemand Wichtiges?» «Könnte sein. Ich nehme an, dass das sein könnte. Was meinst du mit jemand Wichtiges?» «Nun, du warst in letzter Zeit an einigen Regierungsmissionen beteiligt, nicht wahr? Du hast dieses arme elende Land so gut es ging vertreten. Was, wie ich annehme, auch nicht viel besser war als was andere hätten tun können, indem sie an einem Tisch herumsaßen und redeten. Ich weiß nicht, ob irgendwas dabei herausgekommen ist.» «Wahrscheinlich nicht», erwiderte Stafford Nye. «Immerhin, man ist ohnehin nicht optimistisch, wenn man diese Dinge in Angriff nimmt.» «Aber man tut sein Bestes», sagte Lady Matilda berichtigend. «Ein sehr christliches Prinzip. Wenn man heutzutage sein Schlimmstes tut, kommt man oft sehr viel besser zurande. Was hat das alles zu bedeuten, Tante Matilda?» «Ich glaube, ich weiß das nicht», antwortete seine Tante. «Nun, du weißt oft viele Dinge.» «Nicht genau. Ich schnappe nur hier und da ein paar Sachen auf.» «Ja?» «Ein paar alte Freunde sind mir geblieben, weißt du. Freunde, die Bescheid wissen. Die meisten sind natürlich stocktaub oder halb blind oder ein bisschen wirr im Kopf oder nicht mehr in der Lage, geradeaus zu gehen. Aber etwas funktioniert noch. Sagen wir, etwas hier oben.» Sie schlug sich auf ihren ordentlich frisierten weißen Kopf. «Es gibt viel Angst und Niedergeschlagenheit. Mehr als gewöhnlich. Das ist eines der Dinge, die ich aufgeschnappt habe.» «Gibt es das nicht immer?» «Ja, ja, aber dies hier ist stärker. Aktiv statt passiv, könnte man sagen. Seit langem, wie ich als Außenstehende bemerke und du zweifellos als mitten im Geschehen Stehender, haben wir das Gefühl, dass die Dinge im Argen liegen. Sie sind schlimm durcheinandergeraten. Jetzt haben wir aber einen Punkt erreicht, wo wir den Eindruck gewinnen, dass jemand an dem Durcheinander gerührt hat. Es hat ein Element der Gefahr. Etwas ist im Gange – wird ausgebrütet. Nicht nur in einem Land. In einer ganzen Anzahl von Ländern. Sie haben eine eigene Truppe aufgestellt und die Gefahr dabei ist, dass es sich um junge Leute handelt. Die Art Leute, die bereit ist, überall hinzugehen, alles zu tun, unglücklicherweise auch alles zu glauben. Und solange man ihnen ein gewisses Maß an Zerstörung und Sand-ins-Getriebe-Streuen verspricht, glauben sie, es muss eine gute Sache sein und die Welt wird eine andere werden. Sie sind nicht kreativ, das ist das Problem – nur destruktiv. Kreative junge Leute schreiben Gedichte, Bücher, komponieren vielleicht Musik, malen Bilder, genau so, wie sie es immer getan haben. Sie sind in Ordnung – aber wenn die Leute einmal lernen, die Zerstörung um ihrer selbst willen zu lieben, hat eine üble Führerschaft ihre Chance.» «Du sagst immer ‹sie› oder ‹die›. Wen meinst du eigentlich damit?» «Ich wünschte, ich wüsste es», antwortete Lady Agatha. «Ja, ich wünschte, ich wüsste es. Sehr sogar. Wenn ich etwas Nützliches in Erfahrung bringe, werde ich es dir verraten. Dann kannst du etwas unternehmen.» «Unglücklicherweise habe ich niemanden, dem ich das berichten könnte, das heißt, an den ich es weitergeben könnte.» «Ja, gib es bloß nicht an irgendjemand Beliebigen weiter. Man kann sich auf die Leute nicht verlassen. Gib es nur nicht an einen von diesen Idioten in der Regierung weiter oder jemand, der mit der Regierung in Verbindung steht oder darauf zählt, in die Regierung zu kommen, wenn die Zeit der jetzigen Bande abläuft. Politiker haben gar keine Zeit, sich in der Welt, in der sie leben, umzusehen. Sie sehen zwar das Land, in dem sie leben, aber sie betrachten es lediglich als eine einzige große Wahlplattform. Damit haben sie dann vorerst genug auf ihrem Teller. Sie tun Dinge, von denen sie ehrlich glauben, dass sie alles besser machen. Und dann sind sie überrascht, wenn das nicht der Fall ist, weil es nicht die Dinge sind, die die Menschen haben wollen. Und man kann sich der Schlussfolgerung kaum erwehren, dass Politiker das Gefühl haben, sie hätten eine Art göttliches Recht auf Lügen für einen guten Zweck. Es ist wirklich noch gar nicht so lange her, dass Mr. Baldwin seine berühmte Bemerkung machte – ‹Hätte ich die Wahrheit gesagt, hätte ich die Wahl verloren.› Premierminister beanspruchen dieses Recht immer noch. Ab und zu haben wir einen wirklich großen Mann, Gott sei Dank. Aber das ist selten.» «Nun, was schlägst du vor, was sollte man tun?» «Fragst du mich um Rat? Mich? Weißt du, wie alt ich bin?» «Du gehst auf die neunzig zu.» «So alt bin ich nun auch wieder nicht», sagte Lady Matilda leicht beleidigt. «Sehe ich so aus, lieber Junge?» «Nein, Liebes. Du siehst aus wie nette, gemütliche Sechsundsechzig.» «Schon besser», schmunzelte Lady Matilda. «Es ist nicht wahr. Klingt aber besser. Vielleicht bekomme ich irgendeinen Tipp von einem meiner lieben alten Admiräle, einem alten General oder möglicherweise sogar von einem Luftmarschall. Die erfahren solche Dinge. Sie haben immer noch ihre engen Freunde, und die alten Knaben treffen sich und reden miteinander. Und so macht es dann die Runde. Es gab immer eine Art Nachrichtendienst, und den gibt es immer noch, gleichgültig, wie betagt die Leute sind. Jung-Siegfried. Wir suchen einen Hinweis auf die Bedeutung – ich weiß nicht, ob es eine Person ist, der Name eines Clubs, ein neuer Messias oder ein Popsänger. Aber dieser Ausdruck beinhaltet etwas. Dann ist da auch das musikalische Motiv. Ich habe meine Wagnerzeiten ziemlich vergessen.» Ihre gealterte Stimme krächzte eine nur teilweise erkennbare Melodie. «Siegfrieds Hornruf, nicht wahr? Besorg dir doch eine Blockflöte, warum tust du das nicht? Ich meine eine richtige Blockflöte. Keine Schallplatte, die man aufs Grammofon legen kann – ich meine so ein Ding, wie es die Schulkinder haben. Sie haben Unterricht darin. Neulich bin ich zu einem Vortrag gegangen. Unser Vikar hat ihn gehalten. Es war ganz interessant. Über die Geschichte der Blockflöte und alle Flöten, die es seit dem Elisabethanischen Zeitalter gegeben hat. Und die Blockflöten selbst, manche haben einen wunderschönen Ton. Und ihre Geschichte. Ja. Nun, was sagte ich gerade?» «Du hast mir gesagt, ich solle solch ein Instrument besorgen, nehme ich an.» «Ja. Besorg dir eine Flöte und lerne Siegfrieds Hornruf darauf zu spielen. Du bist musikalisch, das warst du schon immer. Du kannst das schaffen, oder?» «Nun, es bedeutet wohl, eine sehr kleine Rolle bei der Rettung der Welt zu spielen, aber ich denke, ich schaffe das.» «Und halte das Ding bereit. Weil» – sie klopfte mit ihrem Brillenetui auf den Tisch – «vielleicht musst du irgendwann einmal die falschen Leute mit deinem Spiel beeindrucken. Das ist vielleicht ganz nützlich. Sie würden dich mit offenen Armen empfangen, und du erfährst vielleicht etwas.» «Du hast wirklich Ideen», sagte Sir Stafford bewundernd. «Was soll man sonst tun in meinem Alter?», fragte seine Großtante. «Man kommt nirgendwohin, kann sich nicht viel unter die Menschen mischen, nichts im Garten tun. Alles, was man tun kann, ist, im Sessel zu sitzen und Ideen auszubrüten. Denk daran, wenn du vierzig Jahre älter bist.» «Eine deiner Bemerkungen fand ich interessant.» «Nur eine?», fragte Lady Matilda. «Das ist ein eher dürftiges Ergebnis, verglichen damit, wie lange ich geredet habe. Was war es denn?» «Du hast angedeutet, dass ich in der Lage sei, die falschen Leute mit meiner Blockflöte zu beeindrucken – hast du das ernst gemeint?» «Nun, es ist eine Möglichkeit, nicht wahr? Die richtigen Leute sind nicht wichtig. Aber die falschen – nun, du musst etwas herausfinden, oder? Du musst in die Sache eindringen. So wie eine Totenuhr, ein Klopfkäfer», sagte sie nachdenklich. «Also sollte ich bedeutsame Geräusche in der Nacht erzeugen?» «Ja, so etwas in der Art, ja. Wir hatten hier einmal eine Totenuhr, im Ostflügel. Es war sehr kostspielig, sie wiederherzurichten. Ich bin sicher, es wird auch sehr teuer, die Welt wieder in Ordnung zu bringen.» «In der Tat, sehr viel kostspieliger», erwiderte Stafford Nye. «Das macht nichts», antwortete Lady Matilda. «Es stört die Leute nichts, viel Geld auszugeben. Das beeindruckt sie. Wenn man etwas sparsam abwickeln will, machen sie nicht mit.» «Was meinst du denn damit?» «Wir sind in der Lage, große Dinge zu tun. Wir waren gut im Regieren des Empire. Wir waren nicht gut darin, das Empire aufrechtzuerhalten. Aber dann brauchten wir ja auch gar kein Empire mehr. Und das haben wir erkannt. Es war schwierig, es in Gang zu halten. Robbie hat mir das klargemacht.» «Robbie?» Das klang einigermaßen vertraut. «Robbie Shoreham. Robert Shoreham. Er ist ein sehr alter Freund. Auf der linken Seite gelähmt. Aber er kann noch sprechen, und er hat ein ziemlich gutes Hörgerät.» «Außerdem ist er einer der berühmtesten Physiker der Welt», fügte Stafford Nye hinzu. «Er ist also noch einer deiner sehr engen alten Freunde, nicht wahr?» «Ich kenne ihn, seit er ein Junge war», erwiderte Lady Matilda. «Ich nehme an, du bist überrascht, dass wir befreundet sind, viel gemeinsam haben und uns gern miteinander unterhalten?» «Nun, ich hätte nicht angenommen, dass –» «Dass wir viel miteinander zu reden hätten? Sicher, mit Mathematik konnte ich nie etwas anfangen. Glücklicherweise habe ich es als Mädchen auch nie versucht. Robbie fiel die Mathematik leicht, schon als er, glaube ich, vier Jahre alt war. Heute sagen sie, das sei ganz natürlich. Er kann über vieles reden. Er hat mich immer gemocht, weil ich leichtsinnig war und ihn zum Lachen brachte. Ich bin auch eine gute Zuhörerin. Und er erzählt manchmal wirklich interessante Dinge.» «Das nehme ich an», sagte Stafford Nye trocken. «Nun sei nicht hochnäsig. Molière hat seine Haushälterin geheiratet, nicht wahr, und machte einen großen Erfolg daraus – wenn ich wirklich Molière meine. Wenn ein Mann es vor lauter Verstand nicht mehr aushalten kann, möchte er wirklich nicht auch noch eine Frau mit unerträglichem Verstand, um mit ihr zu reden. Das wäre zu anstrengend. Er wünscht sich viel lieber ein hübsches Dummchen, das ihn zum Lachen bringt. Ich sah nicht schlecht aus, als ich jung war», sagte Lady Matilda selbstzufrieden. «Ich weiß, ich hatte keinerlei akademische Auszeichnungen. Ich bin überhaupt nicht intellektuell. Aber Robert hat immer gesagt, ich hätte eine große Portion gesunden Menschenverstand und Intelligenz.» «Du bist eine ganz reizende Person», befand Sir Stafford Nye. «Ich freue mich immer, dich zu besuchen. Und wenn ich abreise, werde ich mich an all die Dinge erinnern, die du mir gesagt hast. Es gibt sicher noch viel mehr Dinge, die du mir erzählen könntest, aber das wirst du offensichtlich nicht tun.» «Nicht, bis der rechte Augenblick gekommen ist», antwortete Lady Matilda. «Aber mir liegt dein Interesse am Herzen. Lass mich von Zeit zu Zeit wissen, was du so treibst. Du wirst nächste Woche in die Amerikanische Botschaft zum Dinner gehen, nicht wahr?» «Woher weißt du das? Ja, ich bin eingeladen.» «Und du hast die Einladung angenommen, nehme ich an.» «Nun, es ist alles im dienstlichen Rahmen.» Er sah sie neugierig an. «Wie schaffst du es, so gut informiert zu sein?» «Oh, Milly hat es mir erzählt.» «Milly?» «Milly Jean Cortman. Die Frau des amerikanischen Botschafters. Ein sehr attraktives Geschöpf. Klein und ziemlich perfekt aussehend.» «Ach, du meinst Mildred Cortman.» «Mildred wurde sie getauft, aber sie bevorzugt Milly Jean. Ich habe mit ihr telefoniert wegen irgendeiner Wohltätigkeitsmatinee. Sie ist das, was wir früher eine Venus im Taschenformat nannten.» «Eine sehr attraktive Bezeichnung», grinste Stafford Nye. Kapitel 8 Ein Dinner in der Botschaft I Als Mrs. Cortman mit ausgestreckter Hand auf ihn zukam, erinnerte sich Stafford Nye an die Beschreibung, die seine Tante ihm von ihr gegeben hatte. Milly Jean Cortman war eine Frau zwischen fünfunddreißig und vierzig. Sie hatte zarte Gesichtszüge, große blaugraue Augen, einen perfekt geformten Kopf mit bläulich grauem Haar, ein besonders attraktiver Farbton, der ihr eine makellose Eleganz verlieh. Mrs. Cortman war in London sehr beliebt. Ihr Gatte Sam Cortman war ein großer, schwerer, etwas schwerfälliger Mann. Er war sehr stolz auf seine Frau. Er selbst war einer jener langsamen, übermäßig eindringlichen Redner. Die Leute schweiften gelegentlich in Gedanken ab, wenn er einen Punkt sehr ausführlich erläuterte, der eigentlich keiner Erklärung bedurfte. Er begrüßte ihn: «Sie sind aus Malaysia zurück, Sir Stafford? Es muss interessant dort gewesen sein, auch wenn es nicht die Jahreszeit ist, die ich mir ausgesucht hätte. Wir sind alle sehr froh, Sie wieder hier zu haben. Sie kennen Lady Aldborough und Sir John und Herrn von Roken, Frau von Roken, Mr. und Mrs. Staggenham.» Alles Leute, die Stafford Nye mehr oder weniger bekannt waren. Es gab einen Holländer und seine Frau, die er noch nicht kannte, sie hatten gerade erst ihren Posten angetreten. Die Staggenhams waren der Minister für Sozialversicherung und seine Frau. Er hatte sie schon immer für ein besonders uninteressantes Paar gehalten. «Und Gräfin Renata Zerkowski. Ich glaube, sie sagte, sie seien sich früher schon einmal begegnet.» «Es muss vor etwa einem Jahr gewesen sein. Als ich das letzte Mal in England war», sagte die Gräfin. Und da war sie wieder, die Passagierin aus Frankfurt. Selbstsicher, wie selbstverständlich, wunderschön gekleidet in zartem Graublau mit ein wenig Chinchilla. Ihr Haar trug sie hoch aufgetürmt (eine Perücke?), ein Rubinkreuz in antikem Design um den Hals. «Signor Gasparo, Graf Reitner, Mr. und Mrs. Arbuthnot». Es waren alles in allem etwa sechsundzwanzig Leute. Beim Dinner saß Stafford Nye zwischen der uninteressanten Mrs. Staggenham und Signora Gasparo. Renata Zerkowski saß ihm direkt gegenüber. Ein Botschaftsdinner. Ein Dinner, wie er sie oft besuchte, meist mit genau der gleichen Art von Gästen. Verschiedene Mitglieder des Diplomatischen Korps, Junior-Minister, ein oder zwei Industrielle, üblicherweise ein paar Damen und Herren der feinen Gesellschaft, weil sie gut Konversation machen konnten, natürliche, angenehme Leute. Obwohl – ein oder zwei waren vielleicht anders, dachte Stafford Nye, während er sich mit Signora Gasparo unterhielt, einer charmanten Gesprächspartnerin, einer etwas koketten Plaudertasche. Seine Gedanken wanderten umher, seine Augen auch, aber sehr unauffällig. Während sie über den Tisch glitten, hätte keiner sagen können, er zöge in Gedanken irgendwelche Schlüsse. Er war hierher eingeladen worden. Warum? Gab es einen bestimmten Grund? War sein Name einfach auf der Liste aufgetaucht, die die Sekretärinnen von Zeit zu Zeit erstellten und auf der sie die Namen markierten, die wieder an der Reihe waren? Oder war er der Ersatzmann, der dazu da war, die Sitzordnung auszugleichen? Er war immer gefragt, wenn ein Ersatzmann benötigt wurde. «Ach ja», pflegte eine Diplomaten-Gastgeberin zu sagen, «Stafford Nye eignet sich hervorragend. Setzen wir ihn neben Madam Soundso oder Lady Sonstwer.» Vielleicht war er nur aus diesem Grund eingeladen worden. Und doch war er sich nicht sicher. Er wusste aus Erfahrung, dass es auch andere Gründe gab. So waren seine Augen mit eiliger Unverbindlichkeit, den Anschein wahrend, dass sie nichts Besonderes wahrnahmen, immer in Bewegung. Vielleicht war einer der Gäste aus einem bestimmten Grund bedeutsam. Jemand, der geladen war – nicht als Ersatz – im Gegenteil, jemand, der eine Auswahl von Gästen einladen ließ, die in seinen – oder ihren – Kreis passten. Er fragte sich, wer es sein könnte. Cortman wusste natürlich Bescheid. Vielleicht auch Milly Jean. Bei Ehefrauen wusste man nie. Manche waren bessere Diplomaten als ihre Ehemänner. Auf manche konnte man sich verlassen wegen ihres Charmes, ihrer Anpassungsfähigkeit, dem Bestreben zu gefallen und ihres Mangels an Neugier. Andere wieder, dachte er reumütig, waren für ihre Ehemänner eine Katastrophe. Es gab Gastgeberinnen, die, auch wenn sie Prestige oder Geld eingebracht hatten oder eine diplomatische Heirat gewesen waren, jederzeit in der Lage waren, das Falsche zu tun oder zu sagen und unglückliche Situationen herbeizuführen. Wollte man sich davor schützen, so benötigte man einen Gast oder besser mehrere Gäste, die sozusagen als professionelle Wogenglätter fungierten. War diese Dinnerparty heute Abend noch etwas anderes als ein gesellschaftliches Ereignis? Sein geübtes, aufmerksames Auge hatte bereits den ganzen Tisch erfasst und ein oder zwei Leute herausgepickt, die er noch nicht ganz einschätzen konnte. Einen amerikanischen Geschäftsmann. Angenehm, gesellschaftlich allerdings nicht brillant. Ein Professor an einer der Universitäten im Mittelwesten. Ein Ehepaar, der Mann Deutscher, die Frau auffallend, nahezu aggressiv amerikanisch. Eine sehr schöne Frau. Sexuell höchst anziehend, dachte Sir Stafford. War einer von ihnen wichtig? Buchstabenkombinationen gingen ihm durch den Kopf. FBI. CIA. Der Geschäftsmann war vielleicht von der CIA und aus einem bestimmten Grund hier. So lagen die Dinge heute. Es war nicht wie früher. Wie hieß das Schlagwort? «Big Brother is watching you» – der Große Bruder beobachtet dich. Ja, heute ging es sogar noch weiter. «Der Transatlantische Cousin beobachtet dich.» Aber das war auch nur ein weiteres Schlagwort. Die Hochfinanz von Mitteleuropa beobachtet dich. Hier wurde die diplomatische Schwierigkeit verlangt, du sollst ihn beobachten. Ach ja. Heute steckte meist mehr hinter den Dingen. Aber war das auch nur ein Schlagwort, eine Formel, eine neue Mode? Sollte es wirklich mehr bedeuten, etwas Lebenswichtiges, Reales? Wie sprach man heute überhaupt über die Ereignisse in Europa? Der Gemeinsame Markt. Nun, das war schon in Ordnung, da ging es um Handel, um die Wirtschaft, die Beziehungen der Länder untereinander. Das war die Bühne, auf der man agieren musste; aber was befand sich hinter der Bühne, backstage? Warten auf das Stichwort. Bereit sein zu soufflieren, wenn es nötig war. Was war los in der großen Welt, was geschah im Hintergrund? Er war sich nicht sicher. Manches war ihm bekannt, anderes erriet er. Über einige Dinge weiß ich gar nichts, dachte er, und keiner will, dass ich etwas erfahre. Seine Augen verweilten einen Augenblick auf seinem Gegenüber. Sie trug das Kinn erhoben, ihr Mund war sanft zu einem höflichen Lächeln verzogen. Ihre Augen trafen sich. Diese Augen sagten ihm gar nichts, das Lächeln ebenso wenig. Was tat sie hier? Sie war ganz in ihrem Element, sie passte hierher, kannte diese Welt. Ja, sie fühlte sich hier zu Hause. Er könnte ohne große Schwierigkeiten herausfinden, wo in der diplomatischen Welt sie einzuordnen war, dachte er. Aber würde ihm das verraten, wo ihr wirklicher Platz war? Die junge Frau in Hosen, die ihn in Frankfurt so unvermittelt angesprochen hatte, sie hatte ein eifriges, intelligentes Gesicht. War das die wirkliche Frau, oder spielte sie nur eine Rolle? Und wenn ja, welche? Da könnte es auch noch mehr als nur diese beiden Persönlichkeiten geben. Das wollte er herausfinden. Oder war die Tatsache, dass sie ihn um ein Treffen gebeten hatte, ohne Bedeutung? Milly Jean erhob sich. Die anderen Damen taten es ihr nach. Dann gab es plötzlich unerwarteten Lärm. Einen Lärm von außerhalb des Hauses. Rufe. Geschrei. Das Krachen von splitterndem Fensterglas. Rufe. Geräusche – sicherlich Pistolenschüsse. Signora Gasparo klammerte sich an Staffords Arm. «Was, schon wieder?», rief sie aus. «Dio! Wieder diese furchtbaren Studenten. Genau wie bei uns. Warum greifen sie die Botschaften an? Sie kämpfen, setzen sich gegen die Polizei zur Wehr – demonstrieren und skandieren idiotische Sprüche und legen sich auf die Straße. Si, si. Wir haben sie in Rom – in Mailand – wir haben sie überall in Europa, wie eine Pest. Warum sind sie niemals zufrieden, diese jungen Leute, was wollen Sie nur?» Stafford nippte an seinem Cognac und lauschte dem schwerfälligen Tonfall von Mr. Charles Staggenham, der wieder einmal endlos dozierte. Die Aufregung hatte sich gelegt. Anscheinend hatte die Polizei ein paar Hitzköpfe abgeführt. Es war einer dieser Vorfälle, die man früher für außergewöhnlich gehalten hätte, heute aber als selbstverständlich hinnahm… «Ein großes Polizeiaufgebot. Das brauchen wir. Es ist einfach zu viel für die Leute. Es soll überall dasselbe sein. Hier gibt es Unruhen, aber bei den Franzosen auch. In den skandinavischen Ländern sind sie nicht so häufig. Was wollen die alle bloß – einfach nur Aufruhr? Ich sage Ihnen, wenn es nach mir ginge – » Stafford Nyes Gedanken schweiften ab. Er gab jedoch vor, Charles Staggenham hingebungsvoll zuzuhören, der gerade erklärte, was genau er tun würde – das hätte man ohnehin von ihm erwartet. «Sie schreien wegen Vietnam und so was. Was wissen die denn überhaupt von Vietnam? Sie sind doch nie da gewesen, oder?» «Das ist sehr wahrscheinlich», sagte Sir Stafford Nye. «Jemand hat mir vorhin erzählt, dass es eine Menge Unruhen in Kalifornien gegeben hat. An den Universitäten – wenn wir eine vernünftige Strategie hätten…» Dann gingen die Herren hinüber zu den Damen in den Salon. Stafford Nye bewegte sich mit einer Lässigkeit, die er immer sehr hilfreich fand, und setzte sich zu einer gesprächigen Dame mit goldenem Haar, die ihm nur flüchtig bekannt war. Man konnte sicher sein, dass sie kaum etwas Interessantes von sich gab, jedoch über die Menschen in ihrem Bekanntenkreis äußerst genau informiert war. Stafford Nye stellte keine direkten Fragen. Aber ohne dass die Dame auch nur im Entferntesten bemerkte, wie er den Gesprächsgegenstand ansteuerte, hörte er prompt einige Äußerungen über die Gräfin Renata Zerkowski. «Sie sieht immer noch fantastisch aus, nicht wahr? Heutzutage kommt sie nicht mehr oft hierher. Sie ist meist in New York, wissen Sie, oder auf dieser wundervollen Insel. Nicht Minorca. Irgendeine andere im Mittelmeer. Ihre Schwester ist mit diesem Seifenkönig verheiratet, ich glaube, es ist ein Seifenkönig. Nicht der griechische. Er ist Schwede, glaube ich. Schwimmt nur so im Geld. Dann verbringt sie natürlich viel Zeit auf diesem Schloss in den Dolomiten – oder bei München –, sie war immer sehr musikalisch. Sie sagt, Sie seien sich früher schon einmal begegnet?» «Ja, ich glaube, vor ein oder zwei Jahren.» «Ach ja, ich nehme an, als sie das letzte Mal in England war. Es heißt, sie sei in diese Tschechoslowakei-Sache verwickelt gewesen. Oder waren es die polnischen Unruhen? Oh je, es ist alles so kompliziert, nicht wahr? Ich meine, all diese Namen. Sie haben so viele Z und K. Sehr ungewöhnlich und so schwer zu buchstabieren. Sie ist literarisch sehr gebildet. Macht Unterschriftensammlungen, um Schriftstellern hier Asyl zu gewähren, irgend so etwas. Nicht dass das irgendjemanden interessieren würde. Alle sind doch heutzutage nur damit beschäftigt, wie sie ihre eigenen Steuern bezahlen sollen. Der Reisefreibetrag bringt schon etwas, aber nicht sehr viel. Ich meine, man muss das Geld doch erst einmal haben, um es dann ins Ausland bringen zu können. Ich weiß gar nicht, wie die Leute es überhaupt schaffen, heutzutage an Geld zu kommen, aber es ist reichlich im Umlauf. Sehr reichlich sogar.» Sie betrachtete selbstgefällig ihre Hand, an der zwei große Solitäre, ein Diamant und ein Smaragd prangten, der beste Beweis, das zumindest auf sie ein beachtlicher Geldbetrag verwendet worden war. Der Abend neigte sich dem Ende zu. Er wusste nicht viel mehr als vorher über die Passagierin aus Frankfurt. Er kannte ihre Fassade, eine anscheinend sehr facettenreiche Fassade, um diese Alliteration zu verwenden. Sie interessierte sich für Musik. Nun, er hatte sie ja auch in der Festival Hall getroffen. Sie liebte Sport. Sie hatte reiche Verwandte, denen Inseln im Mittelmeer gehörten. Sie unterstützte literarische Wohltätigkeitsinstitutionen. Also war sie jemand mit guten Verbindungen und verwandtschaftlichen Beziehungen, mit Zugang zur besten Gesellschaft. Sie war nicht auffällig politisch, aber vielleicht insgeheim einer bestimmten Gruppe verbunden. Jemand, der sich von Ort zu Ort bewegte und von Land zu Land. Unter den Reichen, den Talentierten, in der literarischen Welt. Einen Augenblick lang dachte er an Spionage. Das schien die wahrscheinlichste Erklärung. Und doch war er damit nicht ganz zufrieden. Der Abend zog sich hin. Dann war endlich auch er an der Reihe, von seiner Gastgeberin mit Aufmerksamkeit bedacht zu werden. Milly Jean war sehr geschickt darin. «Ich habe schon die ganze Zeit versucht, mit Ihnen zu plaudern. Ich möchte so gern etwas über Malaysia hören. Ich weiß leider so wenig über all diese Orte in Asien, ich bringe sie immer durcheinander. Erzählen Sie, was ist da draußen passiert? Irgendetwas Interessantes oder war es schrecklich langweilig?» «Die Antwort darauf können Sie bestimmt erraten.» «Na ja, ich schätze, es war furchtbar langweilig. Aber vielleicht dürfen Sie das nicht sagen.» «Oh ja. Ich darf es denken und auch sagen. Es war wirklich nicht interessant für mich.» «Warum sind Sie dann überhaupt dort hingeflogen?» «Ach, ich reise ganz gern. Ich sehe mir gern andere Länder an.» «Sie sind ein wirklich faszinierender Mensch. Natürlich ist das Diplomatenleben extrem langweilig, oder? Ich dürfte das natürlich gar nicht sagen. Ich sage es auch nur Ihnen.» Sie hatte sehr blaue Augen. Blau wie die Glockenblumen im Wald. Sie öffnete sie noch wenig weiter, die schwarzen Brauen senkten sich sanft an der Außenseite und wurden innen ein wenig hochgezogen. Es ließ ihr Gesicht wie das einer schönen Perserkatze erscheinen. Er fragte sich, wie Milly Jean wohl in Wirklichkeit war. Ihre sanfte Stimme war die einer Südstaatlerin. Der wohlgeformte kleine Kopf, das vollkommene Profil – wie war sie in Wirklichkeit? Bestimmt nicht dumm, dachte er. Eine, die ihre gesellschaftlichen Waffen einzusetzen wusste, wenn es nötig war. Die bezaubern konnte, wenn sie wollte, oder sich zurückziehen konnte, bis ins Rätselhafte. Wenn sie etwas Bestimmtes erreichen wollte, so würde sie das geschickt in die Tat umsetzen. Er bemerkte die Intensität des Blickes, den sie ihm schenkte. Wollte sie etwas von ihm? Er wusste es nicht. Er hielt es für kaum wahrscheinlich. Sie fragte: «Kennen Sie Mr. Staggenham?» «Oh ja. Ich habe bei Tisch mit ihm gesprochen. Ich bin ihm jedoch vorher noch nie begegnet.» «Es heißt, er sei sehr bedeutend», sagte Millie Jean. «Wie Sie wissen, ist er der Präsident von PBF.» «Eigentlich sollte man solche Dinge wissen», sagte Sir Stafford Nye. «PBF und DCV. LYH. Die Welt der Abkürzungen.» «Furchtbar», sagte Millie Jean. «All diese Abkürzungen, keine Persönlichkeiten, keine Menschen mehr. Nur Initialen. Eine furchtbare Welt! Ich wollte, sie wäre anders, ganz, ganz anders –» Meinte sie das ehrlich? Einen Augenblick dachte er, sie meine es ernst. Interessant… II Am Grosvernor Square herrschte wieder Ruhe. Reste von zerbrochenem Glas lagen noch auf dem Pflaster, sogar Eier, matschige Tomaten und Fragmente von glänzendem Metall. Aber darüber standen still die Sterne. Wagen um Wagen fuhr vor der Botschaft vor, um die heimkehrenden Gäste abzuholen. Die Polizei stand unauffällig an den Ecken des Platzes. Alles war unter Kontrolle. Einer der Gäste aus der Politik sprach beim Weggehen mit einem Polizeioffizier. Er kam zurück und murmelte: «Es gab nicht sehr viele Festnahmen. Acht. Sie werden morgen früh im Präsidium in der Bow Street vorgeführt. Mehr oder weniger die übliche Bande. Petronella war hier, natürlich, und Stephen und sein Verein. Na ja. Man sollte annehmen, sie hätten eines Tages genug davon.» «Sie wohnen nicht weit von hier, nicht wahr?» Die Stimme drang sofort in Sir Staffords Ohr. Eine tiefe Altstimme. «Ich kann Sie ein Stück mitnehmen.» «Nein, nein, ich kann sehr gut zu Fuß gehen. Es sind nur etwa zehn Minuten.» «Ich versichere Ihnen, es macht mir keine Umstände», sagte Gräfin Zerkowski. Sie fügte hinzu: «Ich bin im St.-James’s-Tower abgestiegen.» Das St.-James’s-Tower war eines der neueren Hotels. «Sie sind sehr freundlich.» Ein großer, kostspielig aussehender Mietwagen erwartete sie. Der Chauffeur öffnete die Tür, Gräfin Zerkowski stieg ein, und Sir Stafford Nye folgte ihr. Sie war es, die dem Chauffeur Sir Stafford Nyes Adresse nannte. Der Wagen fuhr an. «Sie wissen also, wo ich wohne?», fragte er. «Warum nicht?» Er fragte sich, was diese Antwort zu bedeuten habe: Warum nicht? «Wirklich – warum nicht?», sagte er. «Sie wissen so vieles, nicht wahr?» Er fügte hinzu: «Es war nett von Ihnen, mir meinen Pass zurückzugeben.» «Ich dachte, es würde Ihnen einige Unannehmlichkeiten ersparen. Es ist vielleicht einfacher, wenn Sie ihn verbrennen. Ich nehme an, Sie haben bereits einen neuen erhalten – » «Da haben sie recht.» «Ihren Räuberumhang finden Sie in Ihrer untersten Kommodenschublade. Er wurde dort heute Abend deponiert. Ich dachte, Sie würden sich nicht gern einen neuen kaufen, höchstwahrscheinlich ist es auch unmöglich, ein ähnliches Stück aufzutreiben.» «Er bedeutet mir jetzt viel mehr als früher, da er durch gewisse – Abenteuer gegangen ist», sagte Stafford Nye. Er fügte hinzu: «Er hat seinen Zweck erfüllt.» Der Wagen surrte durch die Nacht. Gräfin Zerkowski sagte: «Ja, er hat seinen Zweck erfüllt, da ich nun hier bin – und noch am Leben…» Sir Stafford Nye erwiderte nichts. Er hatte das Gefühl, dass sie wünschte, er solle ihr Fragen stellen, sie bedrängen; dass er mehr über ihre weiteren Taten erfahren sollte und welchem Schicksal sie entgangen war. Er sollte Neugier zeigen. Es bereitete ihm Vergnügen, nichts dergleichen zu tun. Er hörte sie sanft lachen. Überrascht stellte er fest, dass es ein vergnügtes, zufriedenes Lachen war, keines, das ihn in die Enge trieb. «Haben Sie den Abend genossen?», fragte sie. «Eine ganz gute Party, finde ich, aber Millie Jean gibt immer gute Partys.» «Sie kennen sie also gut?» «Ich kannte sie schon als junges Mädchen in New York, bevor sie geheiratet hat. Eine Venus im Taschenformat.» Sie sah ihn leicht überrascht an. «Ist das Ihre Beschreibung für sie?» «Eigentlich nicht meine. Eine ältere Verwandte hat sie mir so beschrieben.» «Ja. Diese Beschreibung für eine Frau hört man heutzutage nur noch selten. Es trifft es sehr gut, finde ich. Nur –» «Nur was?» «Venus ist verführerisch, oder? Ist sie auch ehrgeizig?» «Sie glauben, Millie Jean Cortman ist ehrgeizig?» «Oh ja. Das vor allem.» «Und Sie glauben, die Gattin des Botschafters am Hof von St. James zu sein reicht nicht aus, um diesen Ehrgeiz zu befriedigen?» «Oh nein», sagte die Gräfin. «Das ist nur der Anfang.» Er antwortete nicht, sondern sah zum Wagenfenster hinaus. Dann setzte er zum Sprechen an, hielt sich aber doch zurück. Er bemerkte ihren raschen Blick, aber sie blieb ebenfalls stumm. Erst als sie eine Brücke über die Themse überquerten, sagte er: «Also fahren Sie mich nicht nach Hause und Sie fahren auch nicht zum St.-James’s-Tower. Wir fahren über die Themse. Wir haben uns schon einmal dort getroffen und sind über eine Brücke gegangen. Wo bringen Sie mich hin?» «Haben Sie etwas dagegen?» «Ich glaube schon.» «Ja. Das merke ich.» «Nun, Sie liegen damit voll im Trend. Entführung ist in Mode heutzutage, nicht wahr? Sie haben mich entführt. Warum?» «Weil ich Sie noch einmal brauche.» Dann fügte sie hinzu. «Und auch andere brauchen Sie.» «Wirklich.» «Und das gefällt Ihnen nicht.» «Es würde mir besser gefallen, wenn ich gefragt würde.» «Wenn ich Sie gefragt hätte, wären Sie dann mitgekommen?» «Vielleicht, vielleicht auch nicht.» «Es tut mir leid.» «Das bezweifle ich.» Sie fuhren weiter stumm durch die Nacht. Es war keine Fahrt durch einsame Landstriche, sie befanden sich auf einer Hauptstraße. Ab und an erschien im Scheinwerferlicht ein Name oder ein Verkehrsschild, sodass Stafford Nye genau erkennen konnte, wo ihre Route entlangführte. Durch Surrey und dann durch die ersten Wohnbezirke von Sussex. Ab und zu nahmen sie eine kleine Abzweigung oder eine Seitenstraße, die nicht an der Hauptstraße lag, aber auch dessen war er sich nicht ganz sicher. Fast fragte er seine Begleiterin, ob sie vielleicht verfolgt wurden. Aber er hatte sich fest für seine Politik des Schweigens entschieden. Sie musste sprechen und ihm die Informationen geben. Er fand sie nach wie vor, trotz der zusätzlichen Informationen, von rätselhaftem Charakter. Sie fuhren nach einer Dinnerparty aufs Land. Sie befanden sich, dessen war er ziemlich sicher, in einem recht kostspieligen Mietwagen. Es war alles geplant, durchdacht, nichts Zweifelhaftes oder Unerwartetes war daran. Er nahm an, er würde bald herausfinden, wohin sie fuhren. Es sei denn, sie fuhren bis an die Küste. Das war immerhin möglich, dachte er. «Haslemere» las er auf einem Verkehrsschild. Nun fuhren sie an Godalming vorbei. Alles ganz offen und regulär. Die reichste Gegend der betuchten Vorstädte. Herrliche Wälder, schöne Häuser. Sie nahmen mehrere Abzweigungen und schienen dann, als der Wagen endlich langsamer fuhr, ihren Bestimmungsort zu erreichen. Sie fuhren durch ein Tor. Ein kleines weißes Torhaus stand daneben. Eine Einfahrt hinauf, gepflegte Rhododendren zu beiden Seiten. Dann fuhren sie um eine Kurve und hielten vor einem Haus. «Börsenmakler-Tudor», murmelte Sir Stafford Nye leise. Seine Begleiterin drehte fragend den Kopf. «Nur eine kleine Bemerkung», sagte Stafford Nye. «Hören Sie einfach nicht hin. Ich nehme an, wir sind an dem von Ihnen gewählten Bestimmungsort angekommen?» «Und der Anblick gefällt Ihnen nicht besonders.» «Das Grundstück wirkt sehr gepflegt», sagte Sir Stafford und folgte mit den Augen dem Strahl der Scheinwerfer, als der Wagen um die Kurve fuhr. «Es kostet einiges an Geld, so einen Besitz in Gang und in Ordnung zu halten. Ich würde sagen, es ist ein sehr komfortables Haus.» «Komfortabel, aber nicht schön. Der Mann, der hier lebt, legt wohl mehr Wert auf Komfort als auf Schönheit.» «Das ist sicher gut so», sagte Sir Stafford, «und doch scheint er Schönheit auf seine Weise zu schätzen, eine gewisse Schönheit.» Sie fuhren vor der hell erleuchteten Veranda vor. Sir Stafford stieg aus und streckte den Arm aus, um seiner Begleiterin herauszuhelfen. Der Chauffeur war die Stufen hinaufgestiegen und drückte auf die Klingel. Er sah die Dame fragend an, als sie die Stufen hochging. «Sie benötigen mich heute Abend nicht mehr, gnädige Frau?» «Nein, das ist alles für den Augenblick. Wir telefonieren morgen früh.» «Gute Nacht. Gute Nacht, Sir.» Drinnen ertönten Schritte, und die Tür wurde weit geöffnet. Sir Stafford hatte eine Art Butler erwartet, stattdessen stand dort ein Dragoner von einem Hausmädchen. Grauhaarig, mit zusammengepressten Lippen, ungemein zuverlässig, dachte er. Ein unschätzbares Juwel, so jemand war schwer zu finden heutzutage. Vertrauenswürdig, aber grimmig. «Ich fürchte, wir sind etwas spät dran», sagte Renata. «Der Herr ist in der Bibliothek. Er hat gebeten, dass Sie und der Gentleman ihn dort nach Ihrer Ankunft aufsuchen.» Kapitel 9 Das Haus bei Godalming Sie führte sie die breite Treppe hinauf und beide folgten ihr. Ja, dachte Stafford Nye, ein sehr komfortables Haus. Tapeten aus der Zeit Jakobs des Ersten, eine äußerst hässliche geschnitzte Eichentreppe, aber angenehm flache Stufen. Gut ausgewählte Bilder, jedoch kaum von großem künstlerischen Interesse. Das Haus eines reichen Mannes, dachte er. Ein Mann nicht mit schlechtem, aber eher konventionellem Geschmack. Guter Teppich mit dickem Flor, von angenehmer Pflaumenfarbe. Im ersten Stock ging das Dragoner-Hausmädchen auf die erste Tür zu. Sie öffnete und trat zurück, um sie einzulassen, nannte aber keine Namen. Die Gräfin trat zuerst ein, Sir Stafford Nye folgte. Er hörte, wie sich die Tür schnell hinter ihm schloss. Vier Leute befanden sich im Raum. Hinter einem großen Schreibtisch, ganz von Papieren und Dokumenten bedeckt – ein oder zwei ausgebreitete Landkarten und andere Papiere, die wahrscheinlich der Diskussionsgegenstand waren –, saß ein großer, dicker Mann mit einem sehr gelben Gesicht. Das Gesicht war Sir Stafford bekannt, obwohl ihm in diesem Augenblick nicht der richtige Name einfiel. Er hatte den Mann nur flüchtig, aber bei einem sehr wichtigen Anlass getroffen. Er sollte es wissen, definitiv sollte er es wissen. Aber warum fiel ihm der Name nicht ein? Mit einiger Mühe kämpfte sich die Gestalt hinter dem Schreibtisch auf die Füße. Er ergriff die ausgestreckte Hand von Gräfin Zerkowski. «Sie sind da», sagte er, «wunderbar.» «Ja. Lassen Sie mich vorstellen, aber ich glaube, Sie kennen sich schon. Sir Stafford Nye, Mr. Robinson.» Natürlich. In Sir Stafford Nyes Kopf klickte es wie in einer Kamera. Das passte auch zu einem anderen Namen. Pikeaway. Die Behauptung, er wisse alles über Mr. Robinson, entspräche nicht der Wahrheit. Er wusste all das über Mr. Robinson, was dieser zu wissen erlaubte. Sein Name war Robinson, soweit bekannt war, doch es hätte auch jeder andere Name ausländischen Ursprungs sein können. Aber nie hatte jemand etwas Derartiges angedeutet. Jetzt erinnerte er sich auch an sein Aussehen. Die hohe Stirn, die melancholischen dunklen Augen, der volle Mund und die eindrucksvollen weißen Zähne – falsche Zähne, wahrscheinlich, jedenfalls aber Zähne, von denen man wie bei Rotkäppchen sagen konnte: «Damit ich dich besser fressen kann.» Er wusste auch, wofür Mr. Robinson stand. Ein einfaches Wort genügte. Mr. Robinson repräsentierte Geld, Kapital – mit einem sehr großen K. Kapital in jeder Hinsicht, internationales Kapital, weltweites Kapital, Haus-Finanzierungen, Bankgewerbe. Geld nicht in der Weise, wie der Normalbürger es betrachtete. Man dachte nicht an ihn als einen reichen Mann; zweifellos war er ein sehr reicher Mann, aber das war nicht das Ausschlaggebende. Er war einer der Kapital-Jongleure, einer aus dem Clan der Groß-Bankiers. Seine persönlichen Bedürfnisse waren vielleicht sogar bescheiden, doch Sir Stafford Nye bezweifelte das. Ein hohes Maß an Komfort, ja Luxus entsprach wohl eher Mr. Robinsons Lebensstil. Aber nicht mehr als das. Also steckte hinter seinen mysteriösen Geschäften die Macht des Geldes. «Ich habe gerade von Ihnen gehört, vor ein oder zwei Tagen», sagte Mr. Robinson, als er seine Hand schüttelte, «von unserem Freund Pikeaway.» Das passt, dachte Sir Stafford Nye. Er erinnerte sich jetzt, dass bei dem einzigen Anlass, bei dem er Mr. Robinson begegnet war, auch Mr. Pikeaway anwesend war. Er erinnerte sich, dass Horsham von Robinson gesprochen hatte. So waren da nun Mary Ann (oder Gräfin Zerkowski?), Oberst Pikeaway in seinem rauchgeschwängerten Zimmer mit halb geschlossenen Augen, entweder gerade beim Einschlafen oder beim Aufwachen, und da war Mr. Robinson mit seinem großen, gelben Gesicht. Also ging es irgendwie um Geld. Sein Blick glitt zu den übrigen drei Personen im Raum. Er wollte sehen, ob er erraten könne, wer sie waren und was sie repräsentierten. In zwei Fällen brauchte er nicht einmal zu raten. 3er Mann in dem hohen Porter-Sessel am Kamin, eine ältliche Gestalt, eingerahmt von dem Stuhl wie von einen Bilderrahmen, war früher in ganz England bekannt. Es war es immer noch, obwohl es in diesen Tagen nur selten zu sehen war. Ein kranker Mann, ein Invalide, der nur sehr kurze Auftritte hatte und die, so hörte man, nur unter großen körperlichen Beschwerden. Lord Altamount. Er hatte ein schmales, ausgemergeltes Gesicht mit hervorstechender Nase, grauem Haar, das nur wenig von der Stirn zurückwich und dann in einer dichten grauen Mähne nach hinten wallte; mit übergroßen Ohren, seinerzeit markant für die Karikaturisten, und einem tiefen durchdringenden Blick, eher forschend als beobachtend. Dieser Blick sondierte eingehend, was in sein Blickfeld geriet. Im Augenblick sah er Sir Stafford Nye an. Er streckte die Hand aus, als Stafford Nye auf ihn zutrat. «Ich stehe nicht auf», sagte Lord Altamount. Seine Stimme war schwach, eine Altmännerstimme, weit weg. «Mein Rücken lässt das nicht zu. Sie sind gerade aus Malaysia zurückgekommen, Stafford Nye, nicht wahr?» «Ja.» «Hat es sich überhaupt gelohnt, dort hinzufahren? Ich nehme an, Sie denken eher nicht. Immerhin, wir brauchen diese gelegentlich ausufernden Veranstaltungen als notwendige ornamentale Garnierung für die feinere Art diplomatischer Lügen. Ich freue mich, dass Sie heute Abend kommen konnten oder hergebracht wurden. Von Mary Ann, nicht wahr?» «So nennt er sie also, und dafür hält er sie», dachte Stafford Nye. So hatte Horsham sie genannt. Sie gehörte also zu ihrem Verein, ohne Zweifel. Was Altamount betraf, so stand er für – wofür stand er eigentlich heute? Stafford Nye dachte sich, er stehe für England. Er stand immer noch für England, bis er in Westminster Abbey begraben wurde oder in einem Mausoleum auf dem Lande, was immer ihm gefiel. Er war England und kannte die Bedeutung jedes einzelnen Politikers und Regierungsbeamten in England ziemlich genau, selbst wenn er nie mit ihnen gesprochen hatte. Lord Altamount sagte: «Dies ist unser Kollege Sir James Kleek.» Stafford Nye kannte Kleek nicht. Er hatte wohl auch noch nie von ihm gehört. Es war ein unruhiger, zappliger Typ. Mit scharfen, misstrauischen Augen, die nie lange irgendwo verweilten. Er hatte die verhaltene Anspannung eines Jagdhundes, der auf einen Befehl wartete. Bereit, auf einen Blick seines Herrn loszulegen. Aber wer war sein Herr? Altamount oder Robinson? Staffords Blick richtete sich auf den vierten Mann. Er hatte sich von dem Stuhl erhoben, auf dem er nahe der Tür gesessen hatte. Er trug einen buschigen Schnurrbart, hatte hochgezogene Brauen, war wachsam, zurückhaltend und brachte es irgendwie fertig, vertraut, aber völlig unauffällig zu wirken. «Sie sind das also», sagte Sir Stafford Nye, «wie geht es Ihnen, Horsham?» «Ich freue mich sehr, Sie zu hier zu sehen, Sir Stafford.» Eine ziemlich repräsentative Versammlung, dachte Stafford Nye mit einem schnellen Blick in die Runde. Sie hatten einen Stuhl für Renata hingestellt, nicht weit vom Feuer und von Lord Altamount. Sie streckte eine Hand aus – die Linke, bemerkt er – und Lord Altamount hatte sie zwischen seine beiden Hände genommen, für einen Augenblick festgehalten und dann losgelassen. Er sagte: «Sie sind ein Risiko eingegangen, mein Kind, Sie gehen zu viele Risiken ein.» Sie sah ihn an und sagte: «Sie waren es, der mich das gelehrt hat, und das ist der einzige Weg im Leben.» Lord Altamount wendete sich in die Richtung von Sir Stafford Nye. «Ich habe Ihnen aber nicht beigebracht, sich den Richtigen auszusuchen, dafür haben Sie ein angeborenes Talent.» Er sah Stafford Nye an und sagte: «Ich kenne Ihre Großtante, oder ist sie Ihre Urgroßtante?» «Großtante Matilda», sagte Stafford sofort. «Ja, die meine ich. Einer dieser viktorianischen Wirbelwinde aus den Neunzigerjahren. Sie muss jetzt selbst fast neunzig sein.» Er fuhr fort: «Ich sehe sie nicht oft. Vielleicht ein- bis zweimal im Jahr. Aber ich bin jedes Mal beeindruckt – diese unverfälschte Vitalität, die ihre körperlichen Kräfte überlebt. Diese unbezähmbaren Gestalten aus der viktorianischen und auch noch aus der nachfolgenden Epoche kennen das Geheimnis.» Sir James Kleek sagte: «Darf ich Ihnen einen Drink besorgen, Nye? Was möchten sie?» «Einen Gin Tonic, wenn es geht.» Die Gräfin lehnte mit einem leichten Kopfschütteln ab. James Kleek brachte Nye seinen Drink und stellte ihn auf den Tisch neben Mr. Robinson. Stafford Nye wollte nicht als Erster sprechen. Die dunklen Augen hinter dem Schreibtisch verloren für einen Augenblick ihre Melancholie. Plötzlich saß der Schalk darin. «Irgendwelche Fragen?», sagte er. «Zu viele», erwiderte Sir Stafford Nye. «Wäre es nicht besser, erst ein paar Erklärungen abzugeben, und anschließend kommen die Fragen?» «Wäre Ihnen das lieber?» «Es würde die Sache vereinfachen.» «Nun, beginnen wir mit ein paar einfachen Tatsachen. Vielleicht wurden Sie, oder auch nicht, eingeladen, hierherzukommen. Wenn nicht, wurmt Sie das vielleicht etwas.» «Er zieht es immer vor, gefragt zu werden», sagte die Gräfin. «Er hat etwas in der Art zu mir gesagt.» «Natürlich», sagte Mr. Robinson. «Ich bin entführt worden», sagte Sir Stafford Nye. «Ich weiß, das ist jetzt Mode. Eine der etwas zeitgemäßeren Methoden.» Er bewahrte einen leicht amüsierten Ton. «Das ergibt natürlich eine Frage Ihrerseits», sagte Mr. Robinson. «Nur ein kleines Wort mit fünf Buchstaben. Warum?» «Richtig. Warum? Ich bewundere Ihre knappe Ausdrucksweise. Dies ist ein privates Komitee – eine Untersuchungskommission. Es geht um eine Untersuchung von weltweiter Bedeutung.» «Klingt interessant», sagte Sir Stafford Nye. «Es ist mehr als nur interessant. Es ist wichtig und brandaktuell. Vier verschiedene Bereiche sind heute in diesem Raum vertreten», sagte Lord Altamount. «Wir repräsentieren verschiedene Gruppen. Ich habe mich aus der aktiven Beteiligung an den Angelegenheiten dieses Landes zurückgezogen, bin aber immer noch beratender Experte. Man hat mich konsultiert und gebeten, diese wichtige Untersuchung über die aktuellen Weltereignisse in diesem speziellen Jahr des Herrn zu leiten, weil in der Tat etwas im Gange ist. James hier hat seine eigene besondere Aufgabe. Er ist meine rechte Hand und auch unser Sprecher. Erkläre bitte Sir Stafford Nye die allgemeine Situation hier, Jamie.» Es schien Sir Stafford Nye, als ob der Flintenhund förmlich zitterte. Endlich! Endlich kann ich anfangen zu reden! Kleek beugte sich in seinem Stuhl etwas nach vorn und begann: «Bei gewissen Weltereignissen muss man nach den Ursachen forschen. Die äußeren Anzeichen sind immer leicht zu erkennen, aber sie sind nicht wichtig, wie unser Vorsitzender – er verbeugte sich vor Lord Altamount – und Mr. Robinson – glauben. Das war schon immer so. Man nehme eine Naturgewalt, einen Wasserfall, der ergibt die Turbinenkraft. Man nehme die Entdeckung von Uran in der Pechblende, das ergibt dann die Atomkraft, von der man vorher nichts gewusst und noch nicht einmal geträumt hat. Als man Kohle und Minerale fand, hatte man Transport, Strom, Energie. Immer sind gewisse Kräfte am Werke, die der Welt bestimmte Dinge bescheren. Aber es steht auch immer jemand dahinter, der alles kontrolliert. Man muss herausfinden, wer diese Mächte kontrolliert, die zunehmend in fast allen Ländern Europas und weiter weg auch in Teilen Asiens an Vormacht gewinnen. Weniger in Afrika, aber auf dem amerikanischen Kontinent, im Norden und auch im Süden. Man muss hinter die Ereignisse blicken und die treibende Kraft erkennen, die sie auslöst. Ein Faktor ist natürlich das Geld, das Kapital.» Er nickte Mr. Robinson zu. «Mr. Robinson hier weiß mehr über Geld und Kapital als irgendjemand sonst auf der Welt, nehme ich an.» Mr. Robinson sagte: «Es ist sehr einfach. Eine große Umwälzung ist im Gange. Es muss Kapital dahinterstecken. Wir müssen herausfinden, woher dieses Kapital kommt. Wer operiert damit? Wo bekommen sie es her? Wo schicken sie es hin? Und warum? Es stimmt schon, was James sagt: Ich weiß eine Menge über Kapital. So viel, wie man heutzutage nur wissen kann.» Kleek fuhr fort: «Es gibt gewisse Trends. Das ist ein oft genutzter Begriff heutzutage. Trends oder Tendenzen – unzählige Bezeichnungen werden verwendet. Sie bedeuten nicht genau dasselbe, aber sie sind miteinander verwandt. Es zeigt sich, sagen wir – eine Tendenz zur Rebellion. Blicken wir in der Geschichte zurück. Es wiederholt sich, wie eine periodische Tabelle, ein Schema. Der Wille zum Aufstand, die Mittel zum Aufstand, die Form, in der die Rebellion auftritt. Es ist nicht länderspezifisch. Gibt es Aufstände in einem Land, ereignen sie sich auch in anderen Ländern, stärker oder schwächer. Das meinen Sie doch, Sir, nicht wahr?» Er drehte sich halb zu Lord Altamount um. «So oder ähnlich haben Sie mir das erklärt.» «Ja, James, sie formulieren die Dinge sehr gut.» Kleek sagte: «Es ist ein Raster, ein Muster, das sich abzeichnet und mehr oder weniger unausweichlich scheint. Es wird deutlich, wenn man darauf stößt. In einer früheren Epoche ergriff das Verlangen nach Kreuzzügen alle Länder. In ganz Europa machten sich die Menschen zu Wasser und zu Lande auf, um das Heilige Land zu befreien. Alles sonnenklar, ein perfektes Muster entschlossenen Verhaltens. Aber warum sind sie gegangen? Das ist das Interessante an der Geschichte. Zu durchschauen, warum diese Wünsche und Verhaltensweisen entstehen. Es hat nicht einmal immer materialistische Ursachen. Alles Mögliche kann eine Rebellion auslösen, der Wunsch nach Freiheit, nach Redefreiheit, Religionsfreiheit – wieder eine Reihe eng miteinander verbundener Begriffe. Es veranlasst die Menschen, in ferne Länder auszuwandern, neue Religionen zu gründen, oft genauso tyrannisch wie die, die sie hinter sich gelassen haben. Wenn man genau genug hinschaut, genug Untersuchungen anstellt, dann erkennt man überall, wie diese und viele andere Muster oder Verhaltensweisen – ich verwende wieder diesen Ausdruck – entstanden sind. Es gleicht manchmal dem Ausbruch einer Viruskrankheit. Das Virus ist übertragbar – in die ganze Welt, über das Meer, in die Berge. Es kommt überallhin und steckt an. Es verbreitet sich offensichtlich wie von selbst, ohne Unterstützung. Aber auch dessen kann man sich heutzutage nicht sicher sein. Es mag Ursachen gegeben haben. Anlässe, die bestimmte Dinge in Gang gebracht haben. Man kann noch einen Schritt weiter gehen. Gewisse Menschen stecken dahinter. Einer – zehn, ein paar hundert, die die Verursacher sein und etwas ins Rollen bringen können. Man muss also nicht den Endprozess im Auge haben. Es sind die Menschen, die am Anfang einer Bewegung stehen. Da sind die Kreuzritter, die religiösen Eiferer, da ist der Wunsch nach Freiheit, die anderen Muster. Man muss noch weiter in die Tiefe gehen. In den Untergrund der Visionen und Träume. Der Prophet Joel wusste das, als er schrieb: ‹Eure alten Männer werden Träume träumen, eure jungen werden Visionen haben.› Wer ist der Stärkere? Träume sind nicht zerstörerisch. Aber Visionen können neue Welten eröffnen – und Visionen können auch die bestehende Welt zerstören…» James Kleek wandte sich plötzlich an Lord Altamount. «Ich weiß nicht, ob es das einen Zusammenhang gibt, aber Sie haben mir einmal eine Geschichte aus der Berliner Botschaft erzählt, von einer Frau.» «Ach das?», sagte Lord Altamount. «Ja. Das fand ich damals interessant. Ja, es steht in Zusammenhang mit dem, wovon wir gerade sprechen. Sie war eine der Gattinnen aus der Botschaft, eine kluge, intelligente Frau, sehr gebildet. Sie wollte unbedingt persönlich hingehen und den Führer reden hören. Ich spreche natürlich von der Zeit unmittelbar vor dem Krieg, 1939. Sie war neugierig, welche Wirkung seine Ansprache auslösen könnte. Warum nur waren alle so beeindruckt? Also ging sie hin. Sie kehrte zurück und sagte: ‹Außerordentlich. Ich hätte es nie geglaubt. Natürlich verstehe ich nicht sehr gut Deutsch, aber ich war genauso hingerissen. Und ich verstehe jetzt auch, warum alle hingerissen sind. Ich meine, seine Ideen waren wunderbar… sie entflammten einen förmlich. Die Dinge, die er sagte. Man fühlte, war einfach gezwungen zu glauben, eine ganz neue Welt würde geschaffen, wenn man ihm folgte. Ach, ich kann das nicht gut erklären. Ich werde so viel wie möglich von dem, was ich behalten habe, aufschreiben, und dann bringe ich es Ihnen zum Lesen, dann werden Sie es besser verstehen als meinen mündlichen Versuch, Ihnen die Wirkung zu beschreiben.›» Lord Altamount fuhr fort: «Ich sagte ihr, das sei eine sehr gute Idee. Am nächsten Tag kam sie zu mir und sagte: ‹Vielleicht glauben Sie das nicht. Ich habe angefangen aufzuschreiben, was ich gehört habe, die Dinge, die Hitler gesagt hat. Was sie bedeutet haben – aber – das war beängstigend – es gab nichts aufzuschreiben, ich war offensichtlich nicht fähig, mich auch nur an einen einzigen stimulierenden oder aufregenden Satz zu erinnern. Ich habe einige Schlagworte, aber sie bedeuten anscheinend nicht mehr dasselbe wie zu dem Zeitpunkt, als ich sie notierte. Sie ergeben einfach – sie ergeben einfach keinen Sinn. Ich verstehe das nicht.›» Lord Altamount sagte: «Das zeigt eine der großen Gefahren, man ist sich dessen nicht immer bewusst, aber sie existiert. Es gibt Menschen, die in der Lage sind, in anderen Menschen eine wilde Begeisterung zu entfachen, eine Art Vision vom Leben und von dem, was kommen soll. Sie sind dazu in der Lage, aber nicht mit dem, was sie tatsächlich sagen, es sind nicht die Worte, die man hört, nicht einmal die vorgetragene Idee. Es ist etwas anderes. Es ist diese magnetische Überzeugungskraft, die einige wenige Menschen bestimmte Dinge bewirken lässt, Visionen erzeugt, kreiert. Vielleicht mit ihrer persönlichen Anziehungskraft, ihrer Stimme, vielleicht mit einer Ausstrahlung, die direkt aus dem Körperlichen kommt. Ich weiß nicht, aber so etwas gibt es.» Lord Altamount sagte weiter: «Solche Menschen haben die Macht. Die großen Religionslehrer hatten sie, aber auch ein böser Geist hat solche Macht. Sie können Glauben erwecken, an eine bestimmte Bewegung, an Dinge, die Menschen tun sollen, an Ereignisse, die einen neuen Himmel, eine neue Erde schaffen sollen. Und die Menschen werden das glauben, Tag und Nacht dafür arbeiten und kämpfen, sogar dafür sterben.» Altamount senkte die Stimme und fuhr fort: «Jan Smuts sagt das in einem Satz. Er sagt: ‹Führungsmacht kann, neben der Tatsache, dass sie einen große kreative Kraft ist, auch diabolisch sein.›» Stafford Nye bewegte sich auf seinem Stuhl. «Ich verstehe, was Sie meinen. Sehr interessant, was Sie da sagen. Ich sehe ein, dass es vielleicht sogar richtig sein könnte.» «Aber Sie denken natürlich, es ist übertrieben.» «Das weiß ich nicht», sagte Stafford Nye. «Dinge, die übertrieben scheinen, sind häufig gar nicht so übertrieben. Man hat es nur vorher so noch nicht gehört oder gedacht. Daher erscheint es einem dermaßen fremd, dass kaum etwas anderes übrig bleibt, als es zu akzeptieren. Nebenbei, darf ich eine einfache Frage stellen? Was soll man denn nun wirklich tun?» «Wenn man den Verdacht hat, dass eine solche Bewegung existiert, muss man sie erst einmal wirklich kennenlernen», sagte Lord Altamount. «Sie müssen es machen wie der Mungos im Dschungelbuch: hinlaufen und es herausfinden. Wo das Geld herkommt, wo die Ideen herkommen, und woher, wenn ich so sagen darf, die Maschinerie stammt. Wer betreibt diese Maschinerie? Hier bei uns gibt es einen Generalstabschef und einen Oberkommandeur. Das versuchen wir zu etablieren. Wir hätten gern, dass Sie mitmachen und uns helfen.» Es war einer der wenigen Anlässe, bei denen Stafford Nye sprachlos war. Sonst war es ihm immer gelungen, seine Gefühle und Gedanken zu verbergen. Doch diesmal war es anders. Er sah von einem zum anderen im Raum. Auf den gelassen wirkenden Mr. Robinson mit seinem gelben Gesicht und den auffälligen Zähnen; auf Sir James Kleek. Sir Stafford Nye hielt ihn für einen etwas aufdringlichen Redner, aber zweifellos hatte er seine Meriten; Spürhund seines Herrn, nannte er ihn bei sich. Er sah Lord Altamount an, das gewölbte Dach des Porter-Sessels bildete einen Rahmen um seinen Kopf. Die Beleuchtung im Raum war nicht sehr hell. Sie ließ ihn wie einen Heiligen in der Nische einer Kathedrale erscheinen. Asketisch, wie aus dem 14. Jahrhundert. Ein großer Mann. Ja, Altamount war einer der großen Männer der Vergangenheit. Stafford Nye hatte keinen Zweifel daran, aber jetzt war er ein sehr alter Mann. Darum war wohl auch Sir James Kleek notwendig, Lord Altamount stützte sich auf ihn. Er sah an ihnen vorbei auf das rätselhafte, kühle Geschöpf, das ihn hierhergebracht hatte, die Gräfin Renata Zerkowski, alias Mary Ann, alias Daphne Theofanous. Ihr Gesicht verriet ihm nichts. Sie sah ihn nicht einmal an. Ihre Augen ruhten gerade auf Mr. Henry Horsham von der Sicherheit. Mit leichtem Erstaunen stellte er fest, dass Henry Horsham ihn angrinste. «Aber sehen Sie doch», sagte Stafford Nye, ließ alle Förmlichkeit beiseite und bediente sich mehr der Ausdrucksweise des achtzehnjährigen Schuljungen, der er einmal gewesen war: «Wo um Himmels willen passe ich da rein? Was weiß ich schon? Offen gesagt, ich bin wirklich nichts Besonderes in meinem Beruf, wissen Sie. Die halten nicht sehr viel von mir im Außenministerium, das haben sie noch nie getan.» «Das wissen wir», sagte Lord Altamount. Nun war die Reihe an Sir James Kleek zu grinsen, und das tat er auch. «Vielleicht umso besser», bemerkte er und fügte, als Lord Altamount die Stirn runzelte, entschuldigend hinzu, «tut mir leid, Sir.» «Dies ist eine Untersuchungskommission», sagte Mr. Robinson. «Es geht nicht um die Frage, was Sie früher gemacht haben oder welche Meinung die Leute von Ihnen haben. Wir stellen hier eine Untersuchungskommission auf. Bisher hat diese Kommission noch nicht viele Mitglieder. Wir bitten Sie teilzunehmen, weil wir davon überzeugt sind, dass Sie bestimmte Qualitäten besitzen, die bei dieser Untersuchung hilfreich sein könnten.» Stafford Nye wandte dem Sicherheitsmann den Kopf zu. «Was ist, Horsham?», fragte er. «Ich glaube nicht, dass Sie da zustimmen.» «Warum nicht?», fragte Henry Horsham. «Also wirklich. Was sind denn meine ‹Qualitäten›, wie Sie sie nennen? Offen gestanden kann ich selbst nicht daran glauben.» «Sie sind kein Heldenverehrer», sagte Horsham. «Deswegen. Sie können einen Schwindel durchschauen. Sie nehmen niemand für selbstverständlich oder bewerten ihn nach der allgemeinen Einschätzung der Welt. Sie haben Ihre eigene Meinung.» Ce n’est pas un garcon sérieux. Diese Worte schossen Stafford Nye durch den Kopf. Ein merkwürdiger Grund, für eine komplizierte und schwierige Aufgabe ausgewählt zu werden. «Ich muss Sie warnen», sagte er, «mein Hauptfehler ist wohlbekannt. Es wurde schon oft festgestellt und hat mich mehrere gute Posten gekostet: Ich bin nicht seriös genug für eine so wichtige Aufgabe.» «Ob Sie’s glauben oder nicht, genau das ist einer der Gründe, warum wir Sie haben möchten. Ich habe doch recht, Mylord, oder nicht?», sagte Henry Horsham. Er sah Lord Altamount an. «Der Staatsdienst!», sagte Lord Altamount. «Lassen Sie sich sagen, sehr häufig ist einer der größten Nachteile im Leben, dass sich die Leute in öffentlichen Positionen zu wichtig nehmen. Wir haben das Gefühl, dass Sie das nicht tun. Jedenfalls», sagte er, «glaubt das Mary Ann.» Sir Stafford Nye wandte den Kopf. Da war sie also, keine Gräfin mehr. Sie war wieder Mary Ann. «Sie haben hoffentlich nichts dagegen», sagte er, «aber wer sind Sie wirklich? Ich meine, sind sie wirklich eine Gräfin?» «Absolut. Eine geborene, wie die Deutschen sagen, mein Vater war von Adel, ein guter Sportsmann, ein hervorragender Schütze. Er besaß ein sehr romantisches, aber baufälliges Schloss in Bayern. Es steht noch, das Schloss. Wie auch immer, ich habe Verbindungen zu einem großen Teil der europäischen Welt, die noch äußerst snobistisch ist, was die Herkunft anbelangt. Eine arme, schäbige Gräfin sitzt ganz vorne am Tisch, während ein reicher Amerikaner mit einem fabelhaften Dollarvermögen in der Warteschlange steht.» «Was ist mit Daphne Theofanous? Wo gehört sie hin?» «Ein praktischer Name für einen Pass. Meine Mutter war Griechin.» «Und Mary Ann?» Es war nahezu das erste Lächeln, das Stafford Nye auf ihrem Gesicht sah. Ihr Blick fiel auf Lord Altamount und von dort zu Mr. Robinson. «Vielleicht», sagte sie, «weil ich so eine Art Mädchen für alles bin, umherreise, Dinge suche, Sachen von einem Land ins andere bringe, Dinge unter die Matte kehre, alles tue, überall hingehe, das Durcheinander aufräume.» Sie sah Lord Altamount wieder an. «Hab ich recht, Onkel Ned?» «Ganz recht, meine Liebe. Für uns bist du Mary Ann und wirst es immer bleiben.» «Hatten Sie im Flugzeug etwas dabei, ich meine, haben Sie etwas Wichtiges von einem Land ins andere gebracht?» «Ja. Es war bekannt, dass ich es mithatte. Wenn Sie mir nicht zu Hilfe gekommen wären, kein vergiftetes Bier getrunken und mir nicht Ihren Räuberumhang mit den leuchtenden Farben als Vermummung gegeben hätten, nun, manchmal gibt es Unfälle. Ich wäre niemals angekommen.» «Was hatten Sie denn dabei, oder darf ich das nicht fragen? Gibt es Dinge, die ich niemals erfahren werde?» «Es gibt eine Menge Dinge, die Sie nie erfahren werden. Es gibt eine Menge Dinge, über die Sie keine Fragen stellen dürfen. Aber diese Frage werde ich wohl beantworten. Die reine Wahrheit. Wenn mir das gestattet ist.» Wieder sah sie Lord Altamount an. «Ich vertraue Ihrem Urteil», sagte Lord Altamount. «Nur zu.» «Geben Sie ihm den ganzen Geheimquatsch», sagte der respektlose James Kleek. Mr. Horsham sagte: «Ich nehme an, das sollten Sie wissen. Ich würde es Ihnen nicht erzählen, aber ich bin auch von der Sicherheit. Nur zu, Mary Ann.» «Einen Satz. Ich habe eine Geburtsurkunde mitgebracht. Das ist alles. Mehr sage ich Ihnen nicht, und es hat auch keinen Zweck, mir weitere Fragen zu stellen.» Stafford Nye blickte in die Runde. «In Ordnung. Ich mache mit. Ich fühle mich geschmeichelt, dass Sie mich eingeladen haben. Wie geht es weiter?» «Sie und ich», sagte Renata, «reisen morgen von hier ab. Wir fahren auf den Kontinent, Sie haben vielleicht gelesen oder wissen es, dass in Bayern ein Musik-Festival stattfindet. Es ist ziemlich neu, erst in den letzten zwei Jahren entstanden. Es hat einen ziemlich großartigen deutschen Namen, es heißt ‹Die Kompanie Junger Sänger› und wird von den Regierungen mehrerer Länder unterstützt. Es steht in Opposition zu den traditionellen Festspielen und Produktionen von Bayreuth. Ein Großteil der aufgeführten Musik ist modern – neue, junge Komponisten erhalten die Chance, ihre Musik aufzuführen. Manche schätzen es sehr, von anderen wird es radikal abgelehnt und verachtet.» «Ja», sagte Sir Stafford, «ich habe darüber gelesen. Werden wir dort hinfahren?» «Wir haben Karten für zwei Vorstellungen gebucht.» «Hat dieses Festival eine besondere Bedeutung für unsere Untersuchungen?» «Nein», sagte Renata, «es ist mehr ein günstiges Ein- und Ausgangsportal. Wir besuchen es aus einem vorgeblich guten Grund, und wir verlassen es zu gegebener Zeit für unseren nächsten Schritt.» Er sah sich um. «Irgendwelche Instruktionen? Bekomme ich einen Marschbefehl? Erhalte ich genaue Anweisungen?» «Nicht so, wie Sie das auslegen. Sie begeben sich auf eine Sondierungsreise. Sie lernen auf dem Weg. Sie reisen als Sie selbst, nur mit den Kenntnissen, die sie jetzt haben. Sie gehen als Musikliebhaber, als leicht enttäuschter Diplomat, der sich vielleicht einen Posten im eigenen Land erhofft hatte, den er nicht bekommen hat. Sonst wissen Sie von gar nichts. Das ist sicherer.» «Aber sind das zurzeit alle Aktivitäten? Deutschland, Bayern, Österreich, Tirol – dieser Teil der Welt?» «Das ist ein Mittelpunkt von Interesse.» «Nicht der einzige?» «Nicht einmal der Hauptpunkt. Es gibt auf der Welt noch andere Orte von unterschiedlicher Bedeutung und unterschiedlichem Interesse. Wie bedeutsam das jeweilige ist, müssen wir herausfinden.» «Und ich erfahre nichts über die anderen Zentren, und man wird mir auch nichts berichten?» «Nur oberflächlich. Eines – wir halten es für das wichtigste – hat sein Hauptquartier in Südamerika, es gibt zwei weitere mit Hauptsitz in den Vereinigten Staaten, eins in Kalifornien, eins in Baltimore. Es gibt eins in Schweden, eins in Italien. Die Dinge haben sich gegen Ende der letzten Halbjahres schneller entwickelt. Portugal und Spanien haben ebenfalls kleinere Zentren. Paris, natürlich. Es gibt weitere interessante Orte, sozusagen noch ‹im Aufbaustadium› könnte man sagen. Aber noch nicht voll entwickelt.» «Sie meinen Malaysia oder Vietnam?» «Nein. Nein, das ist schon alles Vergangenheit. Das war ein passender Aufruf zur Sammlung, zur Gewalt, studentischer Unzufriedenheit und für andere Dinge. Zurzeit wird überall zunehmend die Organisierung der Jugend betrieben, die Auflehnung gegen ihre Regierungsform gefördert, gegen die Sitten ihrer Eltern, sehr oft gegen die Religion, in der sie erzogen wurden. Es gibt den heimtückischen Kult der Freizügigkeit, den wachsenden Kult der Gewalt. Gewalt nicht als Mittel, sich zu bereichern, sondern Gewalt um der Gewalt willen. Das wird besonders betont, und die Gründe dafür sind für die Betroffenen von größter Bedeutung.» «Freizügigkeit, ist das wichtig?» «Es ist eine Lebensweise, mehr nicht. Es verführt zu bestimmtem Missbrauch, mehr nicht.» «Was ist mit Drogen?» «Der Drogenkult wird absichtlich gefördert und angeheizt. Ungeheure Summen werden damit verdient, aber wir nehmen an, er wird nicht nur des Geldes wegen gefördert.» Alle sahen Mr. Robinson an, der langsam den Kopf schüttelte. «Nein», sagte er, «es sieht nur so aus. Leute werden zwar verhaftet und der Justiz überantwortet. Drogenhändler werden verfolgt. Aber es steckt mehr dahinter als nur die Drogenkartelle. Der Drogenhandel ist nur ein Mittel, und zwar ein übles Mittel, um Geld zu machen. Aber es steckt mehr dahinter.» «Aber wer –»Stafford Nye zögerte. «Wer und was und wo und warum? Die vier Ws. Das ist Ihre Mission, Sir Stafford», sagte Mr. Robinson. «Das müssen Sie herausfinden. Sie und Mary Ann. Es wird nicht leicht sein, und vergessen Sie nicht, eine der schwierigsten Aufgaben der Welt ist, Geheimnisse zu bewahren.» Stafford Nye blickte mit Interesse auf Mr. Robinsons fettes gelbes Gesicht. Vielleicht war das gerade das Geheimnis von Mr. Robinsons Herrschaft über die Finanzwelt. Sein Geheimnis war, dass er seine Geheimnisse bewahrte. Mr. Robinsons Lippen zeigten wieder ihr Lächeln. Die großen Zähne strahlten. «Wenn man etwas weiß», sagte er, «ist die Versuchung, es mitzuteilen immer groß; mit anderen Worten, darüber zu reden. Das heißt nicht, dass man Informationen preisgeben will, es heißt nicht, dass man Ihnen Bezahlung dafür angeboten hat. Sie wollen nur zeigen, wie wichtig Sie sind. So einfach ist das. In Wirklichkeit», sagte Mr. Robinson und schloss dabei halb die Augen, «ist alles auf der Welt so extrem einfach. Die Leute verstehen das nur nicht.» Die Gräfin stand auf und Stafford Nye folgte ihrem Beispiel. «Ich hoffe, Sie werden gut schlafen und sich wohlfühlen», sagte Mr. Robinson, «ich denke, dieses Haus ist hinreichend komfortabel.» Stafford Nye murmelte, er sei sich dessen sicher, und dieser Punkt wurde bald darauf bestätigt. Er ließ den Kopf auf das Kissen sinken und schlief sofort ein. 2. Buch. Die Siegfried-Reise  Kapitel 10 Die Frau vom Schloss I Sie traten aus dem Jugend-Festival-Theater in die erfrischende Abendluft. Unter ihnen lag in einer Senke ein erleuchtetes Restaurant. Am Abhang des Hügels gab es noch ein anderes. Die Restaurants unterschieden sich geringfügig im Preis, doch keines war preiswert. Renata trug ein Abendkleid aus schwarzem Samt, Sir Stafford war in Frack und weißer Fliege. «Ein sehr erlauchtes Publikum», murmelte Stafford seiner Begleiterin zu. «Da war viel Geld versammelt. Im Ganzen ein junges Publikum. Man glaubt kaum, dass sie sich das leisten können.» «Oh, das kann man arrangieren. Das wird arrangiert.» «Eine Unterstützung der jungen Elite? So etwas?» «Ja.» Sie wanderten zu dem Restaurant auf dem hohen Hügelabhang. «Wir haben eine Stunde zur Verfügung für das Essen, oder?» «Theoretisch eine Stunde. Praktisch eine Stunde und fünfzehn Minuten.» «Dieses Publikum», sagte Sir Stafford Nye, «die meisten, ich würde sagen, fast alle, sind wirkliche Musikliebhaber.» «Die meisten, ja. Das ist wichtig, wissen Sie.» «Wie meinen Sie das – wichtig?» «Dass die Begeisterung echt sein muss. An beiden Enden der Skala», fügte sie hinzu. «Was genau meinen Sie damit?» «Wer Gewalt ausübt und Gewalt organisiert, muss die Gewalt lieben, muss sie wollen, ersehnen. Mit dem Zeichen der Ekstase in jeder Bewegung, beim Zerschlagen, Verletzen, Zerstören. Das Gleiche gilt für die Musik. Das Ohr muss jeden Augenblick der Schönheit und Harmonie genießen. Es darf keine Verstellung geben in diesem Spiel.» «Kann man die Rollen zusammenlegen – kann man Ihrer Meinung nach Gewalt und die Liebe zur Musik oder Kunst kombinieren?» «Das ist nicht immer einfach, glaube ich, jedoch möglich. Viele sind dazu fähig. Es ist jedenfalls sicherer, wenn sie diese Rollen nicht kombinieren müssen.» «Es ist besser, alles einfach zu halten, wie unser fetter Freund Mr. Robinson sagen würde? Sollen die Musikliebhaber die Musik lieben und die Gewalttäter die Gewalt. Meinen Sie das?» «Ich glaube schon.» «Ich habe viel Spaß an dieser Sache. Die zwei Tage, die wir hier verbracht haben, die beiden Musikabende, an denen wir uns erfreut haben. Nicht jedes Musikstück hat mir gefallen, vielleicht ist mein Geschmack nicht modern genug. Die Kostümierung finde ich sehr interessant.» «Sprechen Sie von der Bühneninszenierung?» «Nein, nein, ich spreche eher vom Publikum. Sie und ich, die Konservativen, die Altmodischen. Sie, Gräfin in Ihrem Gesellschaftskleid, und ich in Frack und Fliege. Kein bequemer Aufzug, das war es noch nie. Und dann die anderen, in Samt und Seide, die Rüschenhemden der Männer, echte Spitze, ist mir mehrfach aufgefallen – der Plüsch und die Frisuren und der Luxus der Avantgarde, der Luxus des neunzehnten Jahrhunderts, oder, man könnte fast sagen wie aus den Zeiten von Elisabeth der Ersten oder wie auf Van-Dyck-Gemälden.» «Ja, da haben Sie recht.» «Ich komme dem, was das hier alles bedeuten soll, immer noch nicht näher. Ich habe nichts herausgefunden.» «Seien Sie nicht ungeduldig, das hier ist eine üppige Vorstellung, subventioniert, erwünscht, vielleicht von der Jugend verlangt und veranstaltet von –» «Von wem?» «Das wissen wir noch nicht. Aber wir werden es erfahren.» «Ich bin sehr froh, dass Sie sich so sicher sind.» Sie betraten das Restaurant und setzten sich. Das Essen war gut, aber in keiner Weise üppig oder luxuriös. Ein- oder zweimal wurden sie von Bekannten oder Freunden angesprochen. Zwei Leute, die Sir Stafford Nye erkannten, drückten ihre Freude und Überraschung aus, ihn hier zu sehen. Renata hatten einen größeren Bekanntenkreis, da sie mehr Ausländer kannte – wohlgekleidete Frauen, ein oder zwei Männer, meist Deutsche oder Österreicher, dachte Stafford Nye, ein oder zwei Amerikaner. Sie wechselten nur ein paar belanglose Worte. Wo die Leute herkamen oder wo sie hinreisten, Kritik oder Lob am Musikprogramm. Keiner verschwendete viel Zeit, da die Essenspause ohnehin nicht sehr lang war. Sie kehrten für die beiden letzten Musikstücke auf ihre Plätze zurück. Ein symphonisches Gedicht, ‹Auflösung in Freude›, von einem neuen jungen Komponisten, Selukonov, und dann die feierliche Pracht des Marsches aus den Meistersingern. Sie traten wieder in die Nacht hinaus. Der Wagen, den sie täglich zur Verfügung hatten, stand bereit, um sie in das kleine, aber exklusive Hotel an der Dorfstraße zurückzubringen. Stafford Nye wünschte Renata eine gute Nacht. Sie antwortete mit gesenkter Stimme. «Vier Uhr morgens», sagte sie. «Halten Sie sich bereit.» Sie ging sofort in ihr Zimmer und schloss die Tür, und er ging in seines. Das schwache Fingerkratzen an seiner Tür kam etwa drei Minuten vor vier am nächsten Morgen. Er öffnete die Tür und war bereit. «Der Wagen wartet», sagte sie. «Kommen Sie.» II Sie aßen in einem kleinen Gasthaus in den Bergen zu Mittag. Das Wetter war gut, die Berge wunderschön. Gelegentlich fragte sich Stafford Nye, was um Himmels willen er hier eigentlich machte. Er verstand seine Reisegefährtin immer weniger. Er ertappte sich dabei, wie er ihr Profil beobachtete. Wo fuhr sie ihn hin? Was war ihr wirklicher Beweggrund? Schließlich, fast schon bei Sonnenuntergang, sagte er: «Wohin fahren wir, darf ich das fragen?» «Fragen dürfen Sie, ja.» «Aber sie antworten nicht?» «Ich könnte schon antworten. Ich könnte Ihnen etwas erzählen, aber würde das etwas bedeuten? Es scheint mir, wenn Sie dort, wo wir hinfahren, ohne erklärende Vorbereitung meinerseits (die ohnehin per se bedeutungslos wäre) ankommen, wird ihr erster Eindruck unverfälschter sein.» Er betrachtete sie wieder nachdenklich. Sie trug einen pelzbesetzten Tweedmantel, elegante Reisekleidung, fremdländisch in Verarbeitung und Schnitt. «Mary Ann», sagte er nachdenklich. Es lag eine leichte Frage darin. «Nein», sagte sie. «Im Augenblick nicht.» «Ach, Sie sind also immer noch die Gräfin Zerkowski.» «Im Augenblick bin ich noch die Gräfin Zerkowski.» «Befinden Sie sich hier in Ihrem eigenen Teil der Welt?» «Mehr oder weniger. Ich bin als Kind hier aufgewachsen. Jeden Herbst kamen wir für einen guten Teil des Jahres hierher, auf ein Schloss nicht weit von hier entfernt.» Er lächelte und sagte nachdenklich: «Was für ein hübsches Wort. Schloss. Klingt so solide.» «Schlösser stehen heutzutage nicht auf sehr solidem Grund, sie sind meistens baufällig.» «Das hier ist Hitler-Land, nicht wahr? Wir sind nicht weit entfernt von Berchtesgaden, oder?» «Es liegt dort drüben, nach Nordosten hin.» «Und Ihre Verwandtschaft, Ihre Freunde – haben sie Hitler akzeptiert, an ihn geglaubt? Vielleicht sollte ich solche Dinge lieber nicht fragen.» «Sie mochten ihn und alles, wofür er stand, nicht. Aber sie haben ‹Heil Hitler› gesagt. Sie haben hingenommen, was mit ihrem Land geschah. Was sonst hätten sie tun können? Was hätte irgendjemand tun können zu jener Zeit?» «Wir fahren in Richtung Dolomiten, nicht wahr?» «Ist es wichtig, wo wir uns befinden, auf welcher Straße wir fahren?» «Nun, dies ist eine Sondierungsreise, nicht wahr?» «Ja, aber die Sondierung ist nicht geografisch. Wir werden eine bestimmte Persönlichkeit aufsuchen.» «Sie geben mir das Gefühl –», Sir Stafford Nye sah hinauf in die Landschaft aufgetürmter Berge, die bis in den Himmel reichten, «als ob wir den berühmten Alten vom Berge aufsuchen würden.» «Meinen Sie den Meister der Assassinen, der seine Gefolgsleute unter Drogen hielt, sodass sie von ganzem Herzen für ihn in den Tod gingen? Dass sie töteten in dem Bewusstsein, selbst auch getötet zu werden, aber auch in dem Glauben, dass sie unmittelbar ins muslimische Paradies versetzt würden – schöne Frauen, Haschisch und erotische Träume – perfektes und nie endendes Glück?» Sie hielt einen Augenblick inne und sagte dann: «Fesselnde Persönlichkeiten. Ich glaube, es hat sie immer gegeben, zu allen Zeiten. Menschen, die andere an sich glauben machen, sodass diese sogar bereit sind, für sie zu sterben. Nicht nur Assassinen. Die Christen sind auch gestorben.» «Die heiligen Märtyrer? Lord Altamount?» «Warum erwähnen Sie Lord Altamount?» «Ich habe ihn – ganz plötzlich – so gesehen an jenem Abend. In Stein gemeißelt – vielleicht in einer Kathedrale aus dem dreizehnten Jahrhundert.» «Einer von uns wird vielleicht sterben müssen oder sogar mehrere.» Sie hielt das, was sie zunächst noch sagen wollte, zurück und fuhr dann fort: «Ich denke da manchmal noch an etwas anderes. An einen Vers im Neuen Testament – Lukas, glaube ich. Christus sagte beim Letzten Abendmahl zu seinen Jüngern: ‹Ihr seid meine Gefährten und Freunde, doch einer unter Euch ist ein Teufel.› So ist aller Wahrscheinlichkeit nach einer von uns ein Teufel.» «Halten Sie das für möglich?» «Fast. Einer, dem wir vertrauen und den wir kennen, der aber abends schlafen geht und nicht vom Martyrium träumt, sondern von den dreißig Silberlingen, und der mit dem Gefühl erwacht, sie bereits in Händen zu halten.» «Geldgier?» «Ehrgeiz bezeichnet es besser. Wie erkennt man einen Teufel? Wie würde man es wissen? Ein Teufel würde auffallen in der Menge – wäre schillernd – und würde Aufmerksamkeit erregen – und die Führung in die Hand nehmen.» Sie schwieg einen Augenblick und sagte dann mit nachdenklicher Stimme: «Ich hatte mal eine Freundin im diplomatischen Dienst, die erzählte mir, sie habe einer deutschen Frau gesagt, wie bewegt sie war von dem Passionsspiel in Oberammergau. Aber die Frau sagte verächtlich: ‹Sie verstehen das nicht. Wir Deutsche brauchen keinen Jesus Christus. Wir haben unseren Adolf Hitler. Er ist größer als jeder Jesus, den es je gegeben hat.› Sie war eine sehr nette, ganz normale Frau. Aber sie empfand das so. Eine Masse von Leuten dachte so. Hitler war ein fesselnder Redner. Er sprach und sie lauschten – und akzeptierten den Sadismus, die Gaskammern, die Folter, die Gestapo.» Sie zuckte mit den Schultern und sagte dann mit normaler Stimme: «Trotzdem, es ist schon seltsam, dass Sie das eben gesagt haben.» «Was meinen Sie?» «Das über den Alten vom Berge. Den Führer der Assassinen.» «Wollen Sie mir damit sagen, es gibt hier einen Alten vom Berge?» «Nein, keinen Alten vom Berge. Aber vielleicht eine Alte vom Berge.» «Eine Alte Frau vom Berge. Wer soll denn das sein?» «Sie werden es heute Abend sehen.» «Was machen wir denn heute Abend?» «Wir gehen auf eine Gesellschaft», sagte Renata. «Es scheint lange her, dass Sie einmal Mary Ann waren.» «Sie müssen eben warten, bis wir wieder mal eine Flugreise unternehmen.» «Ich nehme an, es ist sehr abträglich für die eigene Moral, wenn man in so gehobenen Kreisen lebt.» «Meinen Sie das gesellschaftlich?» «Nein, geografisch. Wenn man in einem Schloss auf einem Berg lebt und von dort oben auf die Welt hinunterblickt, das lässt einen die gewöhnlichen Menschen verachten, nicht wahr? So fühlte sich Hitler in Berchtesgaden, so fühlen sich vielleicht viele Leute, die auf Berge steigen und auf ihre Mitgeschöpfe unten im Tal hinuntersehen.» «Sie müssen vorsichtig sein heute Abend», warnte ihn Renata. «Es wird brenzlig.» «Gibt es irgendwelche Anweisungen?» «Sie sind ein unzufriedener Mensch, der gegen das Establishment ist, gegen die konventionelle Welt. Sie sind ein Rebell, aber ein heimlicher. Können Sie das?» «Ich kann es versuchen.» «Wo fahren wir hin, Mary Ann?» «In ein Adlernest.» Die Straße wandte sich zum letzten Mal in eine andere Richtung. Sie schlängelte sich durch einen Wald. Stafford Nye glaubte, hin und wieder flüchtige Blicke auf Wild oder anderes Getier zu erhaschen Ab und zu waren da auch Männer in Lederjacken mit Gewehren. Wildhüter, dachte er. Und dann erblickten sie endlich ein riesiges Schloss auf einem Felsvorsprung. Ein Teil war eine Ruine, aber das meiste war wieder aufgebaut und restauriert worden. Es war kolossal und glorreich, aber es war nichts Neues daran oder in der Botschaft, die es übermittelte. Es war ein Zeuge vergangener Macht, erworben in versunkenen Zeitaltern. «Es war ursprünglich das Großherzogtum Liechtenstolz. Das Schloss wurde von Großherzog Ludwig 1790 erbaut», sagte Renata. «Wer lebt jetzt dort? Der heutige Großherzog?» «Nein. Die sind alle dahingegangen und abgetan. Fortgeweht.» «Und wer lebt jetzt dort?» «Jemand mit gegenwärtiger Macht.» «Geld?» «Ja, und wie.» «Werden wir dort Mr. Robinson antreffen, der schon vor uns eingeflogen ist, um uns zu begrüßen?» «Ich versichere Ihnen, Mr. Robinson ist der Letzte, den wir dort antreffen würden.» «Schade», sagte Stafford Nye. «Ich mag Mr. Robinson. Er ist schon etwas Besonderes, nicht wahr? Wer ist er wirklich – welcher Nationalität?» «Ich glaube, niemand hat das je herausgefunden. Jeder erzählt einem etwas anderes. Einige sagen, er sei Türke, einige Armenier, einige Holländer, einige, er sei ein ganz gewöhnlicher Engländer. Einige erzählen, seine Mutter sei eine zirkassische Sklavin, eine russische Großfürstin, eine indische Begum und so weiter gewesen. Niemand weiß es. Jemand hat mir erzählt, seine Mutter sei eine Miss McLellan aus Schottland gewesen. Das erscheint mir ebenso wahrscheinlich wie alles andere.» Sie waren unter einem großen Vorbau vorgefahren. Zwei Diener in Livree kamen die Stufen herunter. Sie begrüßten die Gäste mit pompösen Verbeugungen. Das Gepäck wurde in Empfang genommen: Sie hatten ein ganze Menge Gepäck dabei. Stafford Nye hatte sich von Anfang an gewundert, warum er so viel Gepäck mitbringen sollte, aber jetzt begann er zu verstehen, dass das von Zeit zu Zeit nötig war. Das war wohl auch heute Abend der Fall, dachte er. Ein paar fragende Bemerkungen, und seine Begleiterin bestätigte ihm das. Sie trafen sich vor dem Abendessen, herbeibefohlen von einem großen, tönenden Gong. Er stand in der Halle und wartete darauf, dass sie die Treppe herunterkäme, um mit ihm zusammenzutreffen. Sie trug heute große, aufwendige Abendgarderobe, ein dunkelrotes Abendkleid, Rubine um den Hals und eine Rubintiara im Haar. Ein Diener trat vor und führte sie hinein. Er öffnete die Türen und verkündete: «Gräfin Zerkowski, Sir Stafford Nye.» «Da sind wir nun, und ich hoffe, wir spielen unsere Rolle gut», sagte Sir Stafford zu sich selbst. Er sah zufrieden auf seine Frackhemd-Knöpfe aus Diamanten und Saphiren. Einen Augenblick später hielt er vor Überraschung den Atem an. Was immer er erwartet hatte, das war es nicht. Es war ein riesiger Raum im Rokokostil, Sessel, Sofas und Wandbehänge aus feinstem Brokat und Samt. An den Wänden hingen Gemälde, die er nicht alle gleichzeitig wahrnehmen konnte, aber er erkannte fast sofort – denn er liebte Gemälde – mit Sicherheit einen Cézanne, einen Matisse, möglicherweise einen Renoir. Bilder von unermesslichem Wert. Auf einem breiten Sessel, eher wie ein Thron, saß eine Frau von ungeheurem Umfang. Eine Frau wie ein Wal, dachte Stafford Nye, es gab wirklich kein anderes Wort, um sie zu beschreiben. Eine riesige, voluminöse, blass aussehende Frau, die im Fett förmlich versank. Sie hatte ein Doppel-, nein, Dreifach-, fast Vierfachkinn. Sie trug ein Kleid aus steifem, orangefarbenem Satin. Auf dem Kopf saß eine kunstvolle, fast kronenartige Tiara aus kostbaren Steinen. Ihre Hände auf dem Brokat der Sessellehne waren auch enorm. Große, riesige, fette Hände, mit großen, fetten, formlosen Fingern. An jedem Finger bemerkte er einen großen Solitärring. Und in jedem Ring steckte großartiger Stein, dachte er. Ein Rubin, ein Smaragd, ein Saphir, ein Diamant, ein ihm unbekannter blassgrüner Stein, vielleicht ein Chrysopras, dann ein gelber Stein, ein gelber Diamant – wenn es kein Topas war. Sie war entsetzlich, dachte er. Sie wälzte sich förmlich in ihrem Fett. Ihr Gesicht war eine riesige weiße, faltige, sabbernde Fettmasse. Darin saßen, wie Rosinen in einem Brötchen, zwei kleine schwarze Augen. Sehr intelligente Augen, die die Welt abschätzten, ihn abschätzten; Renata aber nicht, dachte er. Renata kannte sie. Renata war hierher befohlen, verabredet. Wie immer man es nennen mochte, Renata war angewiesen worden, ihn hierherzubringen. Er fragte sich, warum. Er konnte sich nicht ganz vorstellen, warum, aber er war sich dessen sicher. Er war es, den sie ansah. Ihn schätzte sie ab, ihn suchte sie zu beurteilen. War er das, was sie wollte? War er das – ja, er würde es wohl so formulieren –, was die Kundin bestellt hatte? Ich muss ganz sicher sein, dass ich erfahre, was sie sucht. Ich muss mein Bestes tun, sonst… sonst, das konnte er sich gut vorstellen, würde sie wahrscheinlich ihre fette, beringte Hand erheben und einem der großen muskulösen Diener befehlen: «Nehmen Sie ihn mit und werfen Sie ihn über die Brüstung.» Lächerlich, dachte Stafford Nye. So etwas passiert heute nicht mehr. Wo bin ich denn? An welcher Parade, Maskerade oder Theateraufführung nehme ich hier teil? «Sie sind sehr pünktlich, mein Kind.» Es war eine heisere, asthmatische Stimme, die einst einen Unterton von Stärke, vielleicht sogar Schönheit, besessen hatte. Das war jetzt vorbei. Renata trat vor und machte einen leichte Verbeugung. Sie nahm die fette Hand und drückte einen Höflichkeitskuss darauf. «Erlauben Sie mir, Sir Stafford Nye vorzustellen. Gräfin Charlotte von Waldsausen.» Die fette Hand wurde ihm hingestreckt. Er beugte sich darüber, wie dort üblich. Dann sagte sie etwas, das ihn überraschte. «Ich kenne Ihre Großtante», sagte sie. Er sah erstaunt auf und bemerkte sofort, dass sie das amüsierte, aber er sah auch, dass sie es erwartet hatte. Sie lachte, ein ziemlich verzerrtes, krächzendes Lachen. Nicht unbedingt anziehend. «Sagen wir, ich habe sie einmal gekannt. Es ist viele, viele Jahre her, seit ich sie gesehen habe. Wir waren zusammen in der Schweiz, in Lausanne, als junge Mädchen. Matilda, Lady Matilda Baldwen-White.» «Da kann ich ihr ja eine wundervolle Neuigkeit überbringen», sagte Stafford Nye. «Sie ist älter als ich. Geht es ihr gut?» «Für ihr Alter geht es ihr sehr gut. Sie lebt zurückgezogen auf dem Land. Sie hat Arthritis, Rheuma.» «Ach ja, alle Alterskrankheiten. Sie sollte sich Prokainspritzen geben lassen. Das machen die Ärzte hier in dieser Höhenlage. Es tut sehr gut. Weiß sie, dass Sie mich besuchen?» «Ich nehme an, sie hat nicht die leiseste Ahnung davon», sagte Sir Stafford Nye, «sie weiß nur, dass ich dieses Festival für Moderne Musik besuchen wollte.» «Das Ihnen hoffentlich gefallen hat?» «Oh ja, enorm. Ein schönes Festspielhaus, nicht wahr?» «Eines der schönsten! Pah, es lässt das alte Festspielhaus in Bayreuth wie eine Volksschule aussehen. Haben Sie eine Ahnung, was es gekostet hat, dieses Festspielhaus zu bauen?» Sie nannte eine Summe in Höhe von vielen Millionen D-Mark. Es nahm Stafford Nye förmlich den Atem, aber er musste das nicht einmal verbergen. Sie war erfreut über die Wirkung, die es auf ihn hatte. «Mit Geld kann man», sagte sie, «wenn man intelligent genug ist, dann kann man mit Geld alles bewirken. Wunderbare Dinge bekommt man dafür.» Sie sprach den letzten Satz mit großer Befriedigung aus, mit einem Schnalzen auf den Lippen, das er als sehr unangenehm und sogar etwas unheimlich empfand. «Ich sehe das auch hier», sagte er und betrachtete die Wände ringsum. «Sie sind Kunstliebhaber? Ja, das sehe ich. Da an der Ostwand hängt der beste Cézanne, den es heute auf der Welt gibt. Einige behaupten ja, dass der – ach, ich habe gerade den Namen vergessen, der im Metropolitan Museum in New York hängt – besser ist. Aber das stimmt nicht. Der beste Matisse, der beste Cézanne, das Beste aus allen Kunstrichtungen befindet sich hier. Hier in meinem Adlerhorst in den Bergen.» «Es ist wundervoll», sagte Sir Stafford, «einfach wundervoll.» Es wurden Getränke gereicht. Sir Stafford bemerkte, dass die Alte Frau vom Berge nichts trank. Möglicherweise hielt sie es für zu riskant für ihren Blutdruck bei solchem Übergewicht. «Und wo haben Sie diese junge Dame hier getroffen?», fragte der gebirgsähnliche Drache. War das eine Falle? Er wusste es nicht, aber er musste eine Entscheidung treffen. «In der Amerikanischen Botschaft in London.» «Ach ja, ich hörte davon. Und wie geht es – ich habe schon wieder den Namen vergessen – Millie Jean, unserer Südstaatenerbin? Sie ist attraktiv, nicht wahr?» «Und äußerst charmant. Sie ist ein echter Star in London.» «Und der arme, langweilige Sam Cortman, der Botschafter der Vereinigten Staaten?» «Er ist ein sehr vernünftiger Mann, da bin ich mir sicher», sagte Stafford Nye höflich. Sie lachte in sich hinein. «Aha, Sie sind sehr taktvoll, nicht wahr? Ach ja, er macht seine Sache ganz ordentlich. Er tut das, was man ihm sagt, wie jeder gute Politiker es tun sollte. Und es ist bestimmt angenehm, amerikanischer Botschafter in London zu sein. Das hat er Millie Jean zu verdanken. Ach, sie könnte ihm überall auf der Welt eine Botschaft besorgen, mit ihrer wohlgefüllten Geldbörse. Ihrem Vater gehört die Hälfte des Öls in Texas, er besitzt Ländereien, Goldfelder, einfach alles. Er ist ein grober, extrem hässlicher Mann – und wie sieht sie aus? Wie eine sanfte kleine Aristokratin. Nicht aufdringlich, nicht angeberisch. Sehr klug von ihr, nicht wahr?» «Manchmal hat man es so am einfachsten», sagte Sir Stafford Nye. «Und Sie? Sind Sie nicht reich?» «Ich wollte, ich wäre es.» «Das Außenministerium ist heutzutage – nun sagen wir – nicht sehr einträglich?» «Nun, so würde ich es nicht ausdrücken… immerhin, man reist umher, trifft amüsante Leute, kommt herum in der Welt, erfährt manches von dem, was passiert.» «Manches, ja. Aber nicht alles.» «Das wäre auch sehr schwierig.» «Wollten sie jemals wissen, was – wie soll ich es ausdrücken – so hinter den Kulissen geschieht?» «Manchmal bekommt man so eine Ahnung.» Seine Stimme klang unverbindlich. «Ich habe über Sie gehört, dass Sie manchmal gewisse Eingebungen haben. Nicht unbedingt konventionelle Ideen.» «Bei manchen Anlässen hat man mir das Gefühl vermittelt, dass ich der Taugenichts der Familie bin», sagte Sir Stafford Nye und lachte. Die alte Charlotte gluckste. «Es macht Ihnen nichts aus, ab und an mal etwas zuzugeben, nicht wahr?» «Warum sollte ich mich verstellen? Die Leute merken immer, wenn man etwas verbirgt.» Sie sah ihn an. «Was erwarten Sie vom Leben, junger Mann?» Er zuckte mit den Schultern. Hier musste er wieder nach dem Gefühl entscheiden. «Nichts», sagte er. «Soll ich Ihnen das wirklich glauben?» «Ja, das können Sie mir glauben. Ich besitze keinerlei Ehrgeiz. Sehe ich etwa ehrgeizig aus?» «Nein, das muss ich zugeben.» «Ich möchte nur meinen Spaß haben, ein angenehmes Leben, in Maßen essen und trinken, amüsante Freunde haben.» Die alte Frau beugte sich vor. Ihre Augen klappten drei- oder viermal auf und zu. Dann sprach sie plötzlich mit völlig veränderter Stimme, mit einer eher pfeifenden Note. «Können Sie hassen? Sind Sie fähig zum Hass?» «Hass ist reine Zeitverschwendung.» «Ich verstehe. Ihr Gesicht zeigt keinerlei Spur von Unzufriedenheit. Das ist sicher wahr. Und doch glaube ich, sind Sie bereit einen bestimmten Weg zu verfolgen, der Sie an ein bestimmtes Ziel führt. Und Sie werden ihn lächelnd gehen, als ob es Ihnen gleichgültig wäre. Und doch könnten Sie am Ende, wenn Sie die richtigen Berater, die richtigen Helfer finden, bekommen, was sie sich ersehnen – wenn Sie denn fähig sind, etwas zu ersehnen.» «Was das angeht», sagte Stafford Nye, «wer ist dazu nicht fähig?» Er schüttelte leicht den Kopf. «Sie sehen zu viel», sagte er. «Viel zu viel.» Diener öffneten eine Tür. «Es ist serviert.» Der Ablauf war angemessen förmlich, ja, er hatte einen nahezu majestätischen Anstrich. Die großen Türen am Ende des Raumes wurden aufgerissen und gaben den Blick frei in ein hell erleuchtetes, zeremonielles Esszimmer mit Deckengemälden und drei enormen Kronleuchtern. Zwei ältere Damen kamen auf die Gräfin zu, eine von jeder Seite. Sie trugen Abendkleider, ihr graues Haar war sorgfältig auf dem Kopf arrangiert, jede trug eine Diamantbrosche. Auf Sir Stafford Nye machten sie beinahe den Eindruck von Wärterinnen. Keine Wärterinnen für ihre Sicherheit, eher erstklassige Krankenschwestern, zuständig für die Gesundheit, die Körperpflege und andere intime Einzelheiten im Leben der Gräfin Charlotte. Nach einer respektvollen Verbeugung ließ jede einen Arm unter Schulter und Ellbogen der sitzenden Frau gleiten. Mit durch lange Übung entstandener Leichtigkeit und mit ihrer eigenen Anstrengung – offensichtlich alles, was sie tun konnte – brachten sie sie auf würdevolle Art auf die Beine. «Wir gehen jetzt hinein zum Abendessen», sagte Charlotte. Sie ging mit ihren beiden Pflegerinnen voran. Aufrecht wirkte sie noch mehr wie eine wackelnde Geleemasse, aber sie war dennoch beeindruckend. Man konnte sie keinesfalls nur als fette alte Frau abtun. Sie stellte etwas dar und wusste, dass sie etwas darstellte und darstellen wollte. Renata und er folgten den dreien. Als sie die Flügeltüren des Esszimmers durchschritten, erschien es ihm eher wie eine Banketthalle als ein Esszimmer. Eine Sicherheitsgarde befand sich dort. Große, blonde, gut aussehende junge Männer. Sie trugen eine Art Uniform. Charlotte betrat den Raum, und es gab einen Knall, als jeder Einzelne sein Schwert aus der Scheide zog. Sie kreuzten sie über ihren Köpfen, um einen Durchgang zu bilden. Charlotte richtete sich auf und durchschritt diese Passage, von ihren Pflegerinnen befreit und allein, bis hin zu einem breiten geschnitzten, goldbeschlagenen, mit goldenem Brokat gepolsterten Sessel am Kopfende des langen Tisches. Es war eher wie eine Hochzeitsparade, dachte Stafford Nye. Eine Marine- oder Militärhochzeit. In diesem Fall sicher Militär, rein militärisch – aber ohne Bräutigam. Es waren alles junge Leute von hervorragendem Aussehen, keiner von ihnen über dreißig, schätzte Stafford Nye. Sie sahen gut aus, strotzten vor Gesundheit. Sie lächelten nicht, sondern waren ganz ernsthaft. Sie waren – er suchte nach einem passenden Ausdruck – mit Leib und Seele dabei. Vielleicht doch keine Militärprozession, sondern eher eine religiöse. Die Bedienung erschien, eine altmodische Bedienung, noch aus der Vergangenheit des Schlosses, dachte er, aus der Vorkriegszeit. Es war wie die Kolossalinszenierung eines historischen Kostümstückes. Und darüber herrschte, auf dem Sessel oder dem Thron, wie immer man es nennen wollte, am Kopfende des Tisches, keine Königin oder Kaiserin, sondern eine alte Frau, bemerkenswert wichtig durch ihr Körpergewicht und ihre außerordentliche, intensive Hässlichkeit. Wer war sie? Was tat sie hier? Und warum? Warum diese ganze Maskerade, warum diese Truppe, eine Sicherheitsgarde vielleicht? Andere Gäste kamen an den Tisch. Sie verbeugten sich vor der Monstrosität auf dem Präsidententhron und nahmen ihre Plätze ein. Sie trugen normale Abendkleidung und wurden nicht vorgestellt. Stafford Nye, mit seiner langjährigen Erfahrung, Leute einzuordnen, betrachtete sie abschätzend. Viele unterschiedliche Typen. Anwälte, da war er sich sicher. Mehrere Anwälte. Möglicherweise Buchprüfer oder Finanzleute; ein oder zwei Armeeoffiziere in Zivil. Sie gehörten zum Stab des Hauses, waren aber auch im feudalen, gesellschaftlichen Sinn Leute, die gewöhnlich ans untere Tischende gesetzt wurden. Das Essen wurde aufgetragen. Ein riesiger Schweinskopf in Aspik, kühles, erfrischendes Zitronensorbet, ein überwältigendes Kuchengebäude – ein superber Blätterteig, offenbar von unglaublicher Reichhaltigkeit und Konditorkunst. Die ausladende Frau aß gierig, hungrig, sie genoss das Essen. Von draußen waren neue Töne zu hören, vom leistungsstarken Motor eines Supersportwagens. Er schoss wie ein weißer Blitz unter den Fenstern vorbei. Im Raum erschallte ein Schrei von der Sicherheitsgarde. «Heil! Heil! Heil Franz!» Die jungen Leute in der Gardegruppe bewegten sich mit der Selbstverständlichkeit eines Militärmanövers, das sie blind beherrschten. Alle hatten sich erhoben. Nur die alte Frau saß unbeweglich, den Kopf leicht erhoben, auf ihrem Podest. Eine neue Erregung erfüllte jetzt den Raum. Die anderen Gäste oder Mitglieder des Haushaltstabes, was auch immer sie waren, verschwanden. Wie Eidechsen in einer Mauerritze, dachte Stafford Nye. Die blonden jungen Männer bildeten eine neue Formation, ihre Schwerter flogen heraus, sie salutierten vor ihrer Herrin. Sie neigte den Kopf zur Bestätigung, die Schwerter wurden in die Scheide gesteckt, und die Männer drehten sich nach ihrer Entlassung um und marschierten durch die Tür aus dem Raum hinaus. Ihr Blick folgte ihnen, richtete sich dann erst auf Renata und später auf Stafford Nye. «Was halten Sie von ihnen?», fragte sie. «Meine Jungs, mein Jugend-Korps, meine Kinder. Ja, meine Kinder. Haben sie Worte, um dies zu beschreiben?» «Ich denke schon», sagte Stafford Nye. «Herrlich, einfach herrlich, gnädige Frau.» «Ah.» Sie neigte den Kopf. Sie lächelte, wodurch unzählige weitere Falten auf ihrem Gesicht entstanden. Es verlieh ihr das Aussehen eines Krokodils. «Eine furchtbare Frau», dachte er, «eine furchtbare Frau, unmöglich, dramatisch.» War das hier die Wirklichkeit? Er mochte es nicht glauben. Es konnte nur eine weitere Festspielbühne sein, auf der ein Stück inszeniert wurde. Die Türen wurden wieder aufgeschlagen. Die Gruppe junger strohblonder Supermänner marschierte wieder ein. Diesmal schwenkten sie keine Schwerter, sondern sangen stattdessen. Sie sangen mit ungewöhnlich schöner Stimme und Wohlklang. Nach vielen Jahren der Popmusik verspürte Stafford Nye ein unglaubliches Wohlgefallen. Das waren geschulte Stimmen. Geschult von Meistern des Sangeskunst. Sie durften ihre Stimme nicht überanstrengen oder falsch singen. Sie mochten die neuen Helden einer künftigen Welt sein, aber was sie sangen, war keine neue Musik. Es war Musik, die er kannte. Ein Arrangement des Preisliedes; irgendwo musste ein verborgenes Orchester sein, auf einer Empore oben im Raum. Es war ein Arrangement oder eine Zusammenstellung verschiedener Wagner-Themen. Es bewegte sich vom Preislied zu den fernen Echos der Rheingoldmusik. Das Elite-Korps bildete nochmals eine Doppelgasse, durch die jemand eintreten sollte. Diesmal war es nicht die alte Kaiserin. Die saß auf ihrem Podest und wartete auf den Ankömmling, wer immer es sein mochte. Und da kam er endlich. Die Musik änderte sich, als er eintrat. Sie spielte das Motiv, das Stafford Nye inzwischen auswendig konnte. Jung-Siegfrieds Melodie, Siegfrieds Hornruf, der sich in all seiner Jugend und seinem Triumph erhob, in seiner Herrschaft über die neue Welt, in die Jung-Siegfried kam, um sie zu erobern. Durch die Tür, durch die Reihen seiner offensichtlichen Gefolgsleute, marschierte einer der schönsten jungen Männer, die Stafford Nye je gesehen hatte. Goldenes Haar, blaue Augen, perfekt proportioniert, wie von einem Zauberstab heraufbeschworen, auf direktem Weg der Welt der Mythen entstiegen. Mythen, Helden, Wiederauferstehung, Wiedergeburt, alles war da. Seine Schönheit, seine Stärke, seine unglaubliche Selbstsicherheit und Arroganz. Er schritt durch die Doppelreihe seiner Bodyguards, bis er vor der abscheulichen Masse von Weiblichkeit stand, die da auf ihrem Thron hockte. Er ließ sich auf ein Knie nieder, führte ihre Hand zu den Lippen, erhob sich dann und streckte einen Arm in die Höhe zur Begrüßung. Er gab den Ruf von sich, den Stafford Nye von den anderen schon gehört hatte: «Heil!» Stafford Nyes Deutsch war nicht sehr gut, aber er glaubte, die Worte zu erkennen: «Heil der Großen Mutter!» Dann sah sich der schöne junge Held um. Ein leichtes, eher gleichgültiges Zeichen des Erkennens, als er Renata anschaute, aber als sein Blick Stafford Nye erreichte, war da echtes Interesse spürbar. Vorsicht, dachte Stafford Nye, Vorsicht! Jetzt musste er seine Rolle richtig spielen. Die von ihm erwartete Rolle. Nur – wie zur Hölle sah diese Rolle aus? Was machte er hier? Was wollten er und die junge Frau angeblich hier? Warum waren sie gekommen? Der Held sprach: «So», sagte er, «wir haben also Gäste!» Und er lächelte mit der Arroganz eines jungen Mannes, der sich seiner großen Überlegenheit über jedes andere Wesen auf dieser Welt bewusst war. «Willkommen, liebe Gäste, alle beide.» Irgendwo in den Tiefen des Schlosses begann eine große Glocke zu läuten. Kein Begräbniston, sie hatte eher eine disziplinarische Note. Stafford Nye fühlte sich wie im Kloster, wo gerade zu einer heiligen Handlung gerufen wurde. «Wir müssen jetzt schlafen», sagte die alte Charlotte. «Wir treffen uns morgen früh um elf Uhr wieder.» Sie schaute auf Renata und Sir Stafford Nye. «Man wird Ihnen Ihre Zimmer zeigen. Ich hoffe, Sie werden gut schlafen.» Stafford Nye sah Renatas Arm zum faschistischen Gruß emporfliegen, der Gruß war jedoch nicht an Charlotte, sondern an den goldhaarigen Knaben gerichtet. Er glaubte zu hören: «Heil Franz Joseph.» Er ahmte die Geste nach und auch er sagte «Heil!» Charlotte sagte zu ihnen: «Würde es Ihnen gefallen, den morgigen Tag mit einem Waldritt zu beginnen?» «Das würde mir sehr gefallen», sagte Stafford Nye. «Und Ihnen, mein Kind?» «Ja, mir auch.» «Also gut. Dann wird es veranlasst. Gute Nacht Ihnen beiden. Ich freue mich, Sie hier willkommen zu heißen. Franz Joseph – leih mir deinen Arm. Wir gehen ins Chinesische Boudoir. Wir haben uns viel zu erzählen, und du wirst morgen beizeiten wieder aufbrechen müssen.» Die Diener eskortierten Renata und Stafford Nye in ihre Gemächer. Nye zögerte einen Augenblick auf der Schwelle. Würden sie wohl ein oder zwei Worte miteinander wechseln können? Er entschied sich dagegen. Solange sie sich innerhalb dieser Schlossmauern befanden, war höchste Vorsicht angebracht. Man konnte nie wissen – die Zimmer konnten mit Mikrofonen ausgestattet sein. Früher oder später würde er ein paar Fragen stellen müssen. Gewisse Dinge weckten finstere Vorahnungen in ihm. Er wurde gerade zu irgendetwas überredet, ja, verführt. Aber wozu? Und wer hatte das veranlasst? Die Zimmer waren schön, aber stickig. Die üppigen Behänge aus Satin und Samt, einige antik, verströmten ein leicht modriges Aroma, gemildert von Gewürzdüften. Er fragte sich, wie oft Renata wohl schon hier gewesen war. Kapitel 11 Die Jungen und die Schönen Nach dem Frühstück am nächsten Morgen, in einem kleinen Frühstückszimmer zu ebener Erde, wartete Renata schon auf ihn. Die Pferde standen vor der Tür. Beide hatten ihre Reitausrüstung mitgebracht. Alles, was sie benötigen könnten, hatten sie in weiser Voraussicht eingepackt. Sie saßen auf und ritten über die Schlosseinfahrt davon. Renata unterhielt sich ausführlich mit dem Reitknecht. «Er fragte, ob wir seine Begleitung wünschen, aber ich habe Nein gesagt. Die Reitwege hier sind mir gut bekannt.» «Ich verstehe. Waren Sie schon einmal hier?» «In den letzten Jahren nicht mehr so oft. Früher kannte ich diese Gegend einmal sehr gut.» Er warf ihr einen scharfen Blick zu. Während sie neben ihm ritt, beobachtete er ihr Profil – die dünne gebogene Nase, den Kopf, der sich so stolz vom Nacken erhob. Sie war eine gute Reiterin, das konnte er sehen. Aber heute Morgen regte sich ein Unbehagen in ihm. Er wusste nicht genau, warum… Seine Gedanken gingen zurück in die Flughafenhalle. Zu der Frau, die da auf ihn zugekommen war, plötzlich neben ihm gestanden hatte. Das Pilsglas auf dem Tisch… Da war nichts, was nicht hätte sein sollen – weder damals noch später. Er war das Risiko eingegangen. Warum löste sie jetzt, lange nachdem dies geschehen war, solch ein Unbehagen in ihm aus? Sie ritten eine kurze Trabstrecke, nach einem Ritt durch den Wald. Es war ein wunderschöner Besitz mit herrlichen Wäldern. In der Ferne sah er Tiere mit Geweihen. Ein Paradies für einen Jäger, ein Paradies für die alte Lebensweise, ein Paradies, das – was? eine Schlange? – enthielt. Wie war es zu Anfang? Es gab immer auch eine Schlange im Paradies. Er zügelte sein Pferd, die Pferde verfielen in Schritt. Er und Renata waren allein – keine Mikrofone, keine lauschenden Wände – die Zeit für seine Fragen war gekommen. «Wer ist sie?», fragte er eindringlich. «Und was ist sie?» «Das ist leicht zu beantworten. So leicht, dass man es kaum glauben kann.» «Nun?», fragte er. «Sie besitzt Ölquellen. Kupfer, Goldminen in Südafrika. Waffenindustrie in Schweden, Uranminen im Norden. Nuklearforschung, riesige Kobaltvorkommen. All das besitzt sie.» «Aber ich habe noch nie von ihr gehört, ich kannte nicht einmal ihren Namen, ich wusste nicht –» «Sie will nicht, dass die Leute darüber Bescheid wissen.» «Kann man solche Dinge denn geheim halten?» «Es ist ganz leicht, wenn man genügend Kupfer, Öl, Nuklearlager, Waffen und all dieses Zeug besitzt. Mit Geld kann man Reklame machen oder aber Geheimnisse hüten, man kann Dinge vertuschen.» «Aber wer ist sie wirklich?» «Ihr Großvater war Amerikaner. Er besaß hauptsächlich Eisenbahnen, glaube ich. Vielleicht auch Schlachtschweine in Chicago, seinerzeit. Es ist, als würde man das Rad der Geschichte zurückdrehen, wenn man das untersucht. Er heiratete eine deutsche Frau. Ich nehme an, Sie haben von ihr gehört, die Dicke Belinda wurde sie genannt. Waffen, Reedereien, der ganze Industrie-Reichtum Europas. Sie war die Haupterbin ihres Vaters.» «Also unermesslicher Reichtum von beiden Seiten», sagte Sir Stafford Nye, «und damit – Macht. Wollen Sie das damit sagen?» «Ja. Sie hat nicht nur geerbt, wissen sie. Sie hat auch selbst Geld verdient. Sie hat einen ausgezeichneten Verstand geerbt, war selbst ein großes Finanzgenie. Alles, was sie anfasste, war von Erfolg gekrönt. Verwandelte sich in Unsummen von Geld, und die investierte sie wieder. Sie holte sich Rat, holte das Urteil anderer Leute ein, verließ sich aber schlussendlich immer auf ihr eigenes. Und sie hat immer gewonnen. Sie vermehrte ihren Reichtum immer weiter, bis er wirklich sagenhaft war. Geld schafft Geld.» «Ja, das verstehe ich. Reichtum muss zwangsläufig weiterwachsen, wenn er schon im Überfluss vorhanden ist. Was besitzt sie?» «Ich sagte es schon. Macht.» «Und sie lebt hier? Oder –?» «Sie reist oft nach Amerika und nach Schweden. Oh ja, sie sucht gewisse Orte auf, aber nicht sehr häufig. Hier hält sie sich bevorzugt auf, im Zentrum eines Netzwerks, wie eine riesige Spinne, die alle Fäden in der Hand hält. Die Finanzen. Und auch andere Fäden.» «Was meinen Sie damit?» «Die schönen Künste. Musik, Gemälde, Schriftsteller. Menschen – junge Menschen.» «Ja, das sieht man. Diese Gemälde, eine wundervolle Sammlung», sagte er. Sie antwortete: «Oben im Schloss gibt es noch ganze Galerien. Da hängen Rembrandts, Giottos und Raphaels, da gibt es Kisten mit Juwelen – einige der wunderbarsten Juwelen der Welt.» «Und alles gehört einer hässlichen, übergewichtigen alten Dame. Ist sie jetzt zufrieden?» «Noch nicht ganz, aber sie ist auf dem Wege dorthin.» «Was will sie denn noch mehr?» «Sie liebt die Jugend. Das ist ihr Machtinstrument. Die Kontrolle der Jugend. Die Welt ist heute voll von rebellischen Jugendlichen. Und das wird noch geschürt. Mit moderner Philosophie, modernem Gedankengut, von Schriftstellern und anderen, die sie finanziert und kontrolliert.» «Aber wie kann sie –» «Ich kann es nicht sagen, weil ich es selbst nicht weiß. Es ist enorm weit verzweigt. In irgendeiner Weise steckt sie dahinter, unterstützt ziemlich kuriose Wohltätigkeitsorganisationen, ernsthafte Philanthropen und Idealisten, gründet unzählige Stiftungen für Studenten, Künstler und Schriftsteller.» «Und Sie sagen, das ist noch nicht –» «Nein, sie ist noch nicht am Ziel. Eine große Umwälzung ist im Gange. Alle glauben daran. Ein neuer Himmel, eine neue Erde sollen geschaffen werden. Alle Anführer großer Bewegungen haben das seit Tausenden von Jahren versprochen. Es wurde von Religionen versprochen, die an einen Messias glauben, von denen die kommen, um zu predigen wie Buddha. Es wird versprochen von Politikern. Das diffuse Himmelreich, das leicht zu erlangen ist, wie das, an das die Assassinen glaubten und das der Alte vom Berge seinen Anhängern versprochen und ihnen auch, von ihrem Standpunkt aus betrachtet, gegeben hat.» «Ist sie auch in Drogengeschäfte verwickelt?» «Ja. Doch natürlich ohne wirkliche Überzeugung. Es ist nur ein Mittel, den Menschen ihren Willen aufzuzwingen. Es ist auch eine Art von Menschenvernichtung, von Schwachen, die ihrer Meinung nach nichts taugen, auch wenn sie einmal vielversprechend waren. Selbst würde sie niemals Drogen nehmen. Sie ist sehr stark. Aber mit Drogen kann man schwache Menschen leichter vernichten als mit irgendwas sonst.» «Und Gewalt? Wie ist es mit Gewalt? Man kann nicht alles nur mit Propaganda erreichen.» «Nein, natürlich nicht. Propaganda ist die erste Stufe, dahinter türmt sich ein riesiges Waffenlager auf. Waffen, die über Entwicklungsländer an andere Bestimmungsorte gelangen. Panzer und Gewehre und Atomwaffen, die nach Afrika gehen, in die Südsee und nach Südamerika. In Südamerika entsteht eine große Truppe. Streitkräfte aus jungen Männern und Frauen, die gedrillt und ausgebildet werden. Es gibt enorme Waffenlager – chemische Kampfmittel.» «Ein Albtraum! Woher wissen Sie das alles, Renata?» «Zum einen, weil es mir zugetragen wurde; aus Informationen, die ich erhalten habe, zum anderen, weil ich aktiv nach den Beweisen gesucht habe.» «Aber Sie? Sie und diese Leute da?» «Meist steckt irgendetwas völlig Idiotisches hinter allen großartigen und umfassenden Projekten.» Sie lachte plötzlich. «Sehen Sie, sie war einmal in meinen Großvater verliebt. Eine lächerliche Geschichte. Er lebte hier in dieser Gegend. Er besaß ein Schloss ein oder zwei Meilen von hier.» «War er ein besonders genialer Mann?» «Überhaupt nicht. Er war nur ein ausgezeichneter Sportler. Gut aussehend, maßlos und attraktiv für Frauen. Und aus diesem Grunde ist sie in gewissem Sinne meine Beschützerin. Und ich bin eine von ihren Konvertitinnen, ihren Sklavinnen! Ich arbeite für sie. Ich finde Leute für sie. Ich führe in verschiedenen Teilen der Welt ihre Befehle aus.» «Tun Sie das?» «Was soll das heißen?» «Ich verstehe Sie nicht ganz.» Er sah Renata an und dachte wieder an den Flughafen. Er arbeitete für Renata, er arbeitete mit Renata. Sie hatte ihn auf dieses Schloss gebracht. Wer hatte ihr gesagt, sie solle ihn hierherbringen? Die große, feiste Charlotte, die da mitten in ihrem Spinnennetz saß? Er hatte in bestimmten diplomatischen Kreisen den Ruf gehabt, unzuverlässig zu sein. Er konnte diesen Leuten jetzt vielleicht von Nutzen sein, auf eine niedere und ziemlich demütigende Weise. Und plötzlich dachte er quasi in einem Nebel von Fragezeichen: Auf welcher Seite steht Renata??? Ich bin mit ihr ein Risiko eingegangen am Frankfurter Flughafen. Aber das war richtig so. Es hat funktioniert. Mir ist nichts passiert. Und doch, dachte er, wer ist sie? Was ist sie? Ich weiß es nicht. Ich kann nicht sicher sein. Heute kann man sich auf niemanden verlassen, auf der ganzen Welt nicht. Auf überhaupt niemand. Sie wurde vielleicht angewiesen, mich einzufangen. Mich in der hohlen Hand zu halten, also könnte die ganze Geschichte in Frankfurt geschickt inszeniert worden sein. Das passte zu meinem Hang zum Risiko und würde mich ihrer sicher machen. Mich veranlassen, ihr Vertrauen zu schenken. «Lassen sie uns noch mal traben», sagte sie. «Wir haben die Pferde zu lange im Schritt gehen lassen.» «Ich habe Sie noch nicht gefragt, wo Sie in dieser ganzen Geschichte stehen.» «Ich nehme Befehle entgegen.» «Von wem?» «Es gibt eine Opposition. Es gibt immer eine Opposition. Es gibt Menschen, denen das, was da vor sich geht, verdächtig erscheint. Auf welche Weise die Welt verändert werden soll, wie das stattfinden soll mit Kapital, Reichtum, Waffen, Idealismus, großen, machtvoll tönenden Worten. Es gibt Menschen, die sagen, das darf nicht geschehen.» «Und Sie gehören dazu?» «Das sage ich jetzt so.» «Wie meinen Sie das, Renata?» «Ich behaupte es.» Er sagte: «Dieser junge Mann gestern Abend –» «Franz Joseph?» «Heißt er so?» «Er ist jedenfalls unter diesem Namen bekannt.» «Aber er hat sicher noch einen anderen Namen?» «Glauben Sie?» «Er ist doch nicht etwa Jung-Siegfried?» «Haben Sie ihn als das betrachtet? Sie haben ihn als das erkannt, wofür er steht?» «Ich glaube schon. Die Jugend. Die heldenhafte Jugend, die arische Jugend, es muss arische Jugend sein hierzulande. Diese Haltung gibt es immer noch. Eine Herrenrasse, die Supermänner. Sie müssen arischer Abstammung sein.» «Oh ja. Das hat die Hitlerzeit überstanden. Es tritt nicht immer so offen zutage, und in anderen Teilen der Welt wird es nicht so sehr betont. Südamerika, wie ich schon sagte, ist eine der Bastionen. Und Peru, auch Südafrika.» «Was macht Jung-Siegfried eigentlich? Was macht er, außer gut auszusehen und die Hand seiner Beschützerin zu küssen?» «Oh, er ist ein sehr guter Redner. Er spricht, und seine Anhänger folgen ihm bis in den Tod.» «Ist das wahr?» «Er glaubt es jedenfalls.» «Und Sie?» «Ich denke, ich könnte es auch glauben.» Sie fügte hinzu. «Rhetorik ist sehr beängstigend, wissen Sie. Was eine Stimme bewirken kann, was Worte ausrichten können, und es müssen noch nicht einmal besonders überzeugende Worte sein. Nur die Art, wie sie vorgetragen werden. Seine Stimme tönt wie eine Glocke und die Frauen weinen und schreien und fallen in Ohnmacht, wenn er sie anspricht – sie werden das selbst erleben.» Sie fuhr fort: «Sie haben Charlottes Sicherheitskader gestern Abend gesehen, alle waren herausgeputzt – die Leute verkleiden sich gerne heutzutage. Man begegnet ihnen überall auf der Welt in ihrer selbst gewählten Ausstaffierung, überall anders, einige mit langem Haar und Bärten und die Mädchen mit ihren weißen Nachthemd-Hängekleidchen; sie reden von Frieden und Schönheit und der wunderbaren Welt, der Welt der Jungen, die ihr Eigen sein wird, wenn sie genug von der alten Welt zerstört haben. Das ursprüngliche Land der Jugend lag einmal westlich der Irischen See, nicht wahr? Ein sehr einfacher Ort, ein ganz anderes Land der Jugend als das, was jetzt geplant ist – mit silbrigen Stränden und Meeresgesang. Jetzt aber wollen wir Anarchie, Niederreißen und Zerstörung. Nur noch die Anarchie kann die zufriedenstellen, die hinter ihr hermarschieren. Es ist beängstigend, aber auch wundervoll – wegen der Gewalt, weil es mit Schmerzen erkauft wird und mit Leiden –» «So betrachtet man also heute die Welt?» «Manchmal.» «Und was soll ich als Nächstes tun?» «Begleiten Sie Ihre Führerin. Ich bin Ihre Führerin. Wie Vergil bei Dante, ich führe Sie in die Hölle hinunter, ich zeige Ihnen die sadistischen Filme, zum Teil noch von der alten SS kopiert, zeige Ihnen Grausamkeiten und Schmerz und die Anbetung der Gewalt. Und ich zeige Ihnen die großen Träume vom Paradies in Frieden und Schönheit. Sie werden das eine nicht vom anderen unterscheiden können. Aber Sie werden sich entscheiden müssen.» «Kann ich Ihnen vertrauen, Renata?» «Das müssen Sie selbst entscheiden. Sie können vor mir weglaufen, wenn Sie wollen, oder Sie können bei mir bleiben und die Neue Welt sehen. Die Neue Welt, die sich im Aufbau befindet.» «Die ist doch nur aus Pappe», sagte Sir Stafford heftig. Sie sah ihn fragend an. «Wie bei Alice im Wunderland. Die Karten, die Spielkarten aus Pappe, die alle in die Luft fliegen. Umherfliegen, Könige, Königinnen und Buben. Alle.» «Wie meinen Sie das – was genau wollen Sie damit überhaupt sagen?» «Ich meine, es ist nicht die Wirklichkeit. Es ist alles nur Fantasie. Das ganze verdammte Zeugs ist nur Schein.» «In gewissem Sinne, ja.» «Alle sind kostümiert und spielen eine Rolle, ziehen eine Show ab. Ich komme der Sache schon näher, nicht wahr, der wahren Bedeutung?» «Auf eine Weise, ja, auf andere Weise, nein –» «Eines möchte ich Sie noch fragen, denn es verwirrt mich. Die Große Charlotte hat Ihnen doch aufgetragen, mich zu ihr zu bringen – warum? Was wusste Sie überhaupt von mir? Was dachte sie denn, wie ich ihr nützlich sein könnte?» «Ich weiß es nicht genau – möglicherweise als eine Art graue Eminenz – hinter einer Fassade. Das wäre doch sehr passend für Sie.» «Aber sie weiß doch rein gar nichts über mich!» «Ach das!» Renata brach plötzlich in heftiges Gelächter aus. «Es ist wirklich zu lächerlich, immer wieder derselbe alte Unsinn!» «Ich verstehe Sie nicht, Renata.» «Nein – weil es dermaßen simpel ist. Mr. Robinson würde es verstehen.» «Würden Sie mir bitte erklären, wovon Sie überhaupt reden?» «Es ist immer dieselbe alte Sache – ‹Nicht was man ist, sondern was man weiß, ist wichtig.› Ihre Großtante Matilda und die Große Charlotte waren auf derselben Schule.» «Sie wollen wirklich damit sagen –» «Sie haben ihre Kindheit zusammen verbracht.» Er starrte sie an. Dann warf er den Kopf zurück und brüllte vor Lachen. Kapitel 12 Der Hofnarr Sie verließen das Schloss am Mittag, nachdem sie sich von ihrer Gastgeberin verabschiedet hatten. Sie fuhren die gewundene Straße hinunter, ließen das Schloss hoch oben hinter sich und kamen schließlich nach stundenlanger Fahrt zu einem Stützpunkt in den Dolomiten – ein Amphitheater in den Bergen, wo Versammlungen, Konzerte und Treffen der verschiedenen Jugendgruppen veranstaltet wurden. Renata hatte ihn dort hingebracht, seine Führerin, und von seinem Platz auf dem nackten Fels hatte er verfolgt, was sich dort zutrug. Er verstand jetzt ein bisschen besser, wovon sie früher am Tag gesprochen hatte. Diese großartige Massenversammlung war mit Leben erfüllt gewesen, wie alle Massenveranstaltungen es sein können, ob sie nun von einem missionarischen Religionsführer im Madison Square Garden in New York einberufen waren oder ob sie im Schatten einer walisischen Kirche stattfanden, in einer Fußballmenge oder bei den Superdemonstrationen, die losmarschieren, um Botschaften, die Polizei, Universitäten und alles Übrige anzugreifen. Sie hatte ihn dort hingebracht, um ihm die Bedeutung des Begriffs ‹Jung-Siegfried› zu demonstrieren. Franz Joseph, wenn das denn sein wirklicher Name war, hatte zur Menge gesprochen. Seine Stimme hob und senkte sich, auf merkwürdig erregende Weise. Ihre emotionale Anziehungskraft hatte diese stöhnende, fast jammernde Menge junger Frauen und Männer in Bann gehalten. Jedes Wort, das er äußerte, schien bedeutungsschwer und hatte eine unglaubliche Überzeugungskraft. Die Menge hatte reagiert wie ein Orchester. Seine Stimme war der Dirigentenstab. Und doch, was hatte der Junge eigentlich gesagt? Was war Jung-Siegfrieds Botschaft? Als es zu Ende war, konnte Stafford Nye sich an kein Wort erinnern. Aber er wusste, dass der Redner sehr bewegt gewesen war, Dinge versprochen hatte, in enthusiastische Erregung geraten war. Nun war es vorüber. Die Menge war auf dem Felsplateau umhergewankt, rufend, schreiend. Einige Mädchen schrieen vor Begeisterung. Andere waren in Ohnmacht gefallen. Was war das für eine Welt heutzutage?, dachte er. Alles war nur darauf angelegt, Emotionen zu erwecken. Disziplin? Zurückhaltung? Keines dieser Dinge zählte mehr auch nur das geringste. Nichts war wichtig, außer zu fühlen. Welche Welt konnte man damit erschaffen? Seine Führerin berührte ihn am Arm, und sie lösten sich aus der Menge. Sie fanden ihren Wagen, und der Fahrer brachte sie auf ihm offensichtlich wohlbekannten Wegen in eine Stadt, zu einem Gasthaus am Berghang, wo Zimmer für sie reserviert waren. Später verließen sie das Gasthaus und spazierten auf einem ausgetrampelten Pfad den Berghang hinauf bis zu einer Bank. Dort sagte Stafford wieder: «Alles aus Pappe.» Für etwa fünf Minuten saßen sie da und schauten ins Tal hinunter, dann fragte Renata: «Nun?» «Was fragen sie mich denn?» «Was Sie von dem, was ich Ihnen bisher gezeigt habe, halten.» «Ich bin nicht überzeugt», sagte Stafford Nye. Sie gab einen Seufzer von sich, einen unerwartet tiefen Seufzer. «Ich hatte gehofft, dass Sie das sagen würden.» «Nichts davon ist wahr, oder? Es ist alles eine gigantische Show, von einem Regisseur veranstaltet – einer ganzen Gruppe von Regisseuren womöglich.» «Diese monströse Frau engagiert den Regisseur, sie bezahlt ihn. Wir haben den Regisseur nicht zu Gesicht bekommen. Heute haben wir nur den Star-Schauspieler gesehen. Was halten Sie von ihm?» «Auch er ist nicht real», sagte Stafford Nye. «Er ist nur ein Schauspieler, ein erstklassiger Schauspieler, hervorragend inszeniert.» Renata lachte überraschend. Sie stand von ihrem Sitzplatz auf. Plötzlich sah sie aufgeregt aus und sagte leicht ironisch: «Ich habe gewusst, dass Sie es merken würden. Ich wusste, dass Sie mit beiden Beinen auf der Erde bleiben. Sie waren sich immer sicher, bei allem, was Ihnen im Leben begegnet ist. Sie haben den Schwindel durchschaut, haben immer alles und jeden als das erkannt, was sie wirklich waren. Nicht nötig, nach Stratford zu fahren und sich Shakespeare anzusehen, um zu wissen, für welche Rolle Sie zu besetzen sind – Könige und große Herren müssen einen Narren haben – einen Hofnarren, der dem König die Wahrheit sagt und Klartext mit ihm redet, sich über all die Dinge lustig macht, von denen andere sich blenden lassen.» «Das bin ich also, ein Hofnarr?» «Empfinden Sie das nicht selbst so? Genau das wollen wir. Das ist es, was wir brauchen. ‹Pappe› haben Sie gesagt. Eine riesige, wohlinszenierte, wunderbare Show. Und wie recht Sie haben! Aber die Menschen lassen sich übertölpeln. Sie glauben, es ist etwas Wundervolles, oder sie halten es für teuflisch, oder sie glauben, es ist unheimlich wichtig. Natürlich ist es das nicht – man muss nur herausfinden, wie man es den Leuten beibringt, dass die ganze Sache einfach nur albern ist, nur verdammt albern. Das werden Sie und ich tun.» «Ist das Ihre Idee, dass wir das Ganze am Ende entlarven?» «Ich gebe zu, es scheint nicht im Entferntesten möglich, aber wenn die Menschen erst einmal erkennen, dass etwas nicht wahr ist, dass es nur ein einziger riesengroßer Schabernack ist – nun…» «Wollen Sie eine Predigt über die Vernunft halten?», fragte er. «Natürlich nicht», sagte Renata, «niemand würde zuhören, oder?» «Im Augenblick wohl nicht.» «Nein, wir müssen ihnen Beweise vorlegen – Tatsachen – Wahrheiten –» «Haben wir denn so etwas?» «Ja. Was ich via Frankfurt mitgebracht habe – als Sie mir geholfen haben, es nach England zurückzubringen –» «Ich verstehe nicht –» «Noch nicht – Sie werden es später erfahren. Jetzt aber müssen wir eine Rolle spielen. Wir sind bereit und willig, förmlich atemlos vor Eifer, uns indoktrinieren zu lassen. Wir beten die Jugend an. Wir sind Anhänger und Gläubige von Jung-Siegfried.» «Sie können das rüberbringen, zweifellos. Ich für mein Teil bin mir nicht so sicher. Ich war niemals sehr erfolgreich als Anhänger von irgendetwas. Der Hofnarr ist nicht so. Er ist der große Entzauberer. Niemand schätzt das sehr im Augenblick, oder?» «Natürlich nicht. Nein, diese Seite dürfen Sie nicht zeigen. Außer wenn Sie über Ihre Herren und Meister reden, Politiker und Diplomaten, das Außenministerium, das Establishment, all diese Dinge. Dann dürfen Sie verbittert sein, maliziös, witzig, etwas grausam.» «Ich sehe immer noch nicht, welche Rolle ich bei diesem Weltenkreuzzug spielen soll.» «Es ist eine sehr alte Rolle, eine, die jeder versteht und schätzt. Da ist etwas drin für Sie. Das ist Ihre Schiene. Sie wurden in der Vergangenheit immer verkannt, aber Jung-Siegfried und alles, wofür er steht, wird Ihnen die Aussicht auf Belohnung geben. Weil Sie ihm alle Geheimtipps geben, die er über Ihr Land haben möchte. Er wird Ihnen eine Machtposition versprechen in diesem Land, für die kommenden, wunderbaren Zeiten.» «Wollen Sie damit andeuten, das es sich um eine Weltbewegung handelt? Stimmt das?» «Natürlich. Fast wie ein Hurrikan, einer mit Namen. Flora oder Little Annie. Sie kommen von Süden, Norden, Osten oder Westen, aber sie kommen wie aus dem Nichts und zerstören alles. Das ist es, was alle wollen. In Europa, in Asien und Amerika. Vielleicht auch Afrika, doch dort besteht noch keine große Begeisterung. Dinge wie Macht, Unterschlagung und dergleichen sind noch etwas neu für die Leute dort. Aber es gibt eine Weltbewegung. Von der Jugend geleitet und mit der Vitalität der Jugend betrieben. Sie besitzen keine Kenntnisse, keine Erfahrung, aber sie haben Visionen und Vitalität, und sie haben Geld im Hintergrund. Ströme von Geld fließen ihnen zu. Es gab zu viel Materialismus, also haben sie etwas anderes verlangt, und das haben sie bekommen. Aber da es auf Hass begründet ist, kann es nichts bewirken. Es kann nicht in Gang kommen. Erinnern Sie sich nicht an 1919? Alle gingen mit begeisterter Miene umher und sagten, der Kommunismus sei die Antwort auf alle Fragen, die Marxistische Doktrin würde einen neuen Himmel auf Erden schaffen. Aber mit wem kann man denn solche Ideen in die Tat umsetzen? Immer nur mit denselben Menschen, die schon immer da waren. Man kann jetzt eine Neue Welt schaffen, oder die Leute glauben das zumindest, aber diese neue Welt besteht aus denselben Menschen wie die Welt davor und die davor, unter welchem Namen man sie auch immer einordnen will. Wenn man es mit denselben Menschen zu tun hat, werden sie alles wie immer weiterführen. Man muss nur in die Geschichte schauen.» «Interessiert sich heutzutage überhaupt jemand für Geschichte?» «Nein. Sie schauen lieber nach vorn in eine undurchsichtige Zukunft. Früher sollte die Wissenschaft die Lösung für alle Dinge bringen. Freudsche Theorien und freier Sex sollten die nächste Antwort auf das menschliche Leid sein. Man dachte, die Menschen hätten dann keine mentalen Probleme mehr. Wenn damals jemand gesagt hätte, dass die psychiatrischen Kliniken heute voller sein würden denn je, hätte das niemand geglaubt. Das ist das Ergebnis der Abschaffung von Repressionen.» Stafford Nye unterbrach sie: «Ich möchte Sie etwas fragen», sagte Sir Stafford Nye. «Und was?» «Wo fahren wir als Nächstes hin?» «Nach Südamerika. Vielleicht auf dem Weg nach Pakistan oder Indien. Sicherlich müssen wir auch in die USA gehen. Dort passieren sehr viele interessante Dinge, besonders in Kalifornien.» «An den Universitäten?» Sir Stafford Nye seufzte. «Die Ereignisse an den Universitäten sind wirklich langweilig. Sie wiederholen sich zu oft.» Einen Augenblick saßen sie stumm da. Das Licht wurde schwächer, aber eine Bergspitze zeigte sich in sanftem Rot. Stafford Nye sagte in nostalgischem Ton: «Wenn wir jetzt noch etwas Musik hätten – in diesem Augenblick –, wissen Sie, was ich mir dann wünschen würde?» «Noch mehr Wagner? Oder haben Sie sich von Wagner losgesagt?» «Nein – Sie haben ganz recht – noch mehr Wagner. Ich ließe Hans Sachs unter seinem alten Baum sitzen und über die Welt sagen: ‹Wahn, Wahn, überall Wahn.›» «Ja, das trifft es. Es ist auch wunderbare Musik. Nur sind wir nicht dem Wahn verfallen. Wir sind völlig normal.» «Außergewöhnlich normal», sagte Stafford Nye. «Das ist das Problem. Da ist noch eine Sache, die ich wissen möchte.» «Nun?» «Vielleicht werden Sie es mir nicht sagen. Aber ich muss es wissen. Kann man denn wenigstens ein bisschen Spaß bei dieser ganzen Geschichte haben, die wir da in Angriff nehmen?» «Aber sicher. Warum denn nicht?» «Wahn, Wahn, überall Wahn – aber wir werden es sehr genießen. Werden wir ein langes Leben haben, Mary Ann?» «Wahrscheinlich nicht», erwiderte Renata. «Das ist die richtige Einstellung. Ich gehe mit Ihnen, meine Gefährtin und meine Führerin. Werden wir als Ergebnis unserer Bemühungen eine bessere Welt bekommen?» «Ich glaube nicht, aber vielleicht eine liebenswürdigere. Heute ist sie voller Doktrinen, aber ohne Liebenswürdigkeit.» «Das genügt mir», sagte Stafford Nye. «Auf zu neuen Taten!» 3. Buch. Im In- und Ausland  Kapitel 13 Konferenz in Paris Fünf Männer saßen in einem Raum in Paris zusammen. Dieser Raum hatte schon bedeutende historische Konferenzen gesehen. Ziemlich viele sogar. Diese Konferenz war jedoch in vieler Hinsicht eine Versammlung anderer Art, versprach allerdings nicht weniger historisch zu werden. Monsieur Grosjean hatte den Vorsitz. Er war ein griesgrämiger Mann, der sein Bestes tat, leicht über die Dinge hinwegzugehen. Auf charmante Art und Weise, was ihm in der Vergangenheit schon gute Dienste geleistet hatte. Doch er hatte das Gefühl, dass ihm das heute nicht sehr von Nutzen war. Signor Vitelli war erst eine Stunde zuvor mit dem Flugzeug aus Italien eingetroffen. Seine Bewegungen waren hektisch, sein Verhalten unbeherrscht. «Das übertrifft alles», sagte er gerade, «das übertrifft alles, was man sich vorstellen kann.» «Diese Studenten», sagte Monsieur Grosjean, «haben wir nicht alle darunter zu leiden?» «Hier geht es um mehr als nur um Studenten. Es ist ein Bienenschwarm. Eine große Naturkatastrophe. Größer, als man sich vorstellen kann. Sie marschieren. Sie haben Maschinengewehre. Von irgendwoher haben sie Flugzeuge bekommen. Sie verkünden, sie wollen ganz Norditalien übernehmen. Aber das ist doch Wahnsinn! Das sind doch Kinder – nichts weiter. Aber sie haben Bomben, Sprengstoff. Allein in Mailand sind sie stärker als die Polizeikräfte. Was sollen wir tun? Das Militär? Auch die Armee – sie befindet sich im Aufstand. Sie sagt, sie sei mit les jeunes. Sie sagen, es bestehe keine Hoffnung für die Welt außer in der Anarchie. Sie sprechen von einer Sache, die sie eine ‹Neue Welt› nennen, aber das kann doch einfach nicht sein.» Monsieur Grosjean seufzte. «Die ist unter den jungen Leuten sehr populär», sagte er, «die Anarchie. Der Glaube an die Anarchie. Das wissen wir noch aus der Algerien-Geschichte. Das wissen wir von all den Problemen, die unser Land und unser Kolonialreich erlitten haben. Und was können wir ausrichten? Das Militär? Am Ende steht es hinter den Studenten.» «Die Studenten, ach ja, die Studenten», sagte Monsieur Poissonier. Er war Mitglied der französischen Regierung, ihm war schon allein das Wort ‹Student› ein Gräuel. Wenn es nach ihm ginge, so würde er die Asiatische Grippe oder gar einen Ausbruch der Beulenpest den Aktivitäten der Studenten vorziehen. Eine Welt ohne Studenten! Davon träumte Monsieur Poissonier zuweilen. Das waren wunderbare Träume. Leider hatte er sie nicht allzu oft. «Was die Amtsrichter betrifft», sagte Monsieur Grosjean. «Was ist mit unserer Justizbehörde geschehen? Die Polizei – ja, die ist noch loyal, aber die Richterschaft. Sie weigert sich, Strafen zu verhängen über die jungen Männer, die vorgeführt werden. Junge Leute, die Besitz zerstört haben, Regierungsbesitz, Privatbesitz – jede Art von Besitz. Man wüsste gern, warum die Richter das nicht tun wollen. Neulich habe ich Nachforschungen angestellt. Die Präfektur hat mir einige Dinge angedeutet. Der Lebensstandard der Angehörigen der Justizbehörden müsse verbessert werden, besonders in den Provinzen.» «Aber, aber», sagte Monsieur Poissonier, «seien Sie vorsichtig mit dem, was Sie da sagen.» «Ma foi, warum denn? Man muss die Dinge beim Namen nennen. Wir haben schon früher Betrügereien erlebt, gigantische Betrügereien. Und auch heute steckt eine Menge Geld hinter der Sache. Kapital, wir wissen nicht, wo es herkommt. Aber die Präfektur hat mich wissen lassen – und ich glaube das –, dass sie langsam verstehen, worauf es hinausläuft. Können wir uns einen korrupten Staat vorstellen, der aus fremden Quellen subventioniert wird?» «In Italien ist es dasselbe», sagte Signor Vitelli, «in Italien, ach, ich könnte Ihnen da Dinge erzählen. Ja, ich könnte Ihnen berichten, welchen Verdacht wir haben. Aber wer, wer korrumpiert unsere Welt? Eine Gruppe von Industriellen, von Wirtschaftsmagnaten? Wie kann das nur sein.» «Das muss aufhören», sagte Monsieur Grosjean. «Es müssen endlich Maßnahmen ergriffen werden. Militärische Maßnahmen, mit der Luftwaffe. Diese Anarchisten, diese Aufrührer kommen aus allen Schichten. Man muss das endlich niederschlagen.» «Kontrollen mit Tränengas haben sich als ziemlich erfolgreich erwiesen», sagte Monsieur Poissonier zweifelnd. «Tränengas reicht nicht aus. Genauso gut könnte man einen Haufen Studenten hinsetzen und Zwiebeln schälen lassen. Lediglich Tränen würden ihnen aus den Augen rinnen. Man muss härtere Maßnahmen ergreifen.» Monsieur Poissonier sagte mit schockierter Stimme: «Sie schlagen doch wohl nicht den Einsatz von Atomwaffen vor?» «Atomwaffen? Quelle blague! Was sollen wir mit Atomwaffen anfangen? Was würde aus dem Boden, aus der Luft Frankreichs, wenn wir nukleare Waffen einsetzten? Wir können Russland vernichten, das wissen wir. Wir wissen aber auch, dass Russland uns vernichten kann.» «Sie wollen doch damit nicht andeuten, dass marschierende und demonstrierende Studentengruppen unser System vernichten könnten?» «Genau das. Man hat mich vor solchen Ereignissen gewarnt. Sie errichten Waffenlager und Depots mit verschiedenen Arten von chemischen Kampfmitteln und anderem. Ich habe Berichte von einigen unserer bedeutendsten Wissenschaftler erhalten. Bestimmte Geheimnisse wurden öffentlich. Vorräte – geheime Vorräte –, Kriegsgerät ist gestohlen worden. Was wird noch geschehen? – Das frage ich Sie. Was wird noch passieren?» Die Frage beantwortete sich überraschend und schneller, als Monsieur Grosjean geglaubt hatte. Die Tür ging auf, und der erste Sekretär trat mit auffallender Besorgnis auf seinen Vorgesetzten zu. Monsieur Grosjean betrachtete ihn mit Missfallen. «Habe ich nicht gesagt, ich wünsche keine Unterbrechungen?» «In der Tat, Monsieur le Président, aber hier geht es um etwas Außergewöhnliches –» Er beugte sich zum Ohr seines Chefs. «Der Marschall ist hier. Er verlangt Einlass.» «Der Marschall. Sie wollen sagen –» Der Sekretär nickte zur Bekräftigung mehrmals heftig mit dem Kopf. Monsieur Poissonier sah seine Kollegen verwirrt an. «Er verlangt, vorgelassen zu werden, und akzeptiert keine Ablehnung.» Die beiden anderen Männer im Raum blickten zuerst Grosjean, dann den aufgeregten Italiener an. «Wäre es nicht besser», sagte Monsieur Coin, der Innenminister. Er hielt inne, als die Tür wieder aufgerissen wurde und ein Mann hereinmarschierte. Es war ein wohlbekannter Mann. Ein Mann, dessen Wort Gesetz gewesen war, vormals in Frankreich sogar noch über dem Gesetz gestanden hatte. Ihn gerade jetzt zu sehen, war eine unwillkommene Überraschung für alle Anwesenden. «Ah, seien Sie willkommen, liebe Kollegen», sagte der Marschall. «Ich komme Ihnen zu Hilfe. Unser Land ist in Gefahr. Es besteht Handlungsbedarf, sofortiger Handlungsbedarf! Ich komme, um mich Ihnen zur Verfügung zu stellen. Ich übernehme die Verantwortung für alle Aktionen in dieser Krise. Es kann gefährlich werden, ich weiß das, aber Ehre geht über Gefahr. Und die Rettung Frankreichs geht über Gefahr. Sie befinden sich auf dem Marsch hierher. Eine riesige Horde von – Studenten, von Kriminellen, die aus dem Gefängnis befreit wurden, einige verbrecherische Mörder. Volksverhetzer. Sie skandieren Namen. Sie singen Lieder. Sie rufen die Namen ihrer Lehrer, ihrer Philosophen, derer, die sie auf diesen Weg des Aufruhrs geschickt haben. Das wird den Untergang Frankreichs bedeuten, wenn nicht etwas getan wird. Sie sitzen hier und reden, bejammern die Zustände. Wir müssen etwas tun. Ich habe zwei Regimenter hierherbeordert. Ich habe Alarmbereitschaft für die Luftwaffe angeordnet, kodierte Sondertelegramme sind an unsere alliierten Nachbarn, an meine Freunde in Deutschland gegangen, denn sie sind jetzt unsere Alliierten in dieser Krise! Der Aufruhr muss niedergeschlagen werden! Rebellion! Aufstand! Es besteht große Gefahr für die Menschen, für Frauen und Kinder, für den Besitz. Ich muss jetzt wieder fort, um den Aufstand zu verhindern. Ich werde zu den Aufrührern sprechen, als ihr Vater, ihr Anführer. Diese Studenten, sogar diese Kriminellen, sind meine Kinder. Sie sind Frankreichs Jugend. Darüber werde ich zu ihnen sprechen. Sie werden mir zuhören, die Regierung wird umgebildet werden, sie können ihr Studium wieder aufnehmen, nach ihren eigenen Vorstellungen. Ihre Stipendien waren ungenügend, ihr Leben war ohne Schönheit, ohne Führung. Ich werde ihnen all das versprechen. Ich werde in meinem eigenen Namen sprechen und auch in Ihrem Namen, im Namen der Regierung. Sie haben Ihr Bestes getan. Sie haben gehandelt, so gut Sie konnten. Aber es bedarf einer höheren Führerschaft. Meiner Führung. Ich muss jetzt gehen. Ich habe noch eine ganze Liste von geheimen Telegrammen, die verschickt werden müssen. Atomare Abwehrwaffen, die man in unbewohnten Gegenden nutzen kann, können so in modifizierter Form aktiviert werden, damit sie den Mob in Angst und Schrecken versetzen. Wir wissen allerdings, dass sie keine wirkliche Gefahr darstellen. Ich habe alles durchdacht. Mein Plan funktioniert. Kommen Sie, meine loyalen Freunde, kommen Sie mit mir zusammen.» «Marschall, wir können nicht gestatten – Sie dürfen sich selbst nicht in Gefahr bringen. Wir müssen –» «Ich werde nicht hören auf das, was Sie sagen. Ich nehme meinen Untergang, mein Schicksal, in Kauf.» Der Marschall schritt zur Tür. «Draußen befindet sich mein Stab. Meine ausgewählte Garde. Ich werde jetzt gehen und zu den jungen Rebellen sprechen, dieser Blüte der Schönheit und des Terrors. Ich werde ihnen sagen, was ihre Pflicht ist.» Er verschwand durch die Tür mit der Geste eines großen Schauspielers, der gerade seine Lieblingsrolle spielt. «Bon Dieu, er meint es wirklich ernst!», sagte Monsieur Poissonier. «Er setzt sein Leben aufs Spiel», sagte Signor Vitelli. «Wer weiß? Das ist tapfer, er ist ein tapferer Mann. Es ist wirklich tapfer, aber was wird ihm wohl zustoßen? In der Stimmung, in der sich les jeunes gegenwärtig befinden, könnten sie ihn töten.» Ein zustimmender Seufzer kam Monsieur Poissonier von den Lippen. «Es ist möglich», sagte er. «Ja, sie könnten ihn umbringen.» «Das darf man natürlich nicht wünschen», sagte Monsieur Grosjean vorsichtig. Doch es war genau das, was Monsieur Grosjean sich wünschte. Er hoffte es, doch sein tiefer Pessimismus sagte ihm, dass selten etwas geschah, was man sich wünschte. In Wirklichkeit hatte er eine viel schrecklichere Vision vor Augen. Es war sehr gut möglich, es lag in der Tradition der Vergangenheit des Marschalls, dass er irgendwie ein Pack aufgeputschter, blutrünstiger Studenten dazu verleiten konnte, auf ihn zu hören, seinen Versprechungen zu glauben und ihn wieder in seine einstige Machtposition zu versetzen. Das war schon ein- oder zweimal in der Laufbahn des Marschalls passiert. Seine persönliche Anziehungskraft war derartig, dass ihr die Politiker gerade dann erlegen waren, als sie es am wenigsten erwartet hatten. «Wir müssen ihn aufhalten», rief er. «Ja, ja», sagte Signor Vitelli, «er darf der Welt nicht verloren gehen.» «Das ist zu befürchten», sagte Monsieur Poissonier. «Er hat zu viele Freunde in Deutschland, zu viele Kontakte, und Sie wissen, dass sie in Deutschland sehr schnell militärische Maßnahmen ergreifen. Die würden sich geradezu auf eine solche Gelegenheit stürzen.» «Bon Dieu, Bon Dieu», sagte Monsieur Grosjean und wischte sich über die Stirn. «Was sollen wir tun? Was können wir überhaupt tun? Was ist das für ein Krach? Sind das etwa Gewehre?» «Nein, nein», sagte Monsieur Poissonier beschwichtigend. «Das sind nur die Kaffeetabletts aus der Kantine.» «Ich wüsste da ein Zitat», sagte Monsieur Grosjean, er liebte Theaterstücke. «Wenn es mir nur einfallen würde. Ein Shakespeare-Zitat. ‹Will keiner mich von diesem –›» ‹«… turbulenten Priester befreien›», ergänzte Monsieur Poissonier. «Aus einem Theaterstück von Beckett. Ein Verrückter wie der Marschall ist viel schlimmer als ein Priester. Zumindest sollte ein Priester harmlos sein, obwohl sogar seine Heiligkeit der Papst erst gestern eine Studentendelegation empfangen hat. Er hat sie sogar gesegnet. Er hat sie seine Kinder genannt.» «Das ist doch eine christliche Geste», sagte Monsieur Coin entschuldigend. «Auch christliche Gesten kann man zu weit treiben», erwiderte Monsieur Grosjean. Kapitel 14 Konferenz in London Mr. Cedric Lazenby, der Premierminister, saß oben am Tisch im Kabinettsaal in der Downing Street Nr. 10 und betrachtete sein versammeltes Kabinett ohne sichtbares Wohlgefallen. Sein Gesichtsausdruck war äußerst düster, was ihm eine gewisse Befriedigung verschaffte. Mittlerweile gestattete er es sich nur noch in der privaten Atmosphäre seiner Kabinettsitzungen, seinem Gesicht einen unglücklichen Ausdruck zu geben. Nur hier konnte er den Gesichtsausdruck des weisen, zufriedenen Optimisten aufgeben, den er gewöhnlich zur Schau trug und der ihm in den verschiedensten Krisen des politischen Lebens immer so gute Dienste geleistet hatte. Er sah der Reihe nach erst Gordon Chetwynd an, der die Stirn runzelte, dann Sir Georg Packham, der wie immer offensichtlich besorgt, in Gedanken und unsicher war. Dann blickte er auf die militärische Unerschütterlichkeit von Oberst Munro und auf Luftmarschall Kenwood, einen verschwiegenen Mann, der aus seinem tiefsitzenden Argwohn gegen Politiker keinen Hehl machte. Da war dann auch noch Admiral Blunt, ein großer, beeindruckender Mann, der mit den Fingern auf den Tisch trommelte und darauf wartete, dass seine Zeit gekommen war. «Es hört sich nicht besonders gut an», sagte der Luftmarschall. «Das muss man zugeben Vier unserer Flugzeuge wurden in der letzten Woche gekidnappt. Sie wurden nach Mailand geflogen. Sie haben die Passagiere rausgejagt und sind dann irgendwohin weitergeflogen. Nach Afrika. Sie hatten dort Piloten, die auf sie warteten. Schwarze.» «Black Power», sagte Oberst Munro nachdenklich. «Oder Red Power?», warf Lazenby ein. «Ich habe das Gefühl, dass alle unsere Probleme von russischer Indoktrinierung herrühren. Wenn man nur mit den Russen Kontakt aufnehmen könnte – ich bin überzeugt, ein persönlicher Besuch auf höchster Ebene –» «Bleiben Sie da, wo Sie sind, Premierminister», sagte Admiral Blunt, «Fangen Sie bloß nicht wieder an, den Russkis in den Hintern zu kriechen. Die wollen sich im Augenblick nur aus diesem Chaos heraushalten. Die hatten nicht so viele Probleme mit den Studenten wie die meisten von uns hier. Sie sind nur damit beschäftigt, ein Auge auf die Chinesen zu haben, um zu sehen, was die als Nächstes im Schilde führen.» «Ich glaube doch, dass der persönliche Einfluss –» «Sie bleiben schön hier und kümmern sich um Ihr eigenes Land», sagte Admiral Blunt geradeheraus, wie es seine Art war. «Sollten wir uns nicht lieber – einen Bericht über die tatsächlichen Ereignisse anhören?» Gordon Chetwynd sah Oberst Munro an. «Wollen Sie Fakten? Gut. Sie sind alle ziemlich unverdaulich. Ich nehme an, Sie wollen weniger Einzelheiten über die Ereignisse, sondern über die allgemeine Weltlage?», fragte Oberst Munro. «Ganz recht.» «Nun, in Frankreich liegt der Marschall noch im Krankenhaus. Er hat zwei Kugeln im Arm. In politischen Kreisen ist die Hölle los. Große Teile des Landes sind von den Truppen der sogenannten Jugend-Macht besetzt.» «Wollen Sie damit sagen, sie haben Waffen?» «In großer Zahl», sagte der Oberst. «Ich weiß wirklich nicht, woher sie sich die beschafft haben. Man hat nur so eine Ahnung. Eine große Sendung ist von Schweden nach Westafrika gegangen.» «Was hat das denn damit zu tun?», fragte Mr. Lazenby. «Wen interessiert das? Lasst die in Westafrika doch so viele Waffen haben, wie sie wollen. Da können sie sich gegenseitig erschießen.» «Nun, unseren Geheimdienstberichten zufolge ist das alles etwas merkwürdig. Hier ist eine Liste des Kriegsgeräts, das nach Westafrika verschifft wurde. Interessanterweise wurde es zwar dorthin verschifft, dann aber weitergeleitet. Es wurde entgegengenommen, die Lieferung wurde bestätigt, eine Zahlung erfolgte – oder auch nicht, aber es wurde bereits nach weniger als fünf Tagen wieder außer Landes geschafft, auf neuen Wegen, anderswohin.» «Aber mit welcher Absicht?» «Wahrscheinlich waren die Waffen von vornherein nicht für Westafrika bestimmt. Sie wurden bezahlt und dann anderswohin versandt. Möglicherweise von Afrika in den Nahen Osten. An den Persischen Golf, nach Griechenland und in die Türkei. Auch nach Ägypten wurde eine Sendung Flugzeuge geschickt. Von Ägypten gingen sie nach Indien und von dort nach Russland.» «Ich dachte, sie wären aus Russland geschickt worden.» «Und von Russland gingen sie nach Prag. Die ganze Sache ist ziemlich verrückt.» «Ich verstehe nicht», sagte Sir George, «ich frage mich –» «Irgendwo scheint es eine Zentralorganisation zu geben, die diesen Material- und Güterstrom lenkt. Flugzeuge, Waffen, Sprengbomben und Bomben für bakteriologische Kriegführung. All diese Sendungen bewegen sich in völlig unvermutete Richtungen. Sie werden auf unterschiedlichen Überlandwegen zu bestimmten Unruheherden gebracht und von den Anführern und Regimentern – wenn man sie so nennen will: der Jugend-Macht – eingesetzt. Sie gehen meist an die Führer junger Guerillabewegungen, erklärte Anarchisten, die Anarchie propagieren und gleichzeitig die modernsten Waffen, die neuesten Modelle, nutzen – und ich wage zu bezweifeln, dass sie jemals dafür zahlen.» «Wollen Sie damit sagen, dass wir vor einem Krieg von weltweitem Ausmaß stehen?» Cedric Lazenby war schockiert. Der Mann mit dem freundlichen asiatischen Gesicht weiter unten am Tisch, der bisher nicht gesprochen hatte, sagte: «Das muss man jetzt zwangsläufig glauben. Unsere Beobachtungen besagen –» Lazenby unterbrach ihn: «Sie müssen mit Ihren bloßen Beobachtungen aufhören. Die UNO muss die Waffen selbst in die Hand nehmen und die ganze Sache niederschlagen.» Das ruhige Gesicht blieb unbeweglich. «Das würde gegen unsere Prinzipien verstoßen», sagte er. Oberst Munro erhob die Stimme und fuhr mit seiner Zusammenfassung fort: «Kämpfe finden in Regionen aller Länder statt. Südostasien hat sich schon seit langem für unabhängig erklärt, es gibt vier oder fünf Machtzentren in Südamerika, Kuba, Peru, Guatemala und so weiter. Die USA, Sie wissen, Washington ist schon fast abgebrannt – der Westen wurde von den Armeen der Jugend-Macht bereits überrannt – in Chicago herrscht Ausnahmezustand. Sie haben von Sam Cortman gehört? Er wurde gestern Abend erschossen, auf den Stufen der hiesigen Amerikanischen Botschaft.» «Er hätte heute hier sein sollen», sagte Lazenby. «Er hätte uns Bericht erstatten sollen über seine Sicht der gegenwärtigen Lage.» «Ich bezweifle, ob das hilfreich gewesen wäre», sagte Oberst Munro, «er war ein ganz netter Kerl – aber er strotzte nicht gerade vor Energie.» «Aber wer steckt nur dahinter?», erhob sich Lazenbys Stimme gereizt. «Es könnten natürlich die Russen sein», sagte er hoffnungsvoll. Er sah sich wohl immer noch auf dem Flug nach Moskau. Oberst Munro schüttelte den Kopf. «Das bezweifle ich.» «Dies ist ein persönlicher Appell», sagte Lazenby. Sein Gesicht erhellte sich hoffnungsvoll. «Eine ganz neue Einflusssphäre. Die Chinesen –» «Auch nicht die Chinesen», sagte Oberst Munro. «Aber Sie wissen, dass es in Deutschland ein erhebliches Wiederaufleben des Faschismus gibt?» «Sie glauben doch nicht, dass die Deutschen möglicherweise –» «Ich glaube nicht, dass sie notwendigerweise dahinterstecken. Aber möglich, ja, ich glaube, möglich wäre das schon. Sie haben es schon einmal getan. Haben die Dinge jahrelang vorbereitet, sie geplant. Alles war bereit, wartete nur auf das Wort LOS. Sie sind gute Strategen, ausgezeichnete Strategen. Ich bewundere sie, da kann ich mir nicht helfen.» «Aber Deutschland scheint doch so friedlich und wohlregiert.» «Das ist es auch, bis zu einem gewissen Grad. Aber seien Sie sich dessen bewusst: Südamerika wimmelt geradezu von Deutschen, von jungen Neofaschisten, die haben dort eine große Jugendföderation. Nennen sich die Über-Arier, irgendwas in der Art. Ein bisschen wie das alte Zeugs, wissen Sie, Hakenkreuze und Strammstehen und einer, der das leitet, genannt der Junge Wotan oder Jung-Siegfried oder irgend so was. Eine Menge arischer Unsinn.» Es klopfte an der Tür und der Sekretär trat ein. «Professor Eckstein ist hier, Sir.» «Wir bitten ihn besser herein», sagte Cedric Lazenby. «Immerhin, wenn uns irgendjemand sagen kann, an welchen neuen Waffen wir arbeiten sollen, dann ist er es. Wir haben vielleicht ein As im Ärmel, das den ganzen Unsinn hier bald beenden kann.» Neben seinem Beruf als professioneller Reisender in ferne Länder in seiner Rolle als Friedensstifter besaß Mr. Lazenby einen unendlichen Optimismus, der jedoch leider selten von irgendwelchen Ergebnissen bestätigt wurde. «Wir könnten eine gute Geheimwaffe brauchen», sagte der Luftmarschall hoffnungsvoll. Professor Eckstein, den viele für Englands hervorragendsten Wissenschaftler hielten, wirkte auf den ersten Blick äußerst unbedeutend. Er war ein kleiner Mann mit altmodischen Koteletten und einem asthmatischen Husten. Er benahm sich so, als wolle er sich ängstlich schon für seine bloße Existenz entschuldigen. Er machte Geräusche wie «Ah» und «hrrumph» und schüttelte den Anwesenden schüchtern die Hand, als er vorgestellt wurde. Eine ganze Reihe war ihm schon bekannt und diese begrüßte er mit einem nervösen Kopfnicken. Er ließ sich auf dem ihm angebotenen Stuhl nieder und sah sich vage um. Er hob eine Hand zum Mund und begann, an den Nägeln zu kauen. «Die Leiter aller Dienste sind hier», sagte Sir George Packham. «Wir sind sehr begierig, Ihre Meinung darüber zu hören, was man tun könnte.» «Ach», sagte Professor Eckstein, «tun? Ja, ja, tun?» Es herrschte Stille. «Die Welt bewegt sich mit hoher Geschwindigkeit in die Anarchie», sagte Sir George. «Es sieht so aus, nicht wahr? Zumindest nach dem, was ich in der Zeitung lese. Nicht, dass ich mich darauf verlasse, wirklich, die Journalisten denken sich alles Mögliche aus! Aber sie machen keine genauen Angaben.» «Ich höre, Sie haben kürzlich einige sehr wichtige Entdeckungen gemacht, Herr Professor», sagte Cedric Lazenby ermutigend. «Ach ja, das haben wir, das haben wir.» Professor Eckstein wurde ein wenig heiterer. «Ich habe eine Menge scheußlicher chemischer Kriegswaffen erfunden. Falls wir die jemals benötigen sollten. Bakteriologische Kampfwaffen, biologisches Zeugs, Gas, das über normale Gasleitungen verteilt wird, Luftverschmutzung und Vergiftung der Wasserversorgung. Ja, wenn man wollte, könnten wir, glaube ich, die halbe Bevölkerung Englands innerhalb von drei Tagen töten.» Er rieb sich die Hände. «Wollen Sie das?» «Nein, nein, sicher nicht. Ach du liebe Zeit, natürlich nicht.» Mr. Lazenby schien entsetzt. Professor Eckstein sagte: «Sehen Sie, das meine ich. Es ist ja nicht so, dass wir nicht genug tödliche Waffen besäßen… wir haben zu viele. Alles, was wir haben, ist zu mörderisch. Die Schwierigkeit bestünde darin, überhaupt jemand am Leben zu lassen, uns eingeschlossen. Alle Leute an der Spitze, wissen Sie. Nun – uns zum Beispiel.» Er gab ein keuchendes, glückliches kleines Lachen von sich. «Aber das ist nicht, was wir wollen», sagte Mr. Lazenby nachdrücklich. «Es ist nicht die Frage, was Sie wollen, sondern, was wir haben. Alles, was wir haben, ist tödlich. Wenn Sie jeden Menschen unter dreißig von der Landkarte fegen möchten, glaube ich, dass Sie das tun könnten. Verstehen Sie wohl, Sie müssten einen großen Teil der Älteren mit einschließen. Es ist schwierig, eine Gruppe von der anderen zu trennen. Persönlich wäre ich gegen eine solche Maßnahme. Wir haben ein paar sehr gute junge Forscher. Stur, aber clever.» «Was ist nur schiefgegangen auf dieser Welt?», fragte Kenwood plötzlich. «Das ist der Punkt», sagte Professor Eckstein. «Wir wissen es nicht. Wir wissen das nicht hier bei uns, obwohl wir alles Mögliche wissen. Wir wissen heutzutage ein bisschen über den Mond, eine Menge über Biologie, wir können ein Herz transplantieren, eine Leber; bald vielleicht auch Gehirne, obwohl ich nicht weiß, was dann geschehen würde. Aber wir wissen nicht, wer das hier anrichtet.» Er fuhr fort: «Irgendjemand ist da jedenfalls am Werk. Es ist eine Art geheime Hochleistungs-Organisation. Oh, ja, manchmal gerät sie auf irgendeine Weise an die Oberfläche. Kriminelle Vereinigungen, Drogenringe und so weiter. Ein mächtiger Verein und hinter den Kulissen befinden sich Leute mit gutem, scharfem Verstand. Es geschieht in vielen Ländern, manchmal auch in Europa. Aber jetzt hat es sich noch weiter ausgebreitet, auf die andere Hälfte der Welt – in die südliche Hemisphäre. Am Ende geht es bis zur Antarktis, nehme ich an.» Seine Diagnose schien Professor Eckstein zu gefallen. «Das sind offenkundig Menschen mit bösen Absichten», sagte Kenwood. «Das könnte man so sagen. Böse, um des Bösen willen oder wegen der Macht oder des Geldes. Es ist schwierig, den Zweck des Ganzen, den Kern, zu erfassen. Die armen Handlanger und Gefolgsleute wissen es nicht. Sie wollen Gewalt, weil sie Gewalt lieben. Sie mögen die Welt nicht, mögen unsere materialistische Einstellung nicht. Ihnen gefallen viele der scheußlichen Methoden nicht, mit denen wir unser Geld verdienen. Sie mögen viele unserer Schwindeleien nicht. Sie sehen die Armut nicht gern. Sie wollen eine bessere Welt. Nun, man könnte vielleicht eine bessere Welt schaffen, wenn man lange genug darüber nachdenken würde. Das Problem ist aber, wenn man darauf besteht, dafür den Leuten erst einmal etwas wegzunehmen, muss man ihnen dafür auch etwas geben. Die Natur duldet kein Vakuum – eine alte, aber wahre Aussage. Verdammt – es ist wie eine Herztransplantation. Man entfernt ein Herz, aber man muss dafür ein neues einsetzen. Eines, das funktioniert. Und man muss sich erst einmal das Herz, das man einsetzen will, besorgen, bevor man das schadhafte entfernt, das einer noch in der Brust trägt. Am besten sollte man die meisten dieser Dinge auf sich beruhen lassen, aber ich nehme an, niemand wird auf mich hören. Es ist sowieso nicht mein Thema.» «Ein Gas?», schlug Oberst Munro vor. Professor Ecksteins Miene erhellte sich. «Oh, wir haben jede Art von Gas auf Lager. Einige sind vergleichsweise harmlos. Milde Abschreckungsmittel, könnte man sagen. Die haben wir alle.» Er strahlte wie ein zufriedener Waffenhändler. «Atomwaffen?», schlug Mr. Lazenby vor. «Damit kann man nicht herumspielen. Sie möchten doch kein radioaktiv verstrahltes England oder einen radioaktiv verseuchten Kontinent, oder?» «Also können Sie uns nicht helfen?» «Nicht, bevor jemand etwas Genaueres über die ganze Sache herausgefunden hat», sagte Professor Eckstein. «Es tut mir wirklich leid. Aber ich muss mit Nachdruck auf die extreme Gefährlichkeit der meisten Dinge, mit denen wir heute arbeiten, hinweisen. Da besteht wirkliche Gefahr.» Er sah sie ängstlich an, wie ein nervöser Onkel eine Gruppe von Kindern, die man mit der Streichholzschachtel spielen lässt und die mit Leichtigkeit das Haus anstecken könnten. «Vielen Dank, Professor Eckstein», sagte Mr. Lazenby. Er klang nicht besonders zufrieden. Der Professor nahm an, dass er damit entlassen sei, lächelte in die Runde und trottete aus dem Raum. Mr. Lazenby wartete kaum, bis sich die Tür geschlossen hatte, als er seinen Gefühlen schon freien Lauf ließ. «Sie sind alle gleich, diese Wissenschaftler», sagte er bitter. «Sie sind niemals von praktischem Nutzen. Nie haben sie eine vernünftige Idee. Alles, was sie können, ist, das Atom zu spalten – und dann sagen sie uns, wir sollen nicht damit herumspielen!» «Es wäre vielleicht auch besser gewesen, wir hätten es nie getan», sagte Admiral Blunt, wieder sehr unverblümt. «Was wir brauchen, muss hausgemacht sein, wie ein Unkrautvernichter für ein bestimmtes Unkraut, der –» Er hielt abrupt inne. «Nun, was zum Teufel –» «Was, Admiral?», fragte der Premierminister höflich. «Nichts – das erinnert mich an etwas. Ich kann aber nicht sagen, an was –» Der Premierminister seufzte. «Stehen noch weitere Wissenschaftler auf der Matte?», fragte Gordon Chetwynd und sah hoffnungsvoll auf seine Armbanduhr. «Ich glaube, der alte Pikeaway ist da», sagte Lazenby. «Er hat ein Bild, eine Zeichnung oder eine Landkarte oder irgendwas, was er uns zeigen will.» «Wovon denn?» «Ich weiß es nicht. Anscheinend alles nur Seifenblasen», sagte Mr. Lazenby vage. «Seifenblasen? Warum Seifenblasen?» «Ich habe keine Ahnung», seufzte er. «Aber wir schauen es uns besser an.» «Horsham ist auch hier.» «Vielleicht hat er uns etwas Neues zu berichten», sagte Chetwynd. Oberst Pikeaway trat ein. Er schleppte ein zusammengerolltes Bündel herein, das mit Horshams Hilfe entrollt und mit einiger Mühe aufgestellt wurde, sodass die Runde am Tisch es betrachten konnte. «Noch nicht ganz der richtige Maßstab, aber man bekommt in etwa einen Eindruck», sagte Oberst Pikeaway. «Was ist das, wenn es überhaupt etwas darstellt?» «Seifenblasen?», murmelte Sir George. Er hatte eine Idee. «Ist das Gas? Ein neues Gas?» «Am besten halten Sie jetzt Ihren Vortrag, Horsham», sagte Pikeaway. «Sie wissen, um was es geht.» «Ich weiß nur, was man mir gesagt hat. Es ist ein ungefähres Diagramm einer Vereinigung zur Weltkontrolle.» «Von wem?» «Von Gruppierungen, die an den Quellen der Macht sitzen oder sie kontrollieren – das Rohmaterial zur Macht.» «Und was bedeuten die Buchstaben?» «Sie stehen für jeweils eine Person oder einen Codenamen einer spezifischen Gruppe. Es sind überlappende Kreise, die mittlerweile die ganze Welt bedecken. Der Kreis mit dem Buchstaben ‹A› steht für armaments, für Waffen, Kriegsgerät. Irgendjemand oder eine Gruppe kontrolliert die Waffen, alle Waffenarten, Sprengstoff, Kanonen, Gewehre. Auf der ganzen Welt werden Waffen nach genauem Plan produziert, auf sichtbarem Weg in arme Länder versandt, rückständige Länder, Länder, die sich im Krieg befinden. Aber sie bleiben nicht dort, wohin sie verschifft wurden. Sie werden umgehend an andere Bestimmungsorte umgeleitet. In Guerillagebiete auf dem südamerikanischen Kontinent – zu Aufruhr und Kämpfen in den Vereinigten Staaten – in die Depots von Black Power – in verschiedene Länder Europas. ‹D› steht für Drogen – ein Netzwerk von Lieferanten verteilt sie aus verschiedenen Depots und Lagern. Alle Arten von Drogen, von den eher harmlosen Varianten bis zu den wirklichen Killern. Das Hauptquartier befindet sich wahrscheinlich in der Levante, mit Ausgängen über die Türkei, Pakistan, Indien und Zentralasien.» «Machen sie damit Geld?» «Enorme Summen. Aber es ist mehr als eine Vereinigung von Drogenhändlern. Es gibt einen Aspekt, der noch finsterer ist. Die Drogen werden benutzt, um sich der Schwächlinge unter den Jugendlichen zu entledigen, man kann sagen, sie zu kompletten Sklaven zu machen. Zu Sklaven, die ohne einen Drogenvorrat nicht existieren können und jeden Job für ihre Arbeitgeber erledigen.» Kenwood pfiff. «Das ist eine üble Show, nicht wahr? Haben Sie wirklich keine Ahnung, wer diese Drogendealer sind?» «Einige kennen wir. Aber es sind nur die kleineren Fische, nicht die wirklichen Kontrolleure. Die Drogenhauptquartiere liegen in Zentralasien und in der Levante, im Vorderen Orient. Von dort werden die Drogen versteckt in Autoreifen ausgeliefert, in Zement, Beton, in jeder Art von Maschinen und Industrieerzeugnissen. Sie werden als normale Handelsware in die ganze Welt geliefert, an ihren jeweiligen Bestimmungsort. ‹F› steht für Finanzen. Geld! Ein Geld-Netzwerk im Zentrum. Sie müssen sich an Mr. Robinson wenden, wenn Sie alles über Geld und Kapital erfahren wollen. Nach einem Memorandum, das hier vorliegt, kommt das Geld vorwiegend aus Amerika. Es gibt auch ein Hauptquartier in Bayern. Eine riesige Reserve liegt in Südafrika, bestehend aus Gold und Diamanten. Das meiste Geld geht nach Südamerika. Eine der Hauptfiguren bei der Kontrolle des Geldes ist eine sehr mächtige und intelligente Frau. Sie ist schon alt und wird wahrscheinlich nicht mehr lange leben. Sie ist aber immer noch stark und aktiv. Ihr Name war Charlotte Krapp. Ihr Vater besaß die riesigen Krapp-Werke in Deutschland. Sie war selbst ein Finanzgenie und handelte an der Wall Street. Sie türmte ein Vermögen aufs andere, mit Investitionen überall auf der Welt. Ihr gehören Transportfirmen, Maschinenwerke, Industriekonzerne, einfach alles. Sie lebt auf einem riesigen Schloss in Bayern – von dort kontrolliert sie die Geldströme, die in verschiedene Teile der Welt fließen. ‹S› steht für «Science», für die Wissenschaften – die neuen Erkenntnisse über chemische und biologische Kampfwaffen – mehrere junge Wissenschaftler sind übergelaufen – eine Kerngruppe existiert in den USA, wie wir glauben. Sie haben sich mit Leib und Seele der Anarchie verschrieben.» «Ein Kampf für die Anarchie? Das ist ein Widerspruch in sich. Kann es so etwas überhaupt geben?» «Die Jugend glaubt an die Anarchie. Sie will eine neue Welt, aber zuvor muss man die alte erst zerstören – wie man ein Haus abreißt, bevor man an seiner Stelle ein neues errichten kann. Aber wenn man gar nicht weiß, in welche Richtung man sich bewegt, nicht weiß, auf welchen Weg man gelockt oder sogar vielleicht gestoßen wurde, wie wird dann diese Neue Welt aussehen? Und wo werden die Gläubigen stehen, wenn diese Welt entsteht? Einige werden Sklaven sein, einige verblendet von Hass, andere werden Anhänger von Gewalt und Sadismus sein, die gepredigt und praktiziert werden. Manche – und Gott helfe ihnen – werden immer noch idealistisch sein, immer noch gläubig, wie die Menschen in Frankreich zur Zeit der Französischen Revolution, als man glaubte, die Revolution brächte Wohlstand, Frieden, Glück und Zufriedenheit für die Menschheit.» «Und was tun wir gegen all das? Was setzen wir dem entgegen?», fragte Admiral Blunt. Horsham antwortete: «Was wir dagegen tun? Alles, was wir können. Ich versichere allen hier Anwesenden: Wir tun, was wir können. Wir haben Mitarbeiter in allen Ländern. Wir haben Agenten, Leute, die Nachforschungen anstellen, Informationen sammeln und uns übermitteln –» «Das ist auch dringend notwendig», sagte Oberst Pikeaway. «Erst einmal müssen wir wissen, wer ist wer, wer ist für uns und wer gegen uns. Und dann müssen wir sehen, was man tun kann, wenn das überhaupt möglich ist.» Horsham fuhr fort: «Unsere Bezeichnung für das Diagramm lautet ‹Der Ring›. Hier ist eine Liste mit allem, was wir über die Bandenführer wissen. Zum Teil wissen wir nur den Namen, unter dem sie bekannt sind – oder wir nehmen nur an, dass sie diejenigen sind, die wir suchen.» Der Ring F Die große Charlotte Bayer A Eric Olafson Industrieller, Schweden, Waffen D angeblich unter dem Namen Demetrios bekannt Smyrna, Drogen S Dr. Sarolensky Colorado, USA. Physiker/Chemiker – nur ein Verdacht J eine Frau. Hat den Codenamen Juanita. Ist angeblich gefährlich. Wirklicher Name unbekannt. Kapitel 15 Tante Matilda fährt zur Kur I «Vielleicht eine Art Badekur?», wagte sich Tante Matilda vor. «Eine Kur?», fragte Dr. Donaldson. Für einen Augenblick sah er etwas verunsichert aus, verlor die Aura medizinischer Allwissenheit. Das ist einer der Nachteile, überlegte Lady Matilda, wenn man einen jüngeren Hausarzt hat und nicht einen von der alten Sorte, an den man schon seit Jahren gewöhnt war. «So haben wir das früher genannt», erklärte Lady Matilda. «In meinen jungen Jahren ging man zur Kur, verstehen Sie? Nach Marienbad, Karlsbad, Baden-Baden und so weiter. Gerade neulich habe ich von einem dieser neuen Kurorte in der Zeitung gelesen. Ganz neu und modern. Alles soll nach völlig neuen Prinzipien aufgezogen sein. Nicht, dass ich neuen Ideen gegenüber so aufgeschlossen wäre, aber ich hätte zumindest keine Angst davor. Es wäre wahrscheinlich sowieso nur wieder dasselbe. Wasser, das nach faulen Eiern schmeckt, die neueste Diät, und morgens, zu ungemütlicher Zeit, Spaziergänge, um das Wasser zu trinken oder wie immer das heute heißt. Ich glaube, man bekommt auch Massagen verschrieben. Früher waren es Meeresalgen oder Seegras. Aber dieser Ort liegt irgendwo in den Bergen. In Bayern oder Österreich oder irgendwo da. Deshalb glaube ich nicht, dass es Seegras ist. Hängendes Moos oder vielleicht auch Zottelmoos – das klingt wie ein Hund. Und vielleicht gibt es auch ein sehr angenehmes Mineralwasser, außer dem schwefligen Eierwasser. Es soll dort wunderbare Gebäude geben, habe ich gehört. Das Einzige, was einen heute beunruhigen könnte, ist die Tatsache, dass in den modernen Gebäuden nirgendwo Treppengeländer angebracht sind. Ganze Treppenfluchten und nichts, woran man sich festhalten kann.» «Ich glaube, ich weiß, welchen Ort Sie meinen», sagte Dr. Donaldson. «Er wird gerade sehr angepriesen in der Presse.» «Nun, Sie wissen, wie man ist in meinem Alter», sagte Lady Matilda. «Man probiert gern etwas Neues aus. Einfach nur, um sich zu amüsieren. Man hat nicht wirklich das Gefühl, dass es der Gesundheit dient. Sie halten es aber trotzdem nicht für eine schlechte Idee, oder, Dr. Donaldson?» Dr. Donaldson sah sie an. Er war gar nicht so jung, wie Lady Matilda vermutete. Er ging gerade auf die vierzig zu. Er war ein taktvoller und freundlicher Mensch, bereit, seinen älteren Patienten ihren Willen zu lassen, soweit es in Ordnung war. Solange keine Gefahr bestand, dass sie etwas unternahmen, das ihnen schadete. «Ich bin sicher, dass es Ihnen guttun würde», sagte er. «Die Reise ist natürlich ein bisschen anstrengend, obwohl man heute ja mit dem Flugzeug schnell und leicht überallhin gelangt.» «Schnell, ja. Leicht, nein», erwiderte Lady Matilda. «Mit all den Rampen und Rolltreppen, dem Ein- und Aussteigen in Busse und aus Bussen, vom Flugplatz zur Maschine, in die Maschine zu einem anderen Flugplatz und von dort wieder in einen Bus. All das, verstehen Sie. Aber ich glaube, man kann mittlerweile sogar Rollstühle auf dem Flughafen bekommen.» «Aber sicher doch. Eine ausgezeichnete Idee. Wenn Sie versprechen, das auch zu tun, und nicht glauben, Sie könnten überall zu Fuß hingehen –» «Ich weiß, ich weiß», unterbrach ihn seine Patientin. «Sie verstehen schon. Sie sind wirklich ein verständnisvoller Mann. Aber man hat doch seinen Stolz, und solange man noch mit einem Stock oder ein wenig Hilfe umherhumpeln kann, möchte man doch wirklich nicht völlig gebrechlich wirken oder bettlägerig. Es wäre leichter, wenn ich ein Mann wäre.» Sie dachte nach. «Ich meine, man könnte ein Bein mit einer enormen Bandage und diesen Polstern umwickeln, dann sähe es aus, als hätte man Gicht. Ich will damit sagen, Gicht ist in Ordnung für das männliche Geschlecht. Keiner nimmt einem das übel. Einige denken dann, da habe jemand wohl etwas zu tief in sein Portweinglas geblickt. Das dachte man früher, obwohl ich nicht glaube, dass das wirklich stimmt. Von Portwein bekommt man keine Gicht. Ja, ein Rollstuhl, und ich könnte nach München fliegen oder irgendwohin da in der Nähe. Man könnte dort einen Wagen bestellen.» «Sie nehmen Miss Letheran natürlich mit.» «Amy? Selbstverständlich. Ohne sie kann ich gar nichts unternehmen. Sie denken also nicht, dass es mir schaden würde?» «Ich denke, es wird Ihnen sogar guttun.» «Sie sind wirklich ein netter Mensch.» Lady Matilda bedachte ihn mit einem Augenzwinkern, an das er sich nun schon langsam gewöhnt hatte. «Sie denken, es wird mir gefallen und mich ein wenig aufheitern, wenn ich an einen neuen Ort reise und neue Gesichter sehe. Und Sie haben natürlich völlig recht. Aber ich möchte mir einbilden, ich fahre zur Kur, auch wenn ich nichts zu kurieren habe. Nicht wirklich, oder? Außer meinem Alter. Leider kann man das Alter nicht kurieren, es wird nur schlimmer, nicht wahr?» «Wichtig ist doch nur, dass es Ihnen Spaß macht. Und das glaube ich schon. Übrigens, wenn Sie etwas zu sehr anstrengt, dann lassen Sie es sein.» «Auch wenn das Wasser nach faulen Eiern schmeckt, ich werde es trinken. Nicht, weil ich es mag oder weil ich glaube, dass es mir guttut. Aber es gibt einem so ein Gefühl von Kasteiung. So wie bei den alten Frauen in unserem Dorf. Sie wollten immer eine gute, starke Medizin. Schwarz, lila oder dunkelrosa, mit starkem Pfefferminzgeschmack. Sie glaubten, das wirke viel besser als eine nette kleine Pille oder eine Flasche, die nur wie ordinäres Wasser aussieht, ohne jede exotische Färbung.» «Sie wissen zu viel vom Wesen der Menschen», sagte Dr. Donaldson. «Sie sind sehr nett zu mir», erwiderte Lady Matilda, «ich weiß das zu schätzen. Amy!» «Ja, Lady Matilda?» «Hol mir einen Atlas, sei so gut. Ich habe Bayern und die Länder, die darum herum liegen, aus dem Gedächtnis verloren.» «Also, ein Atlas. Ich glaube, es ist einer in der Bibliothek. Dort müssen ein paar alte Atlanten herumliegen, etwa aus den Zwanzigerjahren.» «Haben wir nicht einen etwas jüngeren Datums?» «Ein Atlas?», überlegte Amy scharf. «Wenn nicht, dann kauf einen und bring ihn morgen früh mit. Es wird sehr schwierig sein, weil sich alle Namen geändert haben. Es sind heute andere Länder, und ich werde nicht wissen, wo ich gerade bin. Aber du musst mir dabei helfen. Bring eine starke Lupe mit, ja. Ich erinnere mich, dass ich neulich eine zum Lesen im Bett hatte, sie ist vielleicht zwischen Bett und Wand gefallen.» Es dauerte eine Weile, bis ihre Anforderungen erfüllt wurden, aber am Ende wurden die Lupe und ein älterer Atlas zum Vergleichen herbeigeschafft. Die gute Amy, dachte Lady Matilda, war wieder einmal äußerst hilfreich. «Ja, hier ist es. Es heißt offenbar immer noch Monbrügge oder so. Es ist entweder in Tirol oder in Bayern. Alles scheint den Ort gewechselt zu haben oder hat nun andere Namen…» II Lady Matilda sah sich in ihrem Schlafzimmer im Gasthaus um. Es war gut ausgestattet, schließlich war es sehr teuer. Es verband Komfort mit einem Anstrich von Kargheit, der den Gast vielleicht dazu bewegen sollte, sich mit einer Reihe von asketischen Übungen, Diäten und eventuell schmerzhaften Massagekursen anzufreunden. Die Einrichtung was interessant, dachte sie. Sie genügte allen Ansprüchen. Ein großer gerahmter Aushang in gotischer Schrift prangte an der Wand. Lady Matildas Deutsch war nicht mehr so gut wie in ihren Mädchentagen, aber die Schrift befasste sich mit der goldenen und begeisternden Idee der Wiederkehr zur Jugend. Danach hielt nicht nur die Jugend die Zukunft in ihren Händen, sondern auch die Alten wurden auf ansprechende Weise in dem Gefühl bestärkt, dass auch sie eine zweite goldene Blüte erleben könnten. Da standen behutsame Hinweise, wie man dieser Lehre auf einem der vielen Lebenswege, die verschiedene Arten von Menschen anzogen, folgen könne (immer unter der Annahme, sie hätten auch genug Geld, um es zu bezahlen). Neben dem Bett lag eine Gideon-Bibel, wie sie Lady Matilda immer neben ihrem Bett vorgefunden hatte, wenn sie in die Vereinigten Staaten gereist war. Sie schlug sie auf einer beliebigen Seite auf und legte den Finger auf einen bestimmten Vers. Sie las ihn, nickte zufrieden mit dem Kopf und machte sich eine kurze Notiz auf einem Block, der auf dem Nachttisch lag. Sie hatte das schon oft im Laufe ihres Leben getan – es war ihre Art, sich schnell einer göttlichen Führung zu versichern. Ich war jung und bin alt geworden, doch nie sah ich einen Gerechten verlassen. Sie stellte weitere Erkundungen im Zimmer an. Gleich zur Hand, aber nicht allzu auffällig, lag ein Gotha-Almanach bereit, bescheiden auf einem unteren Regal des Nachttischs. Dies war ein unentbehrliches Handbuch für alle, die sich mit den oberen Kreisen der feinen Gesellschaft vertraut machen wollten. Es reichte Jahrhunderte zurück und wurde immer noch beachtet und geprüft von denen, die aristokratischer Herkunft waren oder sich dafür interessierten. Das passt gut, dachte sie, da kann ich mich ein wenig einlesen. Neben dem Schreibtisch, an dem antiken Porzellanofen, standen Bücher mit Schriften und Grundsätzen der neuen Weltpropheten, die sich gerade oder vor nicht allzu langer Zeit als Rufer in der Wüste hervorgetan hatten. Sie standen bereit, um von jungen Anhängern mit langen Haaren, fremdartiger Kleidung und aufrechtem Herzen studiert und akzeptiert zu werden. Marcuse, Guevara, Lévi-Strauss, Fanon. Für ein eventuelles Gespräch mit einem von der Goldenen Jugend war es wohl besser, sich auch hier etwas einzulesen. In diesem Augenblick ertönte ein zaghaftes Klopfen an der Tür. Sie öffnete sich leicht und das Gesicht der treuen Amy sah hinein. Amy, dachte Lady Matilda plötzlich, würde in zehn Jahren aussehen wie ein Schaf. Ein nettes, getreues, freundliches Schaf. Im Augenblick, dachte Lady Matilda erfreut, sah sie noch wie ein sehr nettes, rundliches Lämmchen aus, mit hübschen Locken, nachdenklichen, freundlichen Augen und der Fähigkeit, freundlich «baa, baa» zu sagen statt zu blöken. «Ich hoffe, Sie haben gut geschlafen.» «Ja. Meine Liebe, das habe ich. Sehr gut sogar. Hast du das Ding?» Amy wusste immer, was sie meinte. Sie reichte es ihrer Arbeitgeberin. «Ah, mein Diätplan. So.» Lady Matilda überflog ihn und sagte dann: «Unglaublich scheußlich! Was ist das für ein Wasser, das man da trinken soll?» «Es schmeckt nicht gerade gut.» «Nein, das glaube ich. Komm in einer halben Stunde wieder. Ich habe einen Brief für die Post.» Sie schob ihr Frühstückstablett zur Seite und ging zum Schreibtisch hinüber. Sie dachte einen Augenblick nach und schrieb dann ihren Brief. «Das sollte das Richtige sein», murmelte sie. «Entschuldigen Sie, Lady Matilda, haben Sie gerade etwas gesagt?» «Ich habe an die alte Freundin geschrieben, von der ich dir neulich erzählt habe.» «Die Freundin, die Sie seit fünfzig oder sechzig Jahre nicht mehr gesehen haben?» Lady Matilda nickte. «Ich hoffe sehr –», sagte Amy entschuldigend. «Ich meine – ich – es ist schon so lange her. Ich hoffe sehr, dass sie sich an Sie und alles Weitere noch erinnern kann.» «Aber bestimmt», sagte Lady Matilda. «Die Menschen, die man nie vergisst, sind die, die man im Alter von etwa zehn bis zwanzig Jahren gekannt hat. Die bleiben einem immer im Gedächtnis. Man erinnert sich an ihre Hüte und wie sie lachten, an ihre Fehler und ihre guten Eigenschaften, an alles über sie. Leute, die ich vor vielleicht zwanzig Jahren getroffen habe, an die kann ich mich überhaupt nicht erinnern. Nicht, wenn sie erwähnt werden, nicht einmal, wenn ich sie vor mir sehe. Oh ja, sie wird sich an mich erinnern. Und an Lausanne. Bring bitte den Brief zur Post. Ich muss noch meine Hausaufgaben machen.» Sie nahm den Gotha und legte sich wieder ins Bett, wo sie eingehend die Dinge studierte, die ihr von Nutzen sein würden. Familienbeziehungen und andere Verwandtschaftsbeziehungen, die vorteilhaft waren. Wer wen geheiratet hatte, wer wo gewohnt hatte, welche Unglücksfälle anderen zugestoßen waren. Nicht dass die Frau, die sie im Sinn hatte, selbst im Gotha zu finden gewesen wäre. Aber sie lebte hier in diesem Teil der Welt, hatte sich mit Absicht hier niedergelassen, um auf einem Schloss zu wohnen, das ursprünglich alten Adelsgeschlechtern gehört hatte. Sie hatte den örtlichen Respekt und die Verehrung vor allem von Leuten gehobener, erstklassiger Herkunft aufgesogen. Die Frau selbst konnte keinerlei Anspruch auf eine erstklassige Herkunft erheben, das war Lady Matilda wohlbekannt. Sie musste sich mit Geld begnügen. Ströme von Geld, unglaubliche Mengen. Lady Matilda Cleckheaton bezweifelte nicht, dass sie selbst, als Tochter eines achten Herzogs, zu irgendeiner Gelegenheit geladen werden würde. Vielleicht zu Kaffee und wunderbarer Cremetorte. III Lady Matilda betrat einen der großen Empfangsräume im Schloss. Es lag etwa 20 Kilometer entfernt. Sie hatte sich mit Sorgfalt angekleidet, allerdings etwas zum Missfallen von Amy. Die gute Amy gab selten einen Rat, aber sie war so bestrebt, dass ihre Herrin überall gut ankam, dass sie sich diesmal entschlossen hatte, einen leichten Einwand zu erheben. «Glauben Sie nicht, dass Ihr rotes Kleid etwas zu abgetragen ist, wenn Sie verstehen, was ich meine? Ich meine, direkt unter der Achsel, und, nun, da sind ein oder zwei sehr glänzende Stellen –» «Ich weiß, meine Liebe, ich weiß. Es ist ein sehr schäbiges Kleid, aber immer noch ein Patou-Modell. Es ist alt, aber es war seinerzeit sehr teuer. Ich möchte nicht reich oder extravagant erscheinen. Ich bin das verarmte Mitglied einer aristokratischen Familie. Jeder unter 50, das ist mir bewusst, würde auf mich herabsehen. Aber meine Gastgeberin hat seit längerer Zeit in einem Teil der Welt gelebt, wo die Neureichen gewillt sind, auf ihre Einladung zu warten, während die Gastgeberin selber bereit ist, auf eine schäbige alte Frau untadeliger Herkunft zu warten. Familientraditionen gibt man nicht so leicht auf. Man hält daran fest, auch wenn man in eine andere Gegend zieht. Übrigens, in meinem Koffer findest du eine Federboa.» «Werden Sie eine Federboa tragen?» «Ja, eine aus Straußenfedern.» «Oh je, die muss aber schon sehr alt sein.» «Das ist sie, aber ich habe sie sorgfältig gepflegt. Du wirst sehen, Charlotte wird es als das erkennen, was es ist. Sie wird denken, dass eine Angehörige einer der besten Familien Englands gezwungen ist, ihre alten Kleider aufzutragen, die sie jahrelang sorgfältig aufgehoben hat. Ich werde auch meinen Sealmantel tragen. Der ist auch ein wenig abgeschabt, war aber seinerzeit ein herrliches Stück.» So gekleidet, machte sie sich auf den Weg. Amy begleitete sie als wohlgekleidete und zurückhaltend elegante Betreuerin. Matilda Cleckheaton war vorbereitet auf das, was sie erwartete. Ein Wal, wie Stafford ihr berichtet hatte, ein sich wälzender Wal, eine abscheuliche alte Frau saß in einem Raum, umgeben von Gemälden von unschätzbarem Wert. Sie erhob sich mit Mühe von einem thronartigen Sessel, wie für die Bühne eines großen Fürstenpalastes aus jeder beliebigen Epoche vom Mittelalter an. «Matilda!» «Charlotte!» «Ach! Nach all den Jahren. Wie seltsam das ist!» Sie tauschten Worte der Begrüßung und Freude aus, sprachen halb deutsch, halb englisch. Lady Matildas Deutsch war etwas fehlerhaft. Charlotte sprach ausgezeichnet deutsch, auch ausgezeichnet englisch, aber mit einem stark gutturalen, manchmal auch amerikanischen Akzent. Sie war wirklich von herausragender Hässlichkeit, dachte Lady Matilda. Einen Augenblick lang verspürte sie fast eine Zuneigung, die aus der Vergangenheit kam. Obwohl – überlegte sie im nächsten Augenblick, Charlotte war ein furchtbar unleidliches Mädchen gewesen. Niemand hatte sie wirklich gemocht, und sie selbst hatte sie auch nicht leiden können. Aber es gab kein stärkeres Band als Erinnerungen an die vergangene Schulzeit. Da konnte man sagen, was man wollte. Ob Charlotte sie gemocht hatte, das wusste sie nicht. Aber sie erinnerte sich, Charlotte hatte sich – wie man damals sagte – bei ihr angebiedert. Sie hatte vielleicht die Vorstellung, auf ein Herzogschloss in England eingeladen zu werden. Lady Matildas Vater, obwohl untadeliger Abstammung, war einer der englischen Herzöge gewesen, die sich in größter Geldnot befanden. Seine Liegenschaften waren nur durch die reiche Frau zusammengehalten worden, die er geheiratet hatte. Er hatte sie stets mit größter Ritterlichkeit behandelt, doch sie hatte es genossen, ihn zu tyrannisieren, wann immer sie konnte. Lady Matilda hatte das Glück, seine Tochter aus zweiter Ehe zu sein. Ihre eigene Mutter war äußerst liebenswürdig und zudem eine sehr erfolgreiche Schauspielerin, die es viel besser verstand, wie eine Herzogin aufzutreten, als die echten Herzoginnen. Sie tauschten Erinnerungen an die alten Tage aus. Die Quälereien, mit denen sie ihre Lehrer geplagt hatten, die glücklichen und unglücklichen Ehen, die einige ihrer Schulkameradinnen eingegangen waren. Matilda erwähnte einige dieser Verbindungen und Familien, die sie dem Gotha entnommen hatte – «Aber das muss ja eine furchtbare Ehe für Elsa gewesen sein. Eine Bourbon-Parma, oder? Ja, ja, man weiß ja, wo das hinführt. Sehr bedauerlich.» Kaffee wurde serviert, köstlicher Kaffee, Teller mit Blätterteiggebäck und leckeren Cremetörtchen. «Ich sollte nichts anrühren», rief Lady Matilda, «wirklich nicht! Mein Arzt ist sehr streng. Er hat mir gesagt, ich müsse mich während meines Aufenthalts strikt an den Kurplan halten. Aber heute ist ein Feiertag, oder nicht? Wir feiern die Wiederauferstehung unserer Jugend. – Übrigens – da gibt es etwas, was mich sehr interessiert. Mein Urgroßneffe, der dich vor einiger Zeit besucht hat – ich weiß nicht mehr, wer ihn mitgebracht hat, Gräfin – es fängt mit Z an, ich kann mich an ihren Namen nicht erinnern.» «Gräfin Renata Zerkowski – » «Ach ja, das war ihr Name. Eine sehr charmante junge Dame, glaube ich. Sie hat ihn hergebracht, um dich zu besuchen. Das war sehr freundlich von dir. Er war stark beeindruckt. Auch sehr beeindruckt von deinem wundervollen Besitz. Deiner Lebensart, besonders aber von den großartigen Dingen, die er über dich gehört hat. Dass du eine ganze Bewegung unterstützt von – ach, ich weiß nicht, wie der Begriff lautet. Ganze Jugendwelten. Eine goldene, schöne Jugend. Sie scharen sich um dich. Sie beten dich an. Was für ein wunderbares Leben du führen musst. Nicht, dass ich so ein Leben führen könnte. Ich muss sehr zurückgezogen leben. Ich habe rheumatische Arthritis. Und finanzielle Schwierigkeiten. Schwierigkeiten, den Familienbesitz zu erhalten. Nun, du weißt, was das für uns in England bedeutet – unsere Steuerprobleme.» «Ich erinnere mich an deinen Neffen. Ein reizender junger Mensch, sehr angenehm. Er ist im diplomatischen Dienst, nicht wahr?» «Ja, aber es ist – nun, ich glaube, seine Talente werden nicht zur Genüge gewürdigt. Er beschwert sich nicht, aber er fühlt sich – nun, er fühlt sich nicht in dem Maße anerkannt, wie es sein sollte. Die Mächte, die heute am Ruder sind, wie sind die schon?» «Kanaille, gewöhnliche Leute!», sagte die Große Charlotte. «Intellektuelle ohne Stil. Vor fünfzig Jahren wäre das anders gewesen», sagte Lady Matilda. «Aber heutzutage kommt seine Beförderung nicht richtig voran. Ich sage dir, im Vertrauen natürlich, dass man ihm sogar misstraut. Sie verdächtigen ihn, er neige zu – wie soll ich sagen? – aufrührerischen, revolutionären Tendenzen. Man muss sich nur einmal vorstellen, wie vielversprechend die Zukunft für einen Mann sein könnte, der fortschrittlichere Ideen hat.» «Glaubst du, er ist nicht einverstanden – wie sagt man in England – mit dem sogenannten Establishment?» «Still, so darf man nicht reden. Jedenfalls ich nicht», sagte Lady Matilda. «Das interessiert mich», fuhr Charlotte fort. Matilda Cleckheaton seufzte. «Schreib es der Zuneigung einer alten Verwandten zu, wenn du willst. Staffy war immer mein Liebling. Er hat Witz und Charme. Ich glaube, er hat auch eigene Vorstellungen. Er blickt in die Zukunft, eine Zukunft, die sich erheblich von dem unterscheidet, was wir im Augenblick haben. Unser Land ist leider politisch in einem sehr schlechten Zustand. Stafford ist offenbar sehr beeindruckt von den Dingen, die du ihm gesagt oder gezeigt hast. Du hast so viel für die Musik getan, höre ich. Was wir brauchen, ist meiner Ansicht nach das Ideal der Superrasse.» «Es könnte und müsste eine Superrasse geben. Adolf Hitler hatte die richtige Idee», sagte Charlotte. «Er selbst war ein nichtssagender Mann, hatte aber künstlerische Züge. Und zweifellos besaß er die Kraft, die Fähigkeit, ein Führer zu sein.» «Oh ja. Führerschaft. Das ist es, was wir brauchen.» Charlotte sagte: «Ihr habt im letzten Krieg die falschen Alliierten gehabt, meine Liebe. Wenn England und Deutschland Seite an Seite gegangen wären, zwei arische Nationen mit den gleichen Idealen, wenn sie dieselben Vorstellungen von Jugend und Stärke vertreten hätten, kannst du ermessen, wo unsere beiden Länder heute stehen würden? Vielleicht ist das sogar noch zu eng gesehen. Auf eine Weise haben der Kommunismus und die anderen uns eine Lektion erteilt. Arbeiter aller Länder, vereinigt euch? Das heißt, die Messlatte zu tief zu hängen. Arbeiter sind nur das Material. Es muss heißen: ‹Anführer aller Länder, vereinigt euch!› Junge Menschen mit der Gabe der Führungskraft, mit gutem Blut. Wir müssen mit ihnen beginnen, nicht mit Männern mittleren Alters mit eingefahrenen Ansichten, die sich wiederholen wie eine Grammofonplatte mit einem Sprung. Wie müssen uns unter den Studenten umsehen, den jungen, beherzten Männern mit großen Ideen, die bereit sind, auf die Straße zu gehen, bereit, getötet zu werden, aber auch selbst zu töten. Ohne Bedenken zu töten – weil ohne Aggression, ohne Gewalt, ohne Angriffslust der Sieg nicht errungen werden kann. Ich muss Dir etwas zeigen –» Mit einiger Anstrengung gelang es ihr, auf die Beine zu kommen. Lady Matilda stand ebenfalls auf, betont mühevoller, als nötig gewesen wäre. «Es war im Mai 1940», sagte Charlotte, «als die Hitlerjugend in ihr zweites Stadium eintrat. Als Himmler von Hitler eine Order erhielt. Die Order der berühmten SS. Sie wurde für die Vernichtung der Ostvölker, der Slawen, der vorbestimmten Sklaven der Welt erstellt. Sie sollte Raum schaffen für die deutsche Herrenrasse. Das Ausführungsorgan der SS entstand.» Ihr Stimme senkte sich etwas. Sie war jetzt von fast religiöser Ehrfurcht. Lady Matilda hätte sich aus Versehen fast bekreuzigt. «Der Totenkopforden», sagte die Große Charlotte. Sie ging mühsam und unter Schmerzen den Raum entlang und zeigte auf die Wand, wo im Goldrahmen und einem Schädel darüber die Totenkopforder hing. «Schau nur. Das ist mein liebster Besitz. Sie hängt hier an meiner Wand. Wenn meine goldene Jungvolkgruppe hierherkommt, salutieren sie hier. Im Schlossarchiv gibt es Bände mit der Chronik des Ordens. Manche sind nur für einen starken Magen verdaulich, aber man muss lernen, diese Dinge zu akzeptieren. Der Tod in den Gaskammern, die Folterkeller – die Nürnberger Prozesse berichten mit Gehässigkeit von diesen Dingen. Aber es war eine grandiose Tradition. Stärke durch Leiden. Sie wurden früh trainiert, die jungen Leute. Sie sollten weder schwanken noch umkehren oder verweichlicht sein. Selbst Lenin erklärt in seiner marxistischen Doktrin ‹Keine Schwäche zeigen!›. Es war eine der ersten Regeln bei der Errichtung des perfekten Staates. Aber wir haben das zu eng gesehen. Wir wollten unseren großen Traum nur für die deutsche Herrenrasse erfüllen. Aber es gibt noch andere Rassen. Auch sie können zur Herrschaft gelangen, durch Leiden und Gewalt und gelenkten Einsatz der Anarchie. Wir müssen alles niederreißen, alle verweichlichten Institutionen, alle erniedrigenden Formen von Religion beseitigen. Es gibt eine Religion der Stärke, die alte Religion der Wikinger. Und wir haben einen Führer, er ist noch jung, gewinnt aber jeden Tag an Stärke und Macht. Was hat ein großer Mann einmal gesagt? ‹Gib mir das Werkzeug und die Tat ist mein.› So ähnlich. Unser Anführer hat das Werkzeug, die Mittel, schon zur Hand. Er wird noch mehr Mittel bekommen. Er wird Flugzeuge, Bomben, chemische Kampfmittel zur Verfügung haben. Er wird die Männer für den Kampf haben, die Transportmittel. Er wird Schiffe haben und Öl. Er wird sozusagen den Geist aus Aladins Wunderlampe haben. Man reibt die Lampe und der Geist erscheint. Es ist alles bereit. Die Produktionsmittel, der Reichtum und unser junger Führer, ein Führer von Geburt und Charakter. Er besitzt all das.» Sie hustete und keuchte. «Lass dir helfen.» Lady Matilda half ihr auf ihren Sitz zurück. Charlotte schnappte etwas nach Luft beim Hinsetzen. «Es ist traurig, alt zu sein, aber ich halte mich noch lange genug. Lange genug, um noch den Triumph einer Neuen Welt zu erleben, einer neuen Schöpfung. Das ist, was du für deinen Neffen brauchst. Ich werde mich darum kümmern. Macht im eigenen Land, das wünscht er sich doch, oder? Wärest du bereit, den Brückenkopf dort zu unterstützen?» «Früher hatte ich einigen Einfluss. Aber heute –» Lady Matilda schüttelte den Kopf. «Das ist alles vorbei.» «Das kommt wieder, meine Liebe», sagte ihre Freundin. «Es war richtig, zu mir zu kommen. Ich habe einen gewissen Einfluss.» «Es ist eine große Sache», sagte Lady Matilda. Sie seufzte und murmelte: «Jung-Siegfried.» IV «Ich hoffe, Sie haben das Treffen mit Ihrer alten Freundin genossen», sagte Amy, als sie zurück ins Gasthaus fuhren. «Wenn du nur all den Unsinn gehört hättest, den ich geredet habe, du würdest es nicht glauben», erwiderte Lady Matilda Cleckheaton. Kapitel 16 Pikeaway spricht «Die Nachrichten aus Frankreich sind sehr schlecht», sagte Oberst Pikeaway und wischte eine Wolke aus Zigarrenasche von seinem Jackett. «Ich hörte, wie Winston Churchill das im letzten Krieg sagte. Das war ein Mann, der sich mit klaren und knappen Worten äußern konnte. Das war sehr eindrucksvoll. Nun, das ist lange her, aber ich sage es auch heute. Die Nachrichten aus Frankreich sind sehr schlecht.» Er hustete, keuchte und bürstete sich noch etwas mehr Asche ab. «Die Nachrichten aus Italien sind auch sehr schlecht», sagte er. «Aus Russland wären sie wahrscheinlich auch sehr schlecht, nehme ich an, wenn die sie nur herausließen. Dort haben sie auch Probleme. Marschierende Studentenbanden auf der Straße, eingeschlagene Schaufenster, belagerte Botschaften. Die Nachrichten aus Ägypten sind sehr schlecht. Aus Jerusalem, aus Syrien. Das ist alles mehr oder weniger normal, da müssen wir uns nicht besonders aufregen. Die Nachrichten aus Argentinien sind etwas ungewöhnlich, würde ich sagen. Sehr ungewöhnlich. Argentinien, Brasilien und Kuba haben sich zusammengeschlossen. Sie nennen sich die Staatenföderation der Goldenen Jugend oder irgend so etwas. Sie haben auch eine Armee. Gut ausgebildet und gedrillt, bewaffnet, kommandiert. Sie haben Flugzeuge, Bomben, sie haben weiß Gott was. Die meisten scheinen genau zu wissen, was sie damit anfangen sollen, das macht es noch schlimmer. Dann ist da noch die singende Menge. Pop-Songs, alte regionale Volkslieder und alte Schlachtgesänge. Sie marschieren dahin wie die Heilsarmee – das meine ich nicht blasphemisch –, ich beschwere mich nicht über die Heilsarmee. Die hat immer tolle Arbeit geleistet. Und die Mädels sind so niedlich mit ihren Schutenhüten!» Er fuhr fort: «Ich höre, dass etwas in der Art auch in den zivilisierten Ländern im Gange ist, angefangen bei uns. Manche kann man ja wohl noch zivilisiert nennen, oder? Einer unserer Politiker hat neulich gesagt, wir seien eine großartige Nation, hauptsächlich, weil wir freizügig sind. Wir hätten Demonstrationen, Dinge würden zerschlagen, wir würden alle verprügeln, wenn wir nichts Besseres zu tun hätten, wir würden unseren Übermut durch Gewaltanwendung loswerden und unsere Sittenreinheit, indem wir uns nahezu aller Kleidungsstücke entledigten. Ich weiß nicht, was er sich dabei gedacht hat – Politiker wissen das meist selbst nicht –, aber sie können es immer als richtig darstellen. Dafür sind sie Politiker.» Er machte eine Pause und sah den Mann an, mit dem er sprach. «Besorgniserregend – sehr besorgniserregend», sagte Sir George Packham. «Man kann es kaum glauben –man muss sich Sorgen machen – sind das alle Ihre Neuigkeiten?», fragte er enttäuscht. «Reicht das etwa nicht? Sie sind schwer zufriedenzustellen. Weltweite Anarchie ist im Anzug – das ist es doch. Noch ein bisschen wacklig – noch nicht voll etabliert, aber sehr nahe dran – wirklich sehr nah.» «Aber man kann doch sicherlich Maßnahmen gegen all das ergreifen?» «Nicht so leicht, wie Sie denken. Tränengas hält den Aufruhr für eine Weile in Schach und gibt der Polizei eine Atempause. Und sicherlich haben wir eine Menge biologische Kampfmittel und Atombomben und so weiter aus unserer Trickkiste – was denken Sie denn, was passiert, wenn wir anfangen, die anzuwenden? Ein Massensterben unter all den demonstrierenden Jungs und Mädels, den Hausfrauenzirkeln, den alten Pensionären zu Hause und einem Gutteil unserer hochtrabenden Politiker. Während die uns erzählen, dass wir es noch nie so gut gehabt hätten wie heute. Und Sie und ich noch obendrein – ha, ha!» «Überhaupt», fügte Oberst Pikeaway noch hinzu, «wenn Sie nur auf Neuigkeiten aus sind, ich glaube, es werden heute noch ein paar aufregende Neuigkeiten eingehen, speziell für Sie. Streng geheim aus Deutschland, Herr Heinrich Spiess in Person.» «Wo um Himmels willen haben Sie das denn her? Es soll streng –» «Wir wissen alles hier», sagte Oberst Pikeaway, und dann seinen Lieblingssatz: «Dazu sind wir da.» «Er bringt noch irgendeinen zahmen Doktor mit, glaube ich –» «Ja, einen Dr. Reichhardt, einen Topwissenschaftler, nehme ich an – » «Nein. Ein Mediziner – Irrenhäuser –» «Ach je. Ein Psychologe?» «Wahrscheinlich. Die Leiter von Irrenhäusern sind meist Psychologen. Wenn wir Glück haben, hat man ihn hierhergebracht, um einige unserer jungen Hitzköpfe zu untersuchen. Sie sind alle vollgestopft mit deutscher Philosophie, Black-Power-Philosophie, der Philosophie verstorbener französischer Schriftsteller und so weiter und so fort. Vielleicht soll er auch die Köpfe einiger unserer großen Leuchten von der Justiz untersuchen, die den Gerichten Vorsitzen und uns warnen, sehr vorsichtig zu sein und das Ego junger Männer nicht zu verletzen, sie müssten ja vielleicht noch ihren Lebensunterhalt verdienen. Wir hätten sehr viel mehr Sicherheit, wenn wir ihnen allen Sozialhilfe zahlten. Davon könnten sie dann leben, zurückgehen in ihre Behausungen, nicht arbeiten und sich an weiterer philosophischer Lektüre erfreuen. Aber ich bin nicht auf der Höhe der Zeit. Ich weiß das. Sie brauchen es mir nicht zu sagen.» «Man muss die neue Denkweise berücksichtigen», sagte Sir George Packham. «Man fühlt – man hofft – nun, es ist schwer zu sagen –» «Es muss sehr beunruhigend für Sie sein», sagte Oberst Pikeaway. «Wenn es so schwierig ist, es in Worte zu fassen.» Sein Telefon klingelte. Er lauschte und reichte es dann an Sir George weiter. «Ja?», sagte Sir George. «Ja? Oh ja. Einverstanden. Ja. Einverstanden. Ich nehme an – nein – nein – nicht das Innenministerium. Nein. Privat, meinen Sie. Nun, ich nehme an, wir benutzen besser – er –» Sir George sah sich vorsichtig um. «Dieser Raum ist nicht verkabelt», sagte Oberst Pikeaway freundlich. «Codewort Blaue Donau», sagte Sir George Packham mit vernehmlichem, heiseren Geflüster. «Ja, ja, ich bringe Pikeaway mit. Oh ja, natürlich. Ja, ja. Sagen Sie ihm Bescheid. Ja, Sie sagen, Sie wünschen besonders, dass er kommt. Aber behalten Sie im Auge, dass unser Treffen rein privater Natur ist.» «Dann können wir meinen Wagen nicht nehmen», sagte Pikeaway. «Er ist zu bekannt.» «Henry Horsham kommt und holt uns mit seinem Wagen ab.» «Gut», sagte Oberst Pikeaway. «Das ist ja alles sehr interessant.» «Denken Sie nicht –» «Was meinen Sie?» «Ich meine nur – nun, ich – entschuldigen Sie, wenn ich – dürfte ich eine Kleiderbürste vorschlagen?» «Ach, das.» Oberst Pikeaway klopfte sich leicht auf die Schulter, eine Wolke von Zigarrenasche flog auf und ließ Sir George nach Luft schnappen. «Nanny», rief Oberst Pikeaway. Er hieb auf einen Summer, der sich auf dem Schreibtisch befand. Eine Frau mittleren Alters kam mit einer Kleiderbürste, herbeigerufen mit der Blitzgeschwindigkeit des Geistes aus Aladins Wunderlampe. «Bitte, halten Sie die Luft an, Sir George», sagte sie. «Das beißt ein wenig.» Sie hielt ihm die Tür auf und er verzog sich nach draußen, während sie Oberst Pikeaway abbürstete. Er hustete und beschwerte sich: «Verdammte Landplage, diese Leute. Immer wollen sie, dass man sich herausputzt wie ein Stutzer.» «So würde ich Ihr Aussehen nicht gerade beschreiben, Oberst Pikeaway. Sie sollten sich langsam daran gewöhnt haben, dass ich Sie abbürste. Und Sie wissen auch, dass der Innenminister Asthma hat.» «Nun, das ist sein Problem. Er tut eben nicht genug gegen die Luftverschmutzung in London. Kommen Sie, Sir George. Lassen Sie uns hören, was unser deutscher Freund uns zu sagen hat. Es hört sich ziemlich dringend an.» Kapitel 17 Herr Heinrich Spiess Herr Heinrich Spiess war besorgt. Er gab sich keine Mühe, dies zu verbergen. Er bestätigte im Gegenteil, dass die Situation, die die fünf anwesenden Männer besprechen wollten, in der Tat sehr ernst war. Gleichzeitig wirkte er sehr beruhigend, sehr beschwichtigend, was sein Hauptvorteil bei der Bewältigung der jüngsten schwierigen politischen Situation in Deutschland war. Er war ein solider Mensch, der seinen gesunden Menschenverstand in jede Versammlung einbrachte, an der er teilnahm. Er machte nicht den Eindruck eines brillanten Mannes, allein das war schon beruhigend. Brillante Politiker waren für zwei Drittel der nationalen Krisensituationen verantwortlich, und das in mehr als einem Land. Das andere Drittel wurde von den Politikern verursacht, die, obwohl legal von demokratischen Regierungen gewählt, doch ihren eklatanten Mangel an Urteilsvermögen, gesundem Menschenverstand und allgemeinen Verstandesqualitäten nicht verbergen konnten. «Dies ist auf keinen Fall ein offizielles Treffen, verstehen Sie», sagte Spiess. «Ja, sicher, sicher.» «Es wurde mir eine Nachricht übermittelt, die ich Ihnen meiner Ansicht nach auf jeden Fall mitteilen sollte. Sie wirft ein interessantes Licht auf gewisse Ereignisse, die uns verwirrt und beängstigt haben. Dies ist Dr. Reichhardt.» Er wurde ringsum vorgestellt. Dr. Reichhardt war ein großer, gemütlich wirkender Mann mit der Angewohnheit, von Zeit zu Zeit ‹ach ja› zu sagen. «Dr. Reichhardt leitet eine große Institution in der Nähe von Karlsruhe. Er behandelt dort Geisteskranke. Ich gehe doch richtig in der Annahme, dass Sie dort fünf- bis sechshundert Patienten behandeln, oder?» «Ach ja», sagte Dr. Reichhardt. «Ich nehme an, Sie behandeln verschiedene Arten von Geisteskrankheit?» «Ach ja. Wir haben dort unterschiedliche Geisteserkrankungen, aber ich habe ein besonderes Interesse und behandle fast ausschließlich eine spezielle Art von Geistesgestörtheit.» Er fiel ins Deutsche und Herr Spiess gab eine kurze Übersetzung für den Fall, dass einige seiner englischen Kollegen nicht alles verstanden. Das war sowohl nötig als auch taktvoll. Zwei verstanden es teilweise, einer gar nicht, und die beiden anderen waren offensichtlich verwirrt. «Dr. Reichhardt hatte», erklärte Herr Spiess, «die größten Erfolge bei seiner Behandlung von Megalomanie, was der Laie wohl Größenwahn nennen würde. Die Überzeugung, dass man jemand anders ist als man selbst. Die Einbildung, man sei viel wichtiger als in Wirklichkeit. Vorstellungen von Verfolgungswahn –» «Ach nein!», sagte Dr. Reichhardt. «Verfolgungswahn, nein, das behandle ich nicht. In meiner Klinik gibt es keinen Verfolgungswahn. Nicht in der Gruppe, für die ich mich besonders interessiere. Im Gegenteil, sie haben ihre Wahnvorstellungen, weil sie glücklich sein wollen. Und sie sind glücklich, und ich kann sie glücklich halten. Wenn ich sie aber heile, sehen Sie, dann werden sie nicht mehr glücklich sein. Also muss ich eine Behandlung finden, die sie in die Normalität zurückführt und doch glücklich bleiben lässt. Wir nennen diesen speziellen Geisteszustand –» Er murmelte einen langen und sehr deutsch klingenden Ausdruck mit mindestens acht Silben. «Für unsere englischen Freunde werde ich weiterhin den Ausdruck Größenwahn benutzen», fuhr Herr Spiess schnell fort, «obwohl ich weiß, dass das nicht der Terminus ist, den Sie heute verwenden, Dr. Reichhardt. Also, Sie haben, wie gesagt, sechshundert Patienten in Ihrer Klinik.» «Zu jener Zeit, auf die ich mich gleich beziehen werde, hatte ich achthundert.» «Achthundert!» «Es war interessant – sehr interessant!» «Sie haben solche Personen – um am Anfang zu beginnen –» «Wir haben Gott, den Allmächtigen», erklärte Dr. Reichhardt. «Sie verstehen?» Mr. Lazenby sah leicht entsetzt aus. «Oh – hm, ja – hm – ja. Sehr interessant. Sicherlich.» «Es gibt da ein oder zwei junge Männer, natürlich, die glauben, sie seien Jesus Christus. Aber der ist nicht so beliebt wie der Allmächtige. Dann gibt es wieder andere. Zu der Zeit, die ich erwähnen möchte, hatte ich vierundzwanzig Adolf Hitlers. Sie müssen verstehen, das war zu Lebzeiten Hitlers. Ja, vier- oder fünfundzwanzig Adolf Hitlers –» er konsultierte ein kleines Notizbuch, das er aus der Tasche gezogen hatte. «Ich habe mir hier einige Notizen gemacht. Fünfzehn Napoleons, er war immer sehr beliebt. Zehn Mussolinis, fünf Reinkarnationen von Julius Cäsar und viele andere Fälle, sehr kurios, sehr interessant. Aber ich will Sie damit im Augenblick nicht ermüden. Da Sie im medizinischen Sinne nicht besonders qualifiziert sind, wäre es für Sie ohnehin nicht von Interesse. Wir kommen jetzt zu dem fraglichen Ereignis.» Dr. Reichhardt sprach noch einmal, etwas kürzer, und Herr Spiess fuhr fort, zu übersetzen: «Eines Tages besuchte ihn ein Regierungsvertreter. Hoch angesehen bei der damaligen Regierung – das war zu Kriegszeiten, müssen Sie bedenken. Ich will ihn fürs Erste Martin B. nennen. Sie werden wohl wissen, wen ich meine. Er brachte seinen Vorgesetzten mit. Er brachte tatsächlich – nun, wir wollen kein Geheimnis daraus machen – den Führer selbst mit.» «Ach ja», sagte Dr. Reichhardt. «Es war eine große Ehre, dass er zur Besichtigung kam, verstehen Sie», fuhr der Doktor fort. «Er war sehr zuvorkommend, der Führer. Er sagte mir, er habe sehr positive Berichte über meine Erfolge erhalten. Er sagte, es habe kürzlich Probleme gegeben. Bestimmte Fälle in der Armee. Dort habe es mehr als einen Mann gegeben, der dachte, er sei Napoleon. Manche glaubten, sie seien einer von Napoleons Marschällen und verhielten sich auch so, verstehen Sie? Sie gaben militärische Befehle aus und lösten so militärische Probleme aus. Ich hätte ihm gern professionelles Wissen vermittelt, das ihm von Nutzen sein könnte, aber Martin B. der ihn begleitete, sagte, das sei nicht nötig. Unser großer Führer jedoch», sagte Dr. Reichhardt und sah dabei Herrn Spiess mit leichtem Unbehagen an, «wollte mit solchen Details nicht belästigt werden. Er sagte, es sei zweifellos besser, wenn medizinisch qualifizierte Leute mit einiger Erfahrung als Neurologen zu einer Konsultation kommen würden. Was er wünschte, war – ach, nun, er wollte sich etwas umsehen, und ich fand bald heraus, was er wirklich sehen wollte. Es hätte mich kaum überraschen sollen. Oh nein, denn sehen Sie, es war eines der Symptome, die einem auffallen. Die Belastungen im Leben des Führers fingen schon an, ihre Spuren zu hinterlassen.» «Ich nehme an, zu dieser Zeit begann er schon zu glauben, er sei Gott der Allmächtige selbst», sagte Oberst Pikeaway unerwartet und lachte in sich hinein. Dr. Reichhardt sah schockiert aus. «Er bat mich, ihm bestimmte Dinge mitzuteilen. Er sagte, Martin B. habe ihm erzählt, ich hätte tatsächlich eine große Anzahl von Patienten, die glaubten, sie seien Adolf Hitler. Ich erklärte ihm, das sei nicht ungewöhnlich; bei dem Respekt und der Verehrung, die sie für Adolf Hitler empfänden, sei es nur natürlich, dass der große Wunsch, wie er zu sein, sie am Ende dazu brachte, sich gar für ihn zu halten. Ich war etwas besorgt, als ich das erwähnte, aber ich war hocherfreut zu sehen, dass er alle Anzeichen von Zufriedenheit zeigte. Er nahm es, so stellte ich mit Dankbarkeit fest, als Kompliment, diesen leidenschaftlichen Wunsch, genau wie er zu sein. Als Nächstes fragte er, ob er einige der Patienten mit diesen speziellen Symptomen sehen könne. Wir hatten eine kleine Besprechung. Martin B. schien im Zweifel, aber er nahm mich zur Seite und versicherte mir, dass es Hitler ernst damit war. Er selbst war nur bestrebt sicherzustellen, dass Hitler nichts – kurz, dass man Hitler nicht gestatten konnte, ein Risiko einzugehen. Sollten einige dieser sogenannten Hitler-Figuren, die leidenschaftlich an sich selbst glaubten, sich ein bisschen heftig oder gewalttätig zeigen… Ich versicherte ihm, er müsse sich keine Sorgen machen. Ich schlug vor, das ich eine Gruppe der ruhigsten unserer ‹Führer› für ihn zusammenstellen würde. Herr B. versicherte, der Führer sei begierig, sie zu befragen und sich unter sie zu mischen, ohne meine Begleitung. Die Patienten, sagte er, würden sich nicht ungezwungen verhalten, wenn sie dem Chef der Einrichtung begegneten, und wenn keine Gefahr bestehe… ich versicherte ihm wieder, es bestehe keine Gefahr. Ich sagte jedoch, ich würde es vorziehen, wenn Herr B. ihn begleitete. Das war kein Problem. Es wurde arrangiert. Die ‹Führer› wurden aufgefordert, sich in einem Raum zu versammeln, um einen berühmten Besucher zu treffen, der gern mit ihnen Erfahrungen austauschen wollte. Ach ja. Martin B. und der Führer wurden der Versammlung vorgestellt. Ich zog mich zurück, schloss die Tür und unterhielt mich mit den beiden Adjutanten, die sie begleitet hatten. Der Führer, sagte ich, schien sehr nervös zu sein. Er hatte sicher gerade eine Menge Schwierigkeiten gehabt. Das war, wenn ich das einfügen darf, ganz kurz vor Kriegsende, als sich die Dinge, offen gesagt, sehr zum Schlechten entwickelten. Der Führer selbst, so berichteten sie mir, sei sehr besorgt in letzter Zeit, aber überzeugt, dass er den Krieg zu einem erfolgreichen Ende bringen könne, wenn die Pläne, die er seinem Generalstab laufend vorlegte, prompt akzeptiert und auch durchgeführt würden.» «Der Führer, nehme ich an», sagte Sir George Packham, «war zu der Zeit – ich will sagen – zweifelsohne war er in einem Zustand, der –» «Wir müssen diesen Punkt nicht betonen», sagte Herr Spiess. «Er war schon völlig außer sich. Bei mehreren Gelegenheiten musste man ihm die Befehlsgewalt entziehen. Aber das wissen Sie alle gut genug aus den Untersuchungen, die Sie selbst in meinem Land angestellt haben.» «Man erinnert sich, bei den Nürnberger Prozessen –» «Ich finde, es besteht keine Notwendigkeit, die Nürnberger Prozesse zu erwähnen», sagte Mr. Lazenby entschieden. «All das liegt weit hinter uns. Wir schauen auf eine große Zukunft im Gemeinsamen Markt mithilfe Ihrer Regierung, mit der Regierung von Monsieur Grosjean und Ihren anderen europäischen Kollegen. Die Vergangenheit ist Vergangenheit.» «Ganz recht», sagte Herr Spiess, «und es ist die Vergangenheit, von der wir hier sprechen. Martin B. und Hitler verweilten nur kurz in dem Versammlungsraum. Nach sieben Minuten kamen Sie wieder heraus. Herr B. drückte Dr. Reichhardt seine Zufriedenheit über dieses Erlebnis aus. Ihr Wagen warte und er und Hitler müssten sofort weiterfahren zu einer anderen Verabredung. Sie brachen sehr hastig auf.» Stille herrschte im Raum. «Und dann?», fragte Oberst Pikeaway. «Ist was passiert? Oder war schon etwas passiert?» «Das Verhalten eines unserer Hitlerpatienten war ungewöhnlich», sagte Dr. Reichhardt. «Er sah Hitler besonders ähnlich, was ihm immer ein besonderes Selbstvertrauen verliehen hatte. Er bestand jetzt noch nachdrücklicher als früher darauf, dass er der Führer sei, dass er sofort nach Berlin müsse, dass er bei einer Sitzung des Generalstabs präsidieren müsse. Tatsächlich zeigte er keinerlei Anzeichen der leichten Verbesserung mehr, die vorher in seinem Zustand festzustellen waren. Er schien so sehr verändert, dass ich nicht begreifen konnte, wie eine solche Veränderung so schnell hatte eintreten können. Ich war wirklich erleichtert, als seine Verwandten zwei Tage später anriefen, um ihn nach Hause zu holen und ihn dort künftig privat behandeln lassen wollten.» «Und Sie ließen ihn gehen.» «Natürlich ließ ich ihn gehen. Sie hatten einen verantwortlichen Arzt dabei, er war ein freiwilliger Patient, war nicht eingewiesen worden, also war es sein Recht. Und so reiste er ab.» «Ich begreife nicht –», sagte Sir George Packham. «Herr Spiess hat eine Theorie –» «Es ist keine Theorie», sagte Spiess. «Was ich Ihnen berichte, ist Tatsache. Die Russen haben es verheimlicht, wir haben es verheimlicht. Zahlreiche Beweisstücke und Beweise sind aufgetaucht. Hitler, unser Führer verblieb mit seinem eigenen Einverständnis in dem Asyl an jenem Tag, und der Mann mit der größten Ähnlichkeit mit Hitler reiste mit Martin B. ab. Es war der Leichnam dieses Patienten, den man später im Bunker fand. Ich will es kurz machen. Wir müssen nicht unnötig ins Detail gehen.» «Wir müssen alle die Wahrheit erfahren», sagte Lazenby. «Der echte Führer wurde über eine vorher arrangierte Geheimroute nach Argentinien geschmuggelt und hat dort einige Jahre gelebt. Er hatte dort einen Sohn von einem schönen arischen Mädchen aus guter Familie. Einige sagen, sie war ein englisches Mädchen. Hitlers Geisteszustand verschlechterte sich, und er starb geistig umnachtet, glaubte, noch seine Armeen ins Feld zu führen. Das war der einzig mögliche Plan, wie er aus Deutschland hätte entkommen können. Er akzeptierte das.» «Und Sie glauben, in all den Jahren ist nichts ans Licht gekommen, nichts wurde bekannt?» «Es gab Gerüchte, es gibt immer Gerüchte. Erinnern Sie sich, eine der russischen Zarentöchter soll dem Massaker an ihrer Familie entkommen sein.» «Aber das war –» George Packham hielt inne. «Das war falsch – völlig falsch.» «Eine Gruppe von Leuten wies es als Fälschung nach. Eine andere Gruppe hat es als wahr bezeichnet, beide hatten sie gekannt. Dass Anastasia wirklich Anastasia war, oder dass Anastasia, Großherzogin von Russland, in Wirklichkeit nur ein Bauernmädchen war. Welche Geschichte ist wahr? Alles Gerüchte. Je länger sie kursieren, desto weniger Leute glauben daran, ausgenommen Romantiker, die glauben das weiter. Es wurde oft gemunkelt, Hitler sei am Leben, nicht umgekommen. Es gibt niemand, der mit Sicherheit sagen kann, dass sie seinen Leichnam untersucht haben. Die Russen haben das behauptet. Sie haben aber keine Beweise vorgelegt.» «Wollen Sie damit wirklich sagen – Dr. Reichhardt, unterstützen Sie diese außerordentliche These?» «Ach», sagte Dr. Reichhardt. «Ich habe Ihnen meinen Teil berichtet. Es war sicherlich Martin B. der mich im meinem Sanatorium aufgesucht hat. Es war Martin B. der den Führer mitgebracht hat. Es war Martin B. der ihn als Führer behandelt hat, mit der Ehrerbietung, mit der man zum Führer spricht. Was mich betrifft, ich lebte schon mit einigen Hunderten von Führern in meinem Sanatorium zusammen, mit Napoleons, Julius Cäsars. Sie müssen verstehen, dass die Hitlers bei mir im Sanatorium alle ähnlich aussahen. Sie hätten alle, fast alle, Adolf Hitler sein können. Sie hätten sich nie mit solcher Leidenschaft, solcher Heftigkeit für Adolf Hitler halten können, hätten sie nicht zumindest eine gewisse Ähnlichkeit besessen, ergänzt durch Schminke, Verkleidung, fortwährende Schauspielerei und Verkörperung der Rolle. Ich war Adolf Hitler vorher noch nie begegnet. Man sah Bilder von ihm in der Zeitung, man wusste oberflächlich, wie unser großer Genius aussah, aber man kannte nur die Bilder, die er an die Öffentlichkeit ließ. Also kam er, er war der Führer, Martin B. dem man in diesem Punkt am meisten vertrauen konnte, sagte, er sei der Führer. Nein, ich hatte keinen Zweifel. Ich folgte den Befehlen. Hitler wollte den Raum allein betreten, um eine Auswahl – wie soll ich sagen? – seiner Gipsabgüsse zu treffen. Er ging hinein, er kam wieder heraus. Die Kleidung hätte getauscht werden können, ohnehin nicht sehr unterschiedliche Kleidung. Kam er selbst heraus oder einer der selbst ernannten Hitlers? Von Martin B. schnell hinausbugsiert, während der echte Mann zurückblieb und sich daran erfreuen konnte, seine erwählte Rolle zu spielen; der erkannte, dass er auf diese Weise, und nur auf diese Weise, aus dem Lande entkommen konnte, das kurz vor der Kapitulation stand. Er war schon geistesgestört, mental geschädigt von Wut und Ärger, dass die Befehle an seinen Stab, seine Anweisungen für die unmöglichen Dinge, die sie sagen und tun sollten, nicht wie in alten Zeiten sofort ausgeführt wurden. Er nahm schon wahr, dass ihm das Oberkommando entglitt. Aber er hatte ein oder zwei Getreue, die einen Plan für ihn entwickelt hatten, ihn aus dem Land, aus Europa herauszubringen, an einen Ort, wo er auf einem anderen Kontinent seine Nazianhänger um sich sammeln konnte, die Jungen, die so leidenschaftlich an ihn glaubten. Das Hakenkreuz würde dort wieder aufgerichtet. Er spielte seine Rolle. Er genoss es, ohne Frage. Ja, das passte zu einem Mann, dessen Verstand unzweifelhaft schon angeschlagen war. Er würde den anderen schon zeigen, dass er die Rolle Hitlers spielen konnte, besser als sie. Er lachte manchmal in sich hinein, und meine Ärzte, meine Pflegerinnen sahen gelegentlich nach ihm und bemerkten eine leichte Veränderung. Ein Patient, der vielleicht besonders geistesgestört war. Pah, das war nichts Besonderes. Das gab es immer wieder. Bei den Napoleons, den Julius Cäsars, bei allen von ihnen. Als Laie würde man wohl sagen, manchmal hatten sie eben ihre besonders verrückten Tage. Ich kann es nur so beschreiben. Jetzt ist die Reihe an Herrn Spiess.» «Unglaublich!», sagte der Innenminister. «Ja, unglaublich», sagte Herr Spiess geduldig. «Aber unglaubliche Dinge geschehen, wissen Sie? In der Geschichte, im alltäglichen Leben, ganz gleich wie unwahrscheinlich sie sind.» «Und keiner hatte einen Verdacht, keiner hat es gewusst?» «Es war sehr gut vorbereitet. Es war gut geplant, gut ausgearbeitet. Die Fluchtroute war bereit, die genauen Einzelheiten waren nicht bekannt, aber man kann sie ganz gut rekonstruieren. Als wir die Sache zurückverfolgten und Ermittlungen anstellten, fanden wir heraus, dass einige der Beteiligten, die eine bestimmte Person mit verschiedenen Verkleidungen und Namen von Ort zu Ort weitergaben, nicht so alt geworden sind, wie man hätte erwarten können.» «Meine Sie für den Fall, dass sie das Geheimnis verraten oder zu viel geredet hätten?» «Die SS hat dafür gesorgt. Reiche Entlohnung, Lob, Versprechen hoher zukünftiger Positionen und dann – der Tod ist eine sehr viel einfachere Lösung. Die SS war an den Tod gewöhnt. Sie kannten die verschiedenen Methoden, sie wussten, wie man Leichen entsorgt – oh ja, das kann ich Ihnen bestätigen, diese Geschichte wird schon eine ganze Weile untersucht. Die Erkenntnisse haben wir Schritt für Schritt gewonnen, wir haben Nachforschungen angestellt, Dokumente erworben, und die Wahrheit ist ans Licht gekommen. Adolf Hitler hat Südamerika mit Gewissheit erreicht. Es heißt, dass eine Hochzeit stattfand, dass ein Kind geboren wurde. Das Kind erhielt eine Hakenkreuz-Tätowierung an der Ferse. Schon als Baby tätowiert. Ich habe verlässliche Agenten getroffen, denen ich vertrauen kann. Sie haben diesen tätowierten Fuß in Südamerika gesehen. Dieses Kind wurde dort aufgezogen, sorgfältig bewacht, abgeschirmt, vorbereitet – vorbereitet wie etwa der Dalai-Lama für seine große Bestimmung. Denn das war die Idee hinter der fanatischen Jugend, diese Doktrin war größer als die, von denen sie ausgegangen waren. Das war nicht nur eine Wiedererweckung der Nazis, der neuen deutschen Herrenrasse. Das auch, aber es ging darüber hinaus. Die Jugend vieler anderer Nationen, die Herrenrasse der jungen Männer aller Nationen Europas sollte sich vereinigen, in die Ränge der Anarchie eintreten, die alte Welt zerstören, diese materialistische Welt; eine neue große Horde mörderischer, gewalttätiger Bruderschaften sollte etabliert werden. Die zuerst zerstören und dann zur Macht aufsteigen. Und sie hatten jetzt ihren Anführer gefunden. Ein Führer mit dem echten Blut in den Adern, ein Führer, obwohl er keine große Ähnlichkeit zu seinem toten Vater entwickelte. Ein blonder, hellhäutiger, nordischer Knabe, der sein Aussehen wahrscheinlich seiner Mutter verdankt. Ein goldener Knabe. Ein junger Mann, den die ganze Welt akzeptieren konnte. Deutsche und Österreicher zuerst, denn er ist Jung-Siegfried, die Verkörperung ihres Glaubens, ihrer Musik. So wuchs er als Jung-Siegfried auf, der sie dereinst ins Gelobte Land führen würde. Nicht das Gelobte Land der Juden, die sie verabscheuten, nicht dorthin, wo Mose seine Gefolgsleute geführt hatte. Die Juden waren tot und begraben, getötet oder in den Gaskammern ermordet. Es sollte ihr ureigenes Land sein, erworben durch ihren Heldenmut. Die Länder Europas würden mit den südamerikanischen Ländern verbunden. Dort hatten sie bereits ihren Brückenkopf, ihre Anarchisten, ihre Propheten, ihre Guevaras, Castros, die Guerillas, ihre Anhänger. Eine lange, mühsame Ausbildung in Grausamkeit und Folter, Gewalt und Tod und danach, ein glorreiches Leben. Freiheit! Als Regenten dieses Staates der Neuen Welt. Die erwählten Eroberer.» «Völliger Unsinn», sagte Mr. Lazenby. «Wenn das alles erst einmal aufgehalten wird – dann bricht die ganze Sache zusammen. Das ist doch alles völlig lächerlich. Was können die denn ausrichten?» Cedric Lazenby klang äußerst gereizt. Herr Spiess schüttelte sein schweres, weises Haupt. «Das mögen Sie wohl fragen. Ich gebe Ihnen die Antwort – sie wissen es nicht. Sie wissen gar nicht, wo sie sich hinbewegen. Sie wissen nicht, was ihnen angetan werden wird.» «Sie meinen, sie sind nicht die wirklichen Anführer?» «Sie sind die jungen Helden auf dem Marsch, trampeln sich ihren Weg zum Ruhm, über die Stufen der Gewalt, des Leidens und des Hasses. Sie haben jetzt ihre Gefolgschaft nicht nur in Südamerika und Europa. Der Kult ist nach Norden gewandert. In die Vereinigten Staaten, auch dort stehen die jungen Leute auf, sie marschieren, sie folgen Jung-Siegfrieds Fahne. Sie werden in seiner Doktrin unterwiesen, im Töten, in der Lust am Schmerz. Sie lernen die Regeln des Totenkopfordens, Himmlers Regeln. Sie werden trainiert, sehen Sie. Sie werden heimlich indoktriniert. Sie wissen nicht, wofür sie trainiert werden. Aber wir wissen es, wenigstens einige von uns. Und Sie, hier in diesem Land?» «Vier oder fünf wissen es vielleicht», sagte Oberst Pikeaway. «In Russland haben sie es erkannt, in Amerika beginnen sie es zu erkennen. Sie wissen, es gibt die Anhänger des jungen Helden, Siegfried, aus der nordischen Legende, und dass einer, der sich Jung-Siegfried nennt, ihr Anführer ist. Dass das die neue Religion ist. Die Religion des herrlichen Junghelden, der goldene Triumph der Jugend. In ihm sind die alten nordischen Götter wiederauferstanden.» «Aber», sagte Herr Spiess und senkte die Stimme auf eine normale Tonlage, «das ist natürlich nicht die simple prosaische Wahrheit. Mächtige Persönlichkeiten stecken dahinter. Böse Männer mit erstklassigem Verstand. Ein erstklassiger Finanzier, ein großer Industrieller, jemand mit Kontrolle über Minen, Öl, Uranvorkommen, der Wissenschaftler ersten Ranges zur Verfügung hat. Und das sind diejenigen, dies Komitee von Männern, die selbst nicht sehr interessant oder außergewöhnlich wirken, aber dennoch die Kontrolle haben. Sie kontrollieren die Machtressourcen und sie kontrollieren durch gewisse Eigenmittel die jungen Menschen, die töten, und die jungen Leute, die ihre Sklaven sind. Mit der Kontrolle durch Drogen erwerben sie Sklaven. Sklaven in jedem Land, die Schritt für Schritt von weichen Drogen auf harte Drogen übergehen und dann komplett willenlos sind, völlig abhängig von Menschen, die sie nicht einmal kennen, denen sie aber auf geheime Weise mit Leib und Seele gehören. Ihr Bedürfnis nach bestimmten Drogen macht sie zu Sklaven, und im Lauf der Zeit werden diese Sklaven nutzlos, weil sie durch ihre Drogenabhängigkeit nur noch apathisch herumsitzen und süße Träume träumen können. Und so überlässt man sie dem Tod oder hilft ein wenig nach beim Sterben. Sie werden das Königreich nicht erben, an das sie glauben. Abwegige Glaubenslehren werden ihnen vorsätzlich aufgetischt. Die Götter der alten Tage in neuer Verkleidung.» «Freier Sex spielt wohl auch eine Rolle, nehme ich an?» «Sex kann sich selbst zerstören. Bei den alten Römern flohen Männer, die sich dem Laster hingaben, vom Sex besessen, bis sie gelangweilt und müde waren, manchmal hinaus in die Wüste und wurden Einsiedler wie Sankt Simeon Stylites, der Säulenheilige. Sex wird sich erschöpfen. Er hat im Augenblick seine Wirkung, aber er kann den Menschen nicht regieren, wie es Drogen tun. Drogen und Sadismus und die Liebe zur Macht und der Hass. Ein Verlangen nach Schmerz, um seiner selbst willen. Das Vergnügen, ihn jemandem zuzufügen. Sie bringen sich selbst die Freude am Bösen bei. Wenn einen die Freuden des Bösen einmal im Griff haben, so kann man nicht mehr zurück.» Sir George Packham sagte: «Mein lieber Kanzler – ich kann Ihnen wirklich nicht glauben – Ich meine, nun – Ich meine, wenn diese Tendenzen bestehen, so muss man sie mit strengen Maßnahmen unterdrücken. Ich meine, wirklich – man kann doch nicht immer weiter solche Dinge dulden. Man muss einen festen Standpunkt einnehmen – einen festen Standpunkt.» «Halt den Mund, George.» Mr. Lazenby zog seine Pfeife heraus, sah sie sich an und steckte sie dann wieder in die Tasche. «Ich denke, der beste Plan», seine fixe Idee manifestierte sich wieder, «wäre doch, wenn ich wieder nach Russland flöge. Ich nehme an, dass – nun, dass diese Fakten den Russen bekannt sind.» «Sie wissen genug», sagte Herr Spiess. «Wie viel sie davon zugeben werden – », er zuckte mit den Schultern, «das ist schwer zu sagen. Es ist nie leicht, die Russen aus der Reserve zu locken. Sie haben ihre eigenen Probleme an der chinesischen Grenze. Sie glauben wohl noch nicht ganz so wie wir an das fortgeschrittene Stadium, das die Bewegung mittlerweile erreicht hat.» «Ich würde eine Sonderreise arrangieren, unbedingt.» «Ich an deiner Stelle würde hierbleiben, Cedric.» Lord Altamounts leise Stimme kam aus einer Ecke. Er lehnte sich ermüdet in seinen Stuhl zurück. «Wir brauchen dich hier, Cedric», sagte er. Eine sanfte Bestimmtheit lag in seiner Stimme. «Du stehst an der Spitze unserer Regierung – du musst hierbleiben. Wir haben unsere professionellen Agenten – unsere eigenen Gesandten, die für Auslandsmissionen qualifiziert sind.» «Agenten?», fragte Sir George Packham zweifelnd. «Was können Agenten in diesem Stadium denn ausrichten? Wir brauchen einen Bericht von – ah, Horsham, da sind Sie ja – ich habe Sie vorher gar nicht bemerkt. Sagen Sie – was haben wir für Agenten? Und was können sie wirklich ausrichten?» «Wir haben einige sehr gute Agenten», sagte Henry Horsham ruhig. «Agenten liefern Informationen. Herr Spiess hat Ihnen auch Informationen mitgebracht. Informationen, die seine Agenten für ihn besorgt haben. Das Problem ist – war es schon immer – (man muss nur über den letzten Krieg nachlesen), keiner möchte die Informationen, die der Agent bringt, haben, geschweige denn daran glauben.» «Sicher doch – der Geheimdienst –» «Keiner will wahrhaben, dass die Agenten intelligent sind, aber das sind sie. Wissen Sie, sie sind exzellent ausgebildet, und ihre Berichte sind in neun von zehn Fällen korrekt. Doch was passiert? Die Herren in den oberen Etagen weigern sich, ihnen zu glauben. Sie gehen sogar noch weiter und weigern sich, etwas aufgrund dessen zu unternehmen.» «Wirklich – mein lieber Horsham, ich kann nicht –» Horsham wandte sich dem Deutschen zu. «Ist das nicht sogar in Ihrem Land geschehen, Sir? Wahrheitsgetreue Berichte sind eingegangen, aber nicht immer wurde danach gehandelt. Die Leute wollen es nicht wissen – wenn die Nachricht unangenehm ist» «Ich muss Ihnen zustimmen, das kann passieren und passiert – nicht häufig, das kann ich Ihnen versichern – aber ja, manchmal –» Mr. Lazenby spielte wieder mit seiner Pfeife herum. «Lassen Sie uns nicht über Informationen streiten. Es ist eine Frage des Handelns – gemäß der Informationen, die wir haben, in Aktion zu treten. Das ist nicht nur eine nationale Krise, sondern eine internationale. Entscheidungen müssen auf höchster Ebene gefällt werden – wir müssen handeln. Munro: Die Polizei muss durch die Armee verstärkt werden – militärische Maßnahmen müssen ergriffen werden. Herr Spiess, Ihr Land war immer eine große Militärnation – Aufstände müssen von den Streitmächten niedergeschlagen werden, bevor sie außer Rand und Band geraten. Sie würden sich dieser Politik doch anschließen, da bin ich sicher –» «Der Politik schon. Aber diese Aufstände befinden sich bereits ‹außer Rand und Band›, wie Sie es nennen. Sie haben Mittel, Gewehre, Maschinengewehre, Sprengstoff, Granaten, Bomben, chemisches und anderes Gas –» «Aber mit unseren Atomwaffen – der bloßen Drohung eines Nuklearkrieges – und –» «Das sind nicht bloß enttäuschte Schuljungs. In dieser Armee der Jugend befinden sich Wissenschaftler – junge Biologen, Chemiker, Physiker. Einen Nuklearkrieg in Europa anzudrohen oder gar zu führen –» Herr Spiess schüttelte den Kopf. «Wir hatten schon einen Versuch, das Trinkwasser in Köln zu vergiften – mit Typhus.» «Die ganze Lage ist unglaublich –» Cedric Lazenby blickte hoffnungsvoll um sich – «Chetwynd – Munro – Blunt?» Zu Lazenbys leichter Überraschung war Admiral Blunt der Einzige, der antwortete. «Ich weiß nicht, wo das hier die Admiralität betrifft – es ist nicht unser Bier. Ich würde dir raten, Cedric, wenn du das Beste für dich selber willst, dann nimm deine Pfeife und einen großen Tabakvorrat und verzieh dich so schnell wie möglich aus der Reichweite irgendeines Atomkrieges, den du vielleicht zu entfesseln gedenkst. Geh und kampiere in der Arktis oder sonst irgendwo, wo die Radioaktivität lange braucht, um dich einzuholen. Professor Eckstein hat uns gewarnt, und der weiß, wovon er redet.» Kapitel 18 Oberst Pikeaways Nachwort Das Treffen wurde an diesem Punkt abgebrochen. Es teilte sich in neu definierte Gruppen. Der deutsche Kanzler verschwand mit dem Premierminister, Sir George Packham, Gordon Chetwynd und Dr. Reichhardt zum Mittagessen in der Downing Street. Admiral Blunt, Oberst Munro, Oberst Pikeaway und Henry Horsham blieben zurück. So konnten sie ihre Kommentare offener und direkter abgeben, als sie es in Anwesenheit der VIPs gewagt hätten. Die ersten Bemerkungen waren etwas unzusammenhängend. «Gott sei Dank haben sie George Packham mitgenommen», sagte Oberst Pikeaway. «All die Sorgen, das Hin und Her, die Fragen und Vermutungen – das macht mich wirklich manchmal ganz fertig.» «Admiral, Sie hätten mit den anderen gehen sollen», sagte Oberst Munro. «Ich sehe nicht, wie Gordon Chetwynd oder unser George Packham in der Lage wären, unseren Cedric davon abzuhalten, für eine Konsultation auf höchster Ebene mit den Russen, den Chinesen, den Äthiopiern, den Argentiniern oder sonst wem abzuheben, wenn ihn die Laune überkommt.» «Ich habe andere Eisen im Feuer», sagte der Admiral barsch. «Ich fahre aufs Land, um eine alte Freundin zu besuchen.» Er sah Oberst Pikeaway leicht fragend an. «War diese Hitlergeschichte wirklich eine Überraschung für Sie, Pikeaway?» Oberst Pikeaway schüttelte den Kopf. «Nicht wirklich. Wir kannten alle die Gerüchte, wie unser Adolf in Südamerika auftauchte und dort die Hakenkreuzfahne jahrelang hochgehalten hat. Die Wahrscheinlichkeit war fünfzig zu fünfzig, dass es stimmte. Wer immer der Kerl war, ein Irrer, ein schauspielernder Hochstapler oder das Original, er hat seine Karten bald wieder abgegeben. Da gibt es auch eine unerfreuliche Geschichte, er war nicht gerade ein Gewinn für seine Anhänger.» «Wer war der Leichnam im Bunker? Das ist immer noch ein Diskussionspunkt. Es hat nie eine definitive Identifizierung gegeben. Die Russen haben schon dafür gesorgt.» Er stand auf, nickte den anderen zu und ging zur Tür. Munro sagte nachdenklich: «Ich glaube, Dr. Reichhardt kennt die Wahrheit – obwohl er sich sehr bedeckt gehalten hat.» «Was ist mit dem Kanzler?», fragte Horsham. «Er ist ein vernünftiger Mann», brummte der Admiral und wandte den Kopf von der Tür zurück. «Er war gerade dabei, sein Land dahin zu bringen, wo er es hinhaben wollte, als diese Jugend-Geschichte anfing, die ganze zivilisierte Welt durcheinanderzubringen – ein Jammer!» Er sah Oberst Munro listig an. «Was ist denn mit dem blonden Wunderknaben? Hitlers Sohn? Was wissen Sie über ihn?» «Kein Grund zur Aufregung», sagte Colonel Pikeaway plötzlich unerwartet. Der Admiral ließ die Türklinke los, kam zurück und setzte sich wieder hin. «Das ist alles absoluter Quatsch», sagte Oberst Pikeaway. «Hitler hatte nie einen Sohn.» «Da kann man nie sicher sein.» «Wir sind uns sicher – Franz Joseph, Jung-Siegfried, der angebetete Anführer, ist ein ganz gewöhnlicher Betrüger, ein übler Hochstapler. Er ist der Sohn eines argentinischen Zimmermanns und einer gut aussehenden Blondine, einer unbedeutenden deutschen Opernsängerin. Er hat das Aussehen und die Stimme von seiner Mutter geerbt. Er wurde sorgfältig ausgewählt für die Rolle, die er spielen sollte, zur Berühmtheit erzogen. In früher Jugend war er Schauspieler – er wurde am Fuß mit dem Hakenkreuz tätowiert – eine ganze Geschichte voller romantischer Einzelheiten wurde für ihn erfunden. Er wurde wie der auserwählte Dalai-Lama behandelt.» «Und das können Sie beweisen?» «Es ist alles vollständig dokumentiert», Oberst Pikeaway grinste. «Eine meiner besten Agentinnen hat die Unterlagen. Beglaubigungen, Fotokopien, unterschriebene Erklärungen, einschließlich einer von der Mutter, medizinische Nachweise für das Datum der Narbe, die Kopie der Original-Geburtsurkunde für Karl Aguileros – und unterzeichnete Beweise seiner Identität mit dem Namen Franz Joseph. Die ganze Trickkiste. Meine Agentin ist gerade noch rechtzeitig damit entkommen. Sie waren hinter ihr her – sie hätten sie sicher erwischt, wenn sie in Frankfurt nicht ein bisschen Glück gehabt hätte.» «Und wo befinden sich diese Dokumente jetzt?» «An einem sicheren Ort. Dort warten sie auf den richtigen Augenblick für die spektakuläre Demaskierung eines erstklassigen Hochstaplers –» «Weiß die Regierung das? – Der Premierminister?» «Ich sage Politikern niemals alles, was ich weiß nur wenn es sich gar nicht mehr vermeiden lässt oder ich ganz sicher bin, dass sie das Richtige tun werden.» «Sie sind wirklich ein alter Teufel, Pikeaway», sagte Oberst Munro. «Irgendjemand muss es ja sein», erwiderte Oberst Pikeaway betrübt. Kapitel 19 Sir Stafford Nye bekommt Besuch Sir Stafford Nye hatte Gäste. Er kannte sie nicht, bis auf einen, den er zumindest vom Sehen ziemlich gut kannte. Es waren gut aussehende junge Leute, ernsthaft und intelligent, so schienen sie jedenfalls. Ihr Haar war elegant geschnitten und gut frisiert. Ihre Kleidung edel und nicht allzu altmodisch. Als er sie so ansah, konnte Stafford nicht verneinen, dass er ihren Anblick angenehm fand. Gleichzeitig fragte er sich, was sie von ihm wollten. Einer von ihnen, das wusste er, war der Sohn eines Ölmagnaten, ein anderer interessierte sich nach seinem Universitätsabschluss für die Politik. Er hatte einen Onkel, der eine Restaurantkette besaß. Der Dritte war ein junger Mann mit buschigen Augenbrauen und gerunzelter Stirn und von Natur aus offenbar ständig misstrauisch. «Sehr freundlich von Ihnen, dass Sie uns empfangen, Sir Stafford», sagte der eine, anscheinend der blonde Anführer der drei. Er hatte eine sehr angenehme Stimme. Sein Name war Clifford Bent. «Das hier ist Roderick Ketelly und das ist Jim Brewster. Wir machen uns alle Sorgen um die Zukunft. Darf ich das so sagen?» «Ich glaube, die Antwort darauf lautet: Tun wir das nicht alle?», erwiderte Stafford Nye. «Es gefallt uns nicht, wie sich die Dinge entwickeln», sagte Clifford Bent. «Rebellion, Anarchie, all das. Als Philosophie mag das ja akzeptabel sein. Offen gesagt kann man glaube ich sagen, dass wir alle eine solche Phase durchlaufen haben, aber dann kommt man auf der anderen Seite wieder heraus. Wir möchten, dass die Leute eine akademische Ausbildung ohne Unterbrechung durchlaufen können. Wir sind schon für Demonstrationen, aber nicht mit Rowdytum und Gewalt. Wir brauchen vernünftige Demonstrationen. Und was wir, offen gesagt, meiner Ansicht nach brauchen, ist eine neue politische Partei. Jim Brewster hier hat sich eingehend und sehr ernsthaft mit Plänen und Ideen für die Gewerkschaften beschäftigt. Sie haben versucht, ihn niederzuschreien und totzureden, aber er hat weitergemacht, oder, Jim?» «Die meisten sind wirrköpfige blöde Narren», sagte Jim Brewster. «Wir fordern eine vernünftige und seriöse Jugendpolitik, eine weniger komplizierte Regierung. Wir möchten eine neue Bildungspolitik erstellen, aber nichts Undurchführbares oder Hochgestochenes. Wenn wir Parlamentssitze gewinnen und schließlich in der Lage wären, eine Regierung zu bilden – und ich sehe nicht ein, warum das nicht der Fall sein könnte –, wollen wir diese Ideen in die Tat umsetzen. Wir repräsentieren genauso die Jugend wie diese Gewalttäter. Wir stehen für Mäßigung, und wir möchten eine vernünftige Regierung haben, mit einer Herabsetzung der Abgeordnetenzahlen. Wir merken uns jetzt schon die Leute vor, die bereits heute politisch tätig sind, ganz gleich welcher politischen Richtung, wenn wir glauben, dass es vernünftige Leute sind. Wir sind hier, um Sie zu fragen, ob Sie sich für unsere Ziele interessieren könnten. Im Augenblick ist alles noch ein wenig unklar, aber wir wissen zumindest schon, wen wir dabeihaben wollen. Ich will sagen: Die von heute wollen wir nicht und auch nicht die, die eventuell dafür eingesetzt würden. Was die dritte Partei betrifft, so scheint sie das Rennen aufgegeben zu haben, obwohl sie zwei oder drei gute Leute haben, die jetzt noch unter ihrem Minderheitenstatus leiden. Ich glaube, die werden sich unserer Denkweise anschließen. Wir möchten Sie gerne für uns gewinnen. Wir brauchen jemand in nicht allzu ferner Zukunft, der den Überblick hat und eine richtige, erfolgreiche Außenpolitik entwickelt. Der Rest der Welt befindet sich im Augenblick in einem noch größeren Chaos als wir. Washington liegt platt am Boden, in Europa gibt es andauernd militärische Konflikte, Demonstrationen, Zerstörung von Flughäfen. Na ja, ich brauche Ihnen nicht die Nachrichten der letzten sechs Monate herunterzubeten. Unser Ziel ist nicht so sehr, die Welt wieder auf die Beine zu stellen, sondern England. Die richtigen Leute zur Verfügung zu haben, die das bewerkstelligen. Wir brauchen junge Menschen, eine Menge junger Menschen, keine Revolutionäre, keine Anarchisten, sondern solche, die ihr Bestes geben, um eine Land erfolgreich und mit Gewinn zu regieren. Und wir brauchen einige der Älteren – ich meine nicht die von sechzig und darüber, ich meine die von vierzig oder fünfzig – und wir sind zu Ihnen gekommen, weil wir – na ja, wie haben von Ihnen gehört. Wir wissen einiges über Sie, und Sie sind der Mann, den wir brauchen.» «Meinen Sie das ernst?», fragte Sir Stafford. «Ja, das meinen wir.» Einer der jungen Leute lachte ein bisschen. «Ich hoffe, Sie stimmen dem zu.» «Ich weiß nicht. Sie reden hier sehr offen.» «Das ist doch Ihr Wohnzimmer.» «Ja, ja, es ist meine Wohnung und mein Wohnzimmer. Aber was Sie sagen oder möglicherweise noch sagen wollen, ist vielleicht unklug. Sowohl für Sie als auch für mich.» «Oh, ich sehe, worauf Sie hinauswollen.» «Sie bieten mir etwas an. Eine Lebensweise, eine neue Karriere, und sie schlagen das Zerreißen bestimmter Bindungen vor. Sie suggerieren eine gewisse Illoyalität.» «Wir schlagen nicht vor, dass Sie in irgendein fremdes Land desertieren sollen, wenn es das ist, was Sie meinen.» Stafford sagte: «Nein, nein, das ist keine Einladung nach Russland oder China oder an andere Orte, die gerade erwähnt wurden, aber es ist eine Einladung, die in Verbindung mit gewissen Auslandsinteressen steht.» Er fuhr fort: «Ich bin erst kürzlich aus dem Ausland zurückgekommen. Es war eine sehr interessante Reise. Ich habe die letzten drei Monate in Südamerika verbracht. Es gibt da etwas, was ich Ihnen gerne mitteilen möchte. Seit ich nach England zurückgekommen bin, habe ich das Gefühl, ich werde verfolgt.» «Verfolgt? Bilden Sie sich das nicht ein?» «Nein, ich glaube nicht, dass ich mir das einbilde. Das sind Dinge, auf die zu achten ich im Laufe meines Lebens gelernt habe. Ich bin an einigen ziemlich weit entfernten und – sagen wir – interessanten Orten auf der Welt gewesen. Sie haben mich aus freien Stücken aufgesucht, um mich über einen bestimmten Vorschlag auszuhorchen. Es wäre vielleicht sicherer gewesen, wenn wir uns an einem anderen Ort getroffen hätten.» Er stand auf, öffnete die Tür zum Badezimmer und drehte den Wasserhahn auf. «In den alten Filmen, die ich mir früher angesehen habe, ließ man das Wasser laufen, wenn man seine Gespräche unverständlich machen wollte, falls der Raum abgehört wurde. Zweifellos bin ich etwas altmodisch und es gibt heute bessere Methoden, mit diesen Dingen umzugehen. Aber jetzt können wir vielleicht etwas offener sprechen, müssen jedoch immer noch vorsichtig sein. Südamerika», fuhr er fort, «ist ein höchst interessanter Teil der Welt. Die Föderation Südamerikanischer Staaten, die heute aus Kuba, Argentinien, Brasilien und Peru besteht und ein oder zwei anderen Ländern, die noch nicht ganz dabei sind, aber das kommt noch. Ja, sehr interessant.» «Und was ist Ihre Ansicht über dieses Thema?», fragte der misstrauische Jim Brewster. «Was haben Sie dazu zu sagen?» «Ich werde weiterhin vorsichtig sein», sagte Sir Stafford. «Sie werden sich mehr auf mich verlassen können, wenn ich nicht so freiheraus rede. Aber ich glaube, das können wir ganz gut machen, wenn ich erst mal das Badewasser abgestellt habe.» «Dreh es ab, Jim», sagte Cliff Bent. Jim grinste plötzlich und gehorchte. Stafford Nye nahm eine Blockflöte aus der Tischschublade. «Ich kann noch nicht sehr gut spielen», sagte er. Er nahm sie an die Lippen und begann eine Melodie zu spielen. Jim Brewster kam zurück, mit gerunzelter Stirn. «Was soll das, wollen Sie hier ein Konzert veranstalten?» «Halt den Mund», sagte Cliff Bent. «Du Ignorant, du weißt gar nichts über Musik.» Stafford Nye lächelte. «Wie ich sehe, teilen Sie meine Freude an Wagners Musik», sagte er. «Ich war auf den Jugendfestspielen dieses Jahr und habe die Konzerte dort sehr genossen.» Er wiederholte die Melodie. «Es ist kein Lied, das ich kenne», sagte Jim Brewster. «Es könnte die Internationale sein oder die Rote Flagge oder God Save the King oder der Yankee Doodle oder Star Spangled Banner. Was zum Teufel ist es?» «Es ist ein Opernmotiv», sagte Ketelly. «Halt die Klappe. Wir wissen alles, was wir wissen wollten.» «Der Hornruf eines jungen Helden», sagte Stafford Nye. Er hob den Arm mit einer schnellen Geste, einer Geste aus der Vergangenheit, die ‹Heil Hitler› bedeutete. Er murmelte sehr leise: «Der neue Siegfried.» Alle drei erhoben sich. «Sie haben völlig recht», sagte Clifford Bent. «Ich glaube, wir müssen alle sehr, sehr vorsichtig sein.» Er schüttelte Stafford die Hand. «Wir freuen uns, dass Sie mitmachen werden. Was dieses Land für seine Zukunft sicherlich braucht, ist ein erstklassiger Außenminister.» Sie verließen den Raum. Stafford Nye beobachtete durch die leicht geöffnete Tür, wie sie in den Fahrstuhl stiegen und nach unten fuhren. Er lächelte kurz, schloss die Tür, sah auf die Uhr an der Wand, setzte sich in einen Sessel und wartete… Seine Gedanken wanderten zurück zu dem Tag vor einer Woche, als er und Mary Ann sich am Kennedy Airport getrennt hatten. Sie hatten dagestanden, beide hatten nicht gewusst, was sie sagen sollten. Stafford Nye hatte das Schweigen zuerst gebrochen. «Glauben Sie, wir werden uns jemals Wiedersehen?» «Gibt es einen Grund, warum wir uns nicht Wiedersehen sollten?» «Jeden erdenklichen, meine ich.» Sie sah ihn an und dann schnell wieder weg. «Diese Abschiede sind nun einmal notwendig. – Es – es gehört zum Job.» «Die Arbeit. Für Sie geht es immer um die Arbeit, nicht wahr?» «So muss es sein.» «Sie sind ein echter Profi. Ich bin nur ein Amateur. Sie sind eine –» Er brach ab. «Was sind Sie eigentlich? Wer sind Sie? Ich weiß es wirklich nicht, oder?» «Nein.» Er sah sie an. Er glaubte, eine gewisse Traurigkeit auf ihrem Gesicht zu erkennen, fast wie Schmerz. «Also muss ich mich fragen… Sie glauben, ich sollte Ihnen vertrauen, nehme ich an?» «Nein, das nicht. Das ist eines der Dinge, die ich gelernt habe, die das Leben mich gelehrt hat. Man darf niemandem trauen. Vergessen Sie das nie.» «Das ist also Ihre Welt. Eine Welt des Misstrauens, der Furcht, der Gefahr.» «Ich möchte am Leben bleiben. Und ich bin noch am Leben.» «Ich weiß.» «Und ich möchte, dass Sie auch am Leben bleiben.» «Ich habe Ihnen vertraut – in Frankfurt…» «Sie sind ein Risiko eingegangen.» «Ein Risiko, das sich gelohnt hat. Das wissen Sie so gut wie ich.» «Sie meinen, weil –?» «Weil wir zusammen waren. Und jetzt – da wird mein Flug aufgerufen. Soll diese Gemeinsamkeit, die auf einem Flughafen begonnen hat, nun wieder auf einem Flughafen enden? Wo gehen Sie hin? Was tun Sie dort?» «Ich tue, was ich tun muss. Ich gehe nach Baltimore, nach Washington, nach Texas. Um zu tun, was man mir aufgetragen hat.» «Und ich? Mir hat man nichts aufgetragen. Ich soll nach London zurückkehren – um dort was zu tun?» «Zu warten.» «Warten? Worauf?» «Darauf, dass man Kontakt mit Ihnen aufnehmen wird.» «Und was soll ich dann tun?» Plötzlich lächelte sie ihn an, mit diesem fröhlichen Lächeln, das er so gut kannte. «Dann verlassen Sie sich auf Ihre Intuition. Sie wissen schon, wie Sie es anstellen müssen, keiner weiß das besser. Sie werden die Leute sogar mögen, die auf Sie zukommen werden. Es werden gut ausgewählte Leute sein. Es ist wichtig, sehr wichtig, dass wir wissen, wer sie sind.» «Ich muss jetzt gehen. Leben Sie wohl, Mary Ann.» «Auf Wiedersehen.» In der Wohnung in London läutete das Telefon und brachte ihn aus seinen Abschiedsträumen aus der Vergangenheit zurück, in einem außerordentlich passenden Moment, dachte Stafford Nye. «Auf Wiedersehen», murmelte er, während er aufstand und hinüberging, um den Hörer abzunehmen, «hoffentlich.» Eine Stimme ertönte, die asthmatischen Laute waren unverkennbar. «Stafford Nye?» Er gab die vereinbarte Antwort: «Kein Rauch ohne Feuer.» «Mein Arzt sagt, ich solle das Rauchen aufgeben. Armer Kerl», sagte Oberst Pikeaway, «die Hoffnung sollte er gleich aufgeben. Gibt es irgendetwas Neues?» «Oh ja. Die dreißig Silberlinge, das heißt – sie wurden mir versprochen.» «Verdammte Schweine!» «Ja, ja, bleiben Sie ruhig.» «Und was haben Sie gesagt?» «Ich habe ihnen ein Lied vorgespielt. Siegfrieds Hornruf-Motiv. Da habe ich den Rat meiner alten Tante befolgt. Das kam sehr gut an.» «Das klingt ziemlich verrückt.» «Kennen Sie ein Lied, das ‹Juanita› heißt? Das muss ich auch lernen, falls ich es brauchen sollte.» «Wissen Sie, wer Juanita ist?» «Ich glaube, ja.» «Hm, ich habe zuletzt in Baltimore davon gehört.» «Was ist mit Ihrem griechischen Mädchen, Daphne Theodofanous? Wo steckt sie wohl gerade?» «Sie sitzt bestimmt irgendwo in Europa auf einem Flughafen und wartet auf Sie», sagte Oberst Pikeaway. «Die meisten Flughäfen in Europa scheinen geschlossen zu sein, weil sie in die Luft gejagt wurden oder sonst wie beschädigt sind. Großer Knall, große Entführung, großer Schabernack. Zum Spiel heraus, Buben und Mädchen, wer mag Der Mond, der scheint wie am helllichten Tag, Vergesst euer Brot und vergesst euern Schlaf, Erschießt eure Freunde hier draußen ganz brav.» «Der Kinderkreuzzug à la mode. Nicht dass ich viel darüber wüsste. Ich kenne nur den Kreuzzug, an dem Richard Löwenherz teilgenommen hat. Aber in dieser Hinsicht ist die ganze Geschichte wirklich wie der Kinderkreuzzug. Es beginnt mit Idealismus, mit der Vision, die Christenheit werde die Heilige Stadt von den Heiden befreien, und endet mit Tod, Tod und noch mal Tod. Fast alle Kinder sind umgekommen. Oder wurden in die Sklaverei verkauft. Diese Geschichte hier wird genauso enden, wenn wir nicht Mittel und Wege finden, sie daraus zu befreien…» Kapitel 20 Der Admiral besucht eine alte Freundin «Ich dachte schon, hier wären bereits alle tot», schnaubte Admiral Blunt. Seine Bemerkung war nicht an einen Butler gerichtet, den er wohl gern beim Öffnen dieser Tür gesehen hätte, sondern an eine junge Frau, deren Nachnamen er nicht behalten konnte, deren Vorname aber Amy war. «Ich habe letzte Woche mindestens viermal angerufen. Sie seien im Ausland, hat man mir jedes Mal gesagt.» «Wir waren auch im Ausland. Wir sind gerade erst zurückgekommen.» «Matilda sollte nicht in der Welt herumgondeln. Nicht in ihrem Alter. Sie wird noch an Bluthochdruck sterben oder an Herzversagen oder an irgendwas in diesen modernen Flugzeugen. Die sind doch alle voll mit Sprengstoff von den Arabern oder Israelis oder sonst jemand. Nichts ist mehr sicher heutzutage.» «Der Arzt hat es ihr verschrieben.» «Na ja, wir alle wissen, wie die Ärzte sind.» «Und sie ist wirklich bester Laune zurückgekommen.» «Wo war sie denn?» «Oh, sie war zur Kur. In Deutschland oder – ich kann mir nicht merken, ob es in Deutschland oder Österreich war. Dieser neue Kurort… Kennen Sie das Goldene Gasthaus?» «Ich habe davon gehört. Ist wahnsinnig teuer, oder?» «Nun, es sollen dort auch bemerkenswerte Erfolge erzielt werden.» «Vielleicht nur eine neue Methode, sich schneller umzubringen», sagte Admiral Blunt. «Wie hat es Ihnen denn gefallen?» «Nun, nicht besonders. Die Landschaft war sehr schön, aber –» Von oben ertönte eine gebieterische Stimme. «Amy. Amy! Was machst du da? Unterhältst dich die ganze Zeit in der Halle? Bring Admiral Blunt nach oben. Ich warte schon auf ihn.» «Sie Herumtreiberin», sagte Admiral Blunt lachend, nachdem er seine alte Freundin begrüßt hatte. «Sie werden sich so eines Tages noch umbringen. Denken Sie an meine Worte –» «Nein, das werde ich nicht tun. Es ist heutzutage überhaupt kein Problem zu verreisen.» «Auf all diesen Flughäfen herumzurennen. Rampen, Treppen, Busse.» «Kein Problem. Ich hatte einen Rollstuhl.» «Vor ein oder zwei Jahren, als ich Sie das letzte Mal gesehen habe, wollten Sie von so etwas nichts hören. Sie sagten, sie wären zu stolz zuzugeben, dass sie einen bräuchten.» «Nun, heute muss ich etwas von meinem Stolz aufgeben, Philip. Kommen Sie, setzen Sie sich zu mir und erzählen Sie mir, warum Sie mich plötzlich so dringend besuchen wollten. Sie haben mich im letzten Jahr ziemlich vernachlässigt.» «Nun, es ging mir selber nicht besonders gut. Außerdem war ich mit ein paar Dingen beschäftigt. Sie wissen schon, was für Dinge. Man wird um Rat gefragt, aber keiner hat auch nur die geringste Absicht, darauf zu hören. Sie können die Marine nicht in Ruhe lassen. Sie müssen immer irgendwas damit anstellen, diese verflixte Bande.» «Sie sehen sehr gut aus», sagte Lady Matilda. «Sie selbst sehen auch nicht schlecht aus, meine Liebe. Sie haben ein tolles Funkeln in den Augen.» «Ich höre schlechter, seit wir uns das letzte Mal gesehen haben. Sie müssen lauter reden.» «In Ordnung. Ich werde lauter sprechen.» «Was möchten Sie, Gin Tonic, Whisky oder Rum?» «Sie sind offensichtlich bereit, starke Getränke aller Art auszuschenken. Wenn es Ihnen nichts ausmacht, hätte ich gern einen Gin Tonic.» Amy stand auf und verließ den Raum. «Und wenn sie ihn gebracht hat», sagte der Admiral, «dann schicken Sie sie bitte wieder weg. Ich möchte allein mit Ihnen reden. Es ist dringend.» Als die Getränke serviert waren, winkte Lady Matilda rasch mit der Hand und Amy entschwand mit der Haltung einer Person, die aus freien Stücken geht und nicht nur auf Geheiß ihrer Arbeitgeberin. Sie war eine taktvolle junge Frau. «Ein nettes Mädchen», sagte der Admiral, «sehr nett.» «Haben Sie mich deshalb gebeten, sie wegzuschicken und darauf zu achten, dass sie die Tür schließt? Damit sie nicht hören kann, wenn Sie etwas Nettes über sie sagen?» «Nein, ich wollte Sie um Rat fragen.» «Worüber denn? Über Ihre Gesundheit oder wo man neues Personal herbekommt oder über Gartenbau?» «Ich möchte Sie ganz ernsthaft um Rat fragen. Ich hoffe, Sie können sich für mich an etwas erinnern.» «Mein lieber Philip, wie rührend, dass Sie glauben, ich könnte mich überhaupt noch an etwas erinnern. Mein Gedächtnis wird jedes Jahr schlechter. Ich bin zu der Einsicht gekommen, dass man sich nur an die erinnert, die man seine Jugendfreunde nennt. Sogar an unausstehliche Mädchen, mit denen man zur Schule gegangen ist, erinnert man sich, obwohl man das gar nicht möchte. Ich bin tatsächlich noch einmal dort gewesen.» «Wo waren Sie? In Ihrer alten Schule?» «Nein, nein. Ich habe eine alte Schulkameradin besucht, die ich seit dreißig – vierzig – fünfzig, so langer Zeit –» «Wie war sie denn?» «Enorm fett und noch unausstehlicher und schrecklicher, als ich sie in Erinnerung hatte.» «Sie machen eigenartige Dinge, das muss ich schon sagen, Lady Matilda.» «Nun, dann verraten Sie mir einmal, an was ich mich erinnern soll.» «Ich wüsste gern, ob Sie sich an einen anderen Freund erinnern, an Robert Shoreham.» «Robbie Shoreham? Natürlich.» «Der Wissenschaftler. Ein herausragender Wissenschaftler.» «Natürlich. Kein Mann, den man je vergisst. Ich frage mich, wie der Ihnen plötzlich in den Sinn kommt.» «Es gibt ein öffentliches Interesse.» «Komisch, dass Sie das sagen», befand Lady Matilda. «Neulich habe ich dasselbe gedacht.» «Was haben Sie gedacht?» «Dass er gebraucht wird. Oder jemand wie er – wenn es noch so jemanden gibt.» «Das gibt es nicht. Hören Sie, Matilda. Die Leute reden mit Ihnen. Sie berichten Ihnen alle möglichen Dinge. Ich selbst habe Ihnen schon so manches erzählt.» «Ich habe mich immer gefragt, wieso, denn Sie können wohl kaum annehmen, dass ich das verstehe oder wiedergeben könnte. Und bei Robbie war das noch mehr der Fall als bei Ihnen.» «Ich berichte Ihnen doch keine Marinegeheimnisse.» «Nun. Er hat mir auch keine wissenschaftlichen Geheimnisse mitgeteilt. Ich meine, nur sehr allgemein gesprochen.» «Aber er hat mit Ihnen darüber gesprochen, nicht wahr?» «Nun, er erzählte mir manchmal gerne Dinge, die mich in – Erstaunen versetzten.» «Nun, also. Ich möchte gern wissen, ob er jemals, als er noch richtig sprechen konnte, der arme Teufel, mit Ihnen über das sogenannte Projekt B. gesprochen hat.» «Projekt B.?», Matilda Cleckheaton dachte nach. «Das hört sich irgendwie bekannt an», sagte sie. «Er hat manchmal über dies oder jenes Projekt, über dies oder das Unternehmen gesprochen. Aber wissen Sie, ich habe nichts davon wirklich verstanden, und das wusste er. Aber er liebte es – wie soll ich es sagen? –, mich in Erstaunen zu versetzen. Mir Dinge zu beschreiben wie ein Zauberer, der drei Kaninchen aus dem Hut zaubert, ohne dass man merkt, wie er das angestellt hat. Projekt B.? Ja, das war vor recht langer Zeit… für eine Weile war er sehr aufgeregt. Ich habe ihn manchmal gefragt: ‹Wie steht es um das Projekt B.?›» «Ich weiß, ich weiß, Sie sind eine einfühlsame Frau. Sie erinnern sich immer daran, was die Leute gerade tun oder woran sie interessiert sind. Auch wenn sie keine Ahnung davon haben, zeigen Sie immer Interesse. Ich habe Ihnen einmal eine neues Marinegeschütz beschrieben und Sie müssen sich riesig gelangweilt haben. Aber Sie haben so interessiert zugehört, als hätten Sie Ihr Leben lang darauf gewartet, es zu hören.» «Wollen Sie mir sagen, ich war immer eine einfühlsame Frau und eine gute Zuhörerin, auch wenn ich nicht viel Verstand habe?» «Nun, ich möchte ein bisschen mehr darüber hören, was Robbie über Projekt B. gesagt hat.» «Er sagte – es fällt mir sehr schwer, mich daran zu erinnern. Er hat es erwähnt, nachdem er von einem Unternehmen gesprochen hat, das mit der Manipulation am menschlichen Gehirn zu tun hatte. Wissen Sie, bei Leuten, die tief melancholisch waren und an Selbstmord dachten und so gestört und nervenkrank waren, dass sie starke Angstzustände bekamen. Solche Dinge, wie sie in Zusammenhang mit Freud diskutiert werden. Er sagte, die Nebenwirkungen seien grauenhaft. Die Menschen seien zwar glücklich und zufrieden und machten sich keine Gedanken mehr. Sie dachten nicht mehr an Selbstmord, aber sie machten sich insgesamt zu wenig Gedanken und wurden überfahren oder so, weil sie an keinerlei Gefahr dachten und sie nicht einmal wahrnahmen. Ich kann das schlecht ausdrücken, aber Sie verstehen sicher, was ich meine. Jedenfalls, so sagte er, sei das seiner Meinung nach das Problem bei Projekt B.» «Hat er es noch irgendwie genauer beschrieben?» «Er sagte, ich hätte ihn auf die Idee gebracht», sagte Lady Matilda überraschend. «Was? Wollen Sie damit sagen, ein Wissenschaftler – ein hochrangiger Wissenschaftler wie Robbie Shoreham hat Ihnen wirklich gesagt, dass Sie ihn auf eine Idee gebracht haben? Sie haben doch gar keine Ahnung von Naturwissenschaften.» «Natürlich nicht. Aber ich habe immer versucht, ein bisschen gesunden Menschenverstand in die Köpfe zu bringen. Je klüger sie sind, desto unvernünftiger sind sie. Ich will sagen, die Menschen, auf die es wirklich ankommt, sind doch diejenigen, die etwas Einfaches wie die Perforierung der Briefmarke erfunden haben. Oder wie einer, der Adam hieß oder sonst wie – nein, McAdam in Amerika, der schwarzes Zeugs auf die Straßen geklebt hat, damit die Farmer all ihre Produkte vom Land an die Küste bringen und ein bisschen mehr verdienen konnten. Solche Menschen sind nützlicher als alle hyperintelligenten Wissenschaftler. Wissenschaftler können sich nur Dinge ausdenken, die die Menschen zerstören. So, etwa in diesem Sinne, habe ich mit Robbie gesprochen. Sehr nett natürlich, ein bisschen scherzhaft. Er hatte mir gerade über ein paar wunderbare Errungenschaften der Wissenschaft berichtet, über biologische Kriegsführung und biologische Experimente und was man mit ungeborenen Kindern anstellen kann, wenn man nur früh genug an sie herankommt. Und über einige besonders abscheuliche und unerfreuliche Gase. Und er sagte, wie dumm die Leute seien, gegen Atombomben zu protestieren. Die seien ja noch menschenfreundlich, verglichen mit einigen anderen Sachen, die seitdem erfunden wurden. Und so sagte ich, es wäre doch viel besser, wenn Robbie oder jemand, der genauso klug wie Robbie sei, sich mal irgendetwas Vernünftiges ausdenken könnte. Da sah er mich an mit diesem kleinen Zwinkern in den Augen und fragte: ‹Was würdest du denn für vernünftig halten?› Und ich sagte: ‹Nun, anstatt all diese Biowaffen und diese scheußlichen Gase zu erfinden, warum erfindest du nicht etwas, was die Leute glücklich macht?› Ich sagte, das könne doch nicht schwieriger sein. Ich sagte: ‹Du hast über diese Versuche gesprochen, wo sie, glaube ich, vorne etwas aus dem Hirn herausgenommen haben oder auch hinten. Jedenfalls hat es die Gemütslage der Menschen völlig verändert. Sie wurden plötzlich ganz anders. Sie hatten keine Ängste mehr und wollten auch keinen Selbstmord mehr begehen. Aber›, so sagte ich, ‹wenn man Menschen so verändern kann, indem man ihnen nur ein Stückchen Knochen, Muskeln oder Nerv entfernt oder an einer Drüse herumoperiert oder sie entfernt oder etwas hinzufügt›, sagte ich, ‹wenn man so große Wirkungen auf die Bewusstseinslage der Menschen erzielen kann, warum kannst du dann nicht etwas erfinden, das die Leute umgänglicher und freundlicher macht oder vielleicht nur etwas müde? So etwas, wo sie sich nur in einen Sessel setzen und einen schönen Traum träumen. Vierundzwanzig Stunden lang und nur aufwachen, um ab und zu gefüttert zu werden.› Ich sagte, das sei doch eine viel bessere Idee.» «Und das war das Projekt B.?» «Nun, er hat mir nie genau erzählt, was es war. Aber er war besessen von seiner Idee und er sagte, ich hätte ihn darauf gebracht. Und so musste ich ihn auf etwas Erfreuliches gebracht haben, nicht wahr? Ich habe ihm keine Ideen für noch schrecklichere Tötungsarten gegeben. Und ich wollte nicht, dass Menschen zum Weinen gebracht werden – etwa durch Tränengas oder Ähnliches. Dann sollten sie besser lachen – ja, ich glaube, ich erwähnte Lachgas. Ich sagte, wenn man sich die Zähne ziehen lässt, dann bekommt man drei Atemzüge und man lacht. Sicherlich könne man doch etwas ähnlich Nützliches erfinden, das nur ein wenig länger anhält. Lachgas hält, glaube ich, nur etwas fünfzig Sekunden an, nicht wahr? Ich erinnere mich, wie sich mein Bruder einmal Zähne ziehen ließ. Der Zahnarztstuhl stand dicht am Fenster und mein Bruder lachte so sehr, als er bewusstlos war, dass er sein rechtes Bein ausstreckte und es durch das Fenster der Zahnarztpraxis stieß. Das ganze Glas fiel auf die Straße und der Zahnarzt war sehr verärgert.» «Ihre Geschichten geraten immer auf so eigenartige Nebenwege», sagte der Admiral. «Jedenfalls hatte sich das Robbie Shoreham auf Ihren Rat hin als Gegenstand seiner Untersuchungen ausgesucht.» «Nun, ich weiß nicht genau, was es war. Ich weiß nicht, ob es ums Schlafen oder ums Lachen ging. Aber es war etwas in der Art. Es war nicht wirklich Projekt B. Es hatte einen anderen Namen.» «Was für einen Namen?» «Ich glaube, er hat den Namen, den er dem Projekt gegeben hat, ein- oder zweimal erwähnt. Es klang wie ‹Benger’s Food›», sagte Lady Matilda nachdenklich. «Etwas zur Magenberuhigung?» «Ich glaube nicht, dass es etwas mit der Verdauung zu tun hatte. Ich glaube eher, es war etwas zum Schnüffeln oder so, vielleicht auch eine Drüse. Wissen Sie, wie haben über so viele Dinge geredet, dass ich nie genau wusste, wovon er im Augenblick gerade sprach. Benger’s Food. Ben – Ben – es fing mit Ben an und etwas Angenehmes hing damit zusammen.» «Ist das alles, woran Sie sich erinnern können?» «Ich glaube, ja. Ich will damit sagen, es war nur so ein Gespräch, das wir einmal geführt haben. Und dann hat er mir viel später erzählt, dass ich ihm die Idee für das Projekt Ben Soundso geliefert hätte. Und später habe ich ihn manchmal, wenn es mir gerade in den Sinn kam, gefragt, ob er noch an dem Projekt Ben arbeitete. Doch dann war er manchmal ganz entnervt und sagte, nein, er sei da auf ein Hindernis gestoßen und er würde es abbrechen. Es sei in-, in-, die nächsten acht Wörter waren reiner Wissenschaftsjargon und ich kann mich nicht daran erinnern. Sie würden sie auch nicht verstehen, wenn ich sie Ihnen sagen würde. Doch am Ende, glaube ich – du liebe Zeit, das ist jetzt acht oder neun Jahre her –, am Ende kam er schließlich an und fragte: ‹Erinnerst du dich an Projekt Ben?› Ich sagte: ‹Natürlich erinnere ich mich daran. Arbeitest du immer noch daran?› Und er sagte, nein, er habe sich entschieden, die ganze Sache abzubrechen. Ich sagte, das täte mir leid, dass er es aufgegeben hätte. Und er sagte. ‹Es liegt nicht daran, dass ich nicht die Ergebnisse erziele, die ich mir wünsche. Ich bin sicher, dass man die erzielen könnte. Ich weiß, wo ich Fehler gemacht habe. Ich weiß genau, was das Hindernis war. Und ich weiß, wie ich es beheben kann. Ich habe Lisa, die mit mir zusammen weiter daran arbeitet. Ja, es könnte funktionieren. Man müsste noch bestimmte Experimente durchführen, aber es könnte funktionieren.› ‹Nun›, sagte ich zu ihm: ‹Worüber machst du dir dann Sorgen?› Er sagte: ‹Darüber, dass ich nicht genau übersehe, was es den Menschen wirklich zufügen kann.› Ich fragte, ob er befürchtete, dass es die Menschen töten könne oder für ihr ganzes Leben verstümmeln oder Ähnliches. ‹Nein›, sagte er, ‹das ist es nicht.› Er sagte, es sei – ach ja, jetzt erinnere ich mich. Er nannte es Projekt Benvo. Ja. Und deshalb hatte es mit Benevolenz, mit Güte, zu tun.» «Benevolenz!», rief der Admiral höchst erstaunt. «Benevolenz? Meinen Sie Wohltätigkeit?» «Nein, nein. Ich glaube, er meinte nur, dass man die Menschen gütig, gutartig macht. Dass sie sich gütig fühlen.» «Friede und Wohlergehen allen Menschen?» «Nun, so hat er es nicht gerade ausgedrückt.» «Nein, das ist religiösen Führern vorbehalten. Das predigen sie uns, und wenn man täte, was sie predigen, dann gäbe es wohl eine glückliche Welt. Aber Robbie, nehme ich an, hat nicht gepredigt. Er wollte etwas in seinem Laboratorium tun, um dieses Ergebnis mit rein wissenschaftlichen Mitteln zu erzielen.» «Ja, so etwas. Und er sagte, man könne nie wissen, wann ein Mittel den Menschen bekommt und wann nicht. Einerseits tun sie gut, andererseits nicht. Und er sprach über – Penicillin und Sulfonamide und Herztransplantationen und Pillen für Frauen, obwohl es damals ‹die Pille› noch nicht gab. Aber über Dinge, die in Ordnung zu sein scheinen und Wunderdrogen sind oder Wunder-Gase oder Wunder-Irgendwas. Und dann haben diese Mittel plötzlich Nebenwirkungen, und man wünscht, es gäbe sie nicht und man hätte sie nie erfunden. Etwas in dieser Art versuchte er mir wohl verständlich zu machen. Es war alles sehr schwer zu verstehen. Ich fragte: ‹Meinst du, du willst das Risiko nicht eingehen?› Und er sagte: ‹Du hast völlig recht. Ich möchte das Risiko nicht eingehen. Das ist das Problem, denn ich weiß überhaupt nicht, wie hoch das Risiko sein wird. So etwas passiert uns armen Teufeln von Wissenschaftlern. Wir gehen das Risiko ein, doch das liegt nicht in den Dingen, die wir entdeckt haben, sondern darin, was die Leute, für die wir unsere Erfindungen machen, damit anstellen.› Ich sagte: ‹Du sprichst jetzt wieder von Nuklearwaffen und Atombomben.› Aber er antwortete: ‹Ach, zum Teufel mit Nuklearwaffen und Atombomben. Darüber sind wir schon weit hinaus.› ‹Aber wenn du doch die Leute friedlich und wohlwollend machen willst›, sagte ich, ‹worüber musst du dich dann aufregen?› Und er antwortete: ‹Das verstehst du nicht, Matilda, das wirst du niemals verstehen. Meine Wissenschaftlerkollegen würden es vielleicht auch nicht verstehen. Und die Politiker. Und deshalb, siehst du, ist das Risiko zu groß. Zumindest müsste man es sich gut überlegen.› ‹Aber›, sagte ich, ‹man könnte die Menschen doch aus diesem Zustand wieder herausholen, wie bei Lachgas, oder? Man könnte die Menschen nur für kurze Zeit friedlich und wohlwollend machen, und dann könnten sie wieder normal sein – oder nicht normal, je nachdem, wie man es betrachtet.› Er antwortete: ‹Nein. Siehst du, das ist auf Dauer. Denn es wirkt dauerhaft auf –› Und dann benutzte er wieder diese Fachausdrücke, lange Wörter und Zahlen, wissen Sie. Formeln oder molekulare Veränderungen – etwas in der Art. Ich glaube, es muss etwas sein, was sie auch mit Kretins anstellen. Sie heilen sie, indem sie ihnen etwas eingeben oder wegnehmen, wie die Schilddrüse. Ich habe vergessen, was es ist. Ich bin sicher, es gibt bestimmt eine nette kleine Drüse irgendwo und wenn man sie entfernt oder ausräuchert oder irgendetwas Drastisches damit tut – aber dann sind die Leute –» «Auf Dauer gütig und wohlwollend, also benevolent. Sind Sie sicher, das ist das richtige Wort? Benevolenz?» «Ja, deswegen hat er dem Projekt den Namen Benvo gegeben.» «Aber was haben wohl seine Kollegen gedacht, als er einen Rückzieher machte?» «Ich glaube, nur wenige wussten darüber Bescheid. Lisa Irgendwer, die Österreicherin. Und da war ein junger Mann namens Leadenthal oder so, aber der ist an Tuberkulose gestorben. Robbie klang auch immer so, als seien seine Mitarbeiter lediglich Assistenten, die nicht genau Bescheid wussten, was er da machte. Ich sehe schon, worauf Sie hinauswollen», sagte Lady Matilda plötzlich. «Ich glaube, richtig hat er es nie jemandem erzählt. Ich glaube, er hat seine Formeln oder Notizen, was immer es auch war, vernichtet und dann die ganze Sache aufgegeben. Und dann hatte er diesen Schlaganfall und wurde krank, der Arme, er kann nicht mehr gut sprechen. Und das war jetzt sein Leben.» «Glauben Sie, sein Lebenswerk ist abgeschlossen?» «Er empfängt nicht einmal Freunde. Ich glaube, es bereitet ihm Schmerzen. Er macht immer irgendwelche Ausflüchte.» «Aber er lebt noch», sagte der Admiral. «Haben Sie seine Adresse?» «Sie ist irgendwo in meinem Adressbuch. Er wohnt immer noch dort. Irgendwo in Nordschottland. Aber – verstehen Sie doch –, er war einmal ein wunderbarer Mensch. Doch das ist er längst nicht mehr. Er ist schon fast tot. In jeder Hinsicht.» «Die Hoffnung stirbt zuletzt», sagte der Admiral. «Und die Überzeugung», fügte er hinzu, «der Glaube.» «Und die Güte, glaube ich», sagte Lady Matilda. Kapitel 21 Projekt Benvo Professor John Gottlieb saß in seinem Sessel und sah die hübsche junge Frau, die ihm gegenübersaß, standhaft an. Er kratzte sich mit einer für ihn charakteristischen, fast affenartigen Geste am Ohr. Er sah ohnehin wie ein Affe aus. Der vorstehende Unterkiefer, der charakteristische Kopf und – ein leichter Widerspruch in sich – der kleine, zusammengeschrumpfte Körper. «Es geschieht nicht jeden Tag, dass mir eine junge Dame einen Brief des Präsidenten der Vereinigten Staaten überbringt. Immerhin», sagte er fröhlich, «sind sich Präsidenten dessen, was sie tun, ja nicht immer bewusst. Was soll das alles? Ich nehme an, dass sich höchste Stellen für Sie verbürgen.» «Ich bin gekommen, um Sie zu fragen, was Sie mir über ein Unternehmen namens Projekt Benvo berichten können.» «Sind sie wirklich Gräfin Renata Zerkowski?» «Möglicherweise bin ich das. Ich bin besser unter dem Namen Mary Ann bekannt.» «Ja, das haben sie mir mit separater Post geschrieben. Und Sie möchten alles über das Projekt Benvo wissen. Nun, es hat einmal so etwas gegeben. Es ist jetzt gestorben und begraben und der Mann, der es erfunden hat, wird es wohl auch sein.» «Sie meinen Professor Shoreham.» «Richtig. Robert Shoreham. Eines der größten Genies unserer Zeit. Neben Einstein, Niels Bohr und noch ein paar anderen. Aber Robert Shoreham hat sich nicht so lange gehalten, wie er es hätte tun sollen. Es ist ein großer Verlust für die Wissenschaft – was sagt Shakespeare von Lady Macbeth? ‹Sie hätte hiernach sterben sollen.›» «Er ist noch nicht tot.» «Oh, sind sie sich da sicher? Man hat seit langer Zeit nichts mehr von ihm gehört.» «Er ist Invalide, lebt im Norden Schottlands. Er ist gelähmt, kann nicht sehr gut sprechen, nicht gut laufen. Die meiste Zeit sitzt er da und hört Musik.» «Ja, das kann ich mir vorstellen. Nun, das freut mich. Wenn er das kann, dann ist er nicht so unglücklich. Ansonsten ist es die Hölle für einen brillanten Mann, wenn er nichts mehr machen kann. Wenn man fast wie tot in einem Invalidenstuhl sitzt.» «Es hat also ein Projekt Benvo gegeben?» «Ja, er war völlig verbohrt darin.» «Hat er mit Ihnen darüber gesprochen?» «Er hat mit einigen von uns darüber gesprochen. Sie sind keine Wissenschaftlerin, junge Frau, nicht wahr?» «Nein, ich –» «Sie sind eine Agentin, nehme ich an. Ich hoffe, auf der richtigen Seite. Wir warten immer noch auf Wunder, aber ich glaube kaum, dass Sie von dem Projekt Benvo profitieren können.» «Warum nicht? Sie haben gesagt, dass er daran gearbeitet hat. Es wäre eine große Erfindung geworden, nicht wahr? Oder eine Entdeckung oder wie immer man diese Dinge nennt.» «Ja, es wäre eine der größten Entdeckungen unserer Zeit geworden. Ich weiß nicht, was schiefgegangen ist. Aber so etwas passiert immer wieder. Eine Sache entwickelt sich großartig, aber in der letzten Phasen klappt es dann irgendwie nicht. Alles bricht in sich zusammen. Es leistet nicht das, was man erwartet hatte, und aus Verzweiflung gibt man dann auf. Oder man tut das, was Shoreham getan hat.» «Und was hat er getan?» «Er hat alles vernichtet. Jeden einzelnen Schnipsel. Das hat er mir selbst gesagt. Er hat alle Formeln verbrannt, alle diesbezüglichen Papiere, alle Daten. Drei Wochen später hatte er seinen Schlaganfall. Er tut mir leid. Sie sehen, ich kann Ihnen nicht helfen. Ich kannte nie irgendwelche Einzelheiten, nur die Grundidee. Nicht einmal daran kann ich mich jetzt noch erinnern, nur an eines. Benvo stand für Benevolenz, also für Güte.» Kapitel 22 Juanita Lord Altamount diktierte. Die einst kräftige und dominante Stimme war jetzt von einer Sanftheit, die immer noch eine eigenartige unerwartete Anziehungskraft hatte. Sie schien ganz leise aus den Schatten der Vergangenheit zu kommen, bewegender als so mancher dominante Ton. James Kleek notierte die Worte, wie sie kamen, hielt manchmal inne, wenn Lord Altamount kurz zögerte, und wartete dann geduldig. «Idealismus», sagte Lord Altamount, «kann und wird entstehen beim Empfinden eines natürlichen Widerstandes gegen die Ungerechtigkeit. Das ist der natürliche Abscheu vor krassem Materialismus. Der natürliche Idealismus der Jugend wird heute mehr und mehr von dem Wunsch gespeist, diese beiden Bestandteile des modernen Lebens zu vernichten, Ungerechtigkeit und nackten Materialismus. Die Sehnsucht, das Böse zu vernichten, führt allerdings manchmal zur Lust an der Zerstörung nur um der Zerstörung willen. Sie kann zur Liebe zu Gewalt führen, zur Lust, Schmerzen zuzufügen. All das kann von außen unterstützt und gestärkt werden von denen, die eine natürliche Führungsgabe besitzen. Der ursprüngliche Idealismus entwickelt sich im jugendlichen Alter, vor dem Erwachsensein. Er sollte und könnte zum Verlangen nach einer besseren Welt führen. Er sollte auch zur Liebe zur Menschheit und zu ihrem Wohlergehen führen. Aber wer einmal gelernt hat, die Gewalt um ihrer selbst willen zu lieben, wird niemals erwachsen. Er wird in seiner eigenen, abgebrochenen Entwicklung stecken bleiben und sein Leben lang dort verharren.» Der Summer ertönte. Lord Altamount hob die Hand, James Kleek nahm ab und hörte zu. «Mr. Robinson ist hier.» «Ach ja. Er soll hereinkommen. Wir können hier später weitermachen.» James Kleek stand auf und legte Notizbuch und Bleistift beiseite. Mr. Robinson kam herein. James Kleek stellte ihm einen Stuhl hin, breit genug, um seine Formen, ohne ihm Unbehagen zu bereiten, aufzunehmen. Mr. Robinson lächelte dankbar und setzte sich an Lord Altamounts Seite. «Nun», sagte Lord Altamount, «haben Sie etwas Neues für uns? Diagramme, Kreise? Seifenblasen?» Er schien leicht amüsiert. «Nicht ganz», sagte Mr. Robinson unbewegt, «es ist mehr, wie wenn man den Lauf eines Stromes verfolgt –» «Strom?», fragte Lord Altamount. «Was für einen Strom?» «Einen Geldstrom», antwortete Mr. Robinson, mit leicht entschuldigender Stimme, wie immer, wenn er von seinem Spezialgebiet sprach. «Es ist wirklich wie ein Strom, Geld – es kommt von irgendwoher und geht definitiv irgendwohin. Wirklich sehr interessant – wenn man sich für so etwas interessiert –, es erzählt seine eigene Geschichte, sehen Sie –» James Kleek machte den Eindruck, als sehe er nichts dergleichen, aber Altamount sagte: «Ich verstehe, fahren Sie fort.» «Er fließt von Skandinavien – aus Bayern – aus den USA – aus Südostasien – wird von kleineren Nebenflüssen auf dem Weg gespeist –» «Und geht – wohin?» «Hauptsächlich nach Südamerika – für den Bedarf des nunmehr sicherlich errichteten Hauptquartiers der Militanten Jugend». «Und er repräsentiert vier der überlappenden Kreise, die Sie uns gezeigt haben – Waffen, Drogen, Raketen für wissenschaftliche und chemische Kriegsführung und auch Finanzen?» «Ja, ich glaube, wir wissen jetzt ziemlich genau, wer diese verschiedenen Gruppen kontrolliert.» «Was ist mit dem ‹J›-Kreis – Juantita?», fragte James Kleek. «Da sind wir uns noch nicht ganz sicher.» «James hat dazu ein paar Ideen», sagte Lord Altamount. «Ich hoffe, er hat unrecht. – Ja, das hoffe ich. Der Buchstabe J ist interessant. Für was steht er, für Justiz, Gerechtigkeit?» «Für eine entschlossene Mörderin», sagte James Kleek. «Die weibliche Spezies ist noch tödlicher als die männliche.» «Es gibt historische Vorbilder», gab Lord Altamount zu. «Jael, die Sisera Butter in einer königlichen Schale reichte und anschließend einen Nagel durch seinen Kopf trieb. Judith, die Holofernes gerichtet hat und von ihren Landsleuten dafür bejubelt wurde. Ja, da mag etwas dran sein.» «Also, Sie glauben zu wissen, wer Juanita ist, ja?», fragte Mr. Robinson. «Das ist ja interessant.» «Nun, vielleicht liege ich falsch, Sir, aber es gibt da Dinge, die mich annehmen lassen –» «Ja», sagte Mr. Robinson, «wir haben alle darüber nachgedacht, nicht wahr? Am besten sagen Sie uns, wer es ist, James.» «Gräfin Renata Zerkowski.» «Was veranlasst Sie dazu, das zu glauben?» «Die Orte, die sie besucht hat, die Leute, mit denen sie Kontakt hat. Es sind zu viele der Zufälle, so wie sie an verschiedenen Schauplätzen aufgetaucht ist. Sie war in Bayern. Sie hat dort die Große Charlotte besucht. Sie hat sogar Stafford Nye dort mit hingenommen. Das halte ich für bedeutsam –» «Glaubst du, sie stecken unter einer Decke?», fragte Altamount. «Das möchte ich nicht unbedingt sagen. Ich weiß nicht genug über ihn, aber…», er machte eine Pause. «Ja», sagte Lord Altamount, «man hatte so seine Zweifel bei ihm. Er wurde von Anfang an verdächtigt.» «Von Henry Horsham?» «Henry Horsham, unter anderem, vielleicht. Oberst Pikeaway ist sich nicht sicher, nehme ich an. Er steht unter Beobachtung. Das weiß er wahrscheinlich auch. Er ist schließlich kein Dummkopf.» «Noch so einer», sagte James Kleek heftig. «Außerordentlich, wie wir die hervorbringen können. Ihnen vertrauen, ihnen unsere Geheimnisse überlassen, sie wissen lassen, was wir tun, immer wieder sagen: ‹Wenn es einen gibt, dessen ich mir absolut sicher bin, dann ist das – oh, Mr. McLean oder Burgess oder Philby oder jeder von dieser Bande.› Und nun – Stafford Nye.» «Stafford Nye, indoktriniert von Renata, alias Juanita», sagte Mr. Robinson. «Da gab es doch diese seltsame Geschichte am Frankfurter Flughafen», sagte Kleek, «und diesen Besuch bei Charlotte. Stafford Nye war anschließend, wie ich höre, in Südamerika mit ihr. Und sie – wissen wir überhaupt, wo sie jetzt ist?» «Ich glaube, Mr. Robinson weiß das», sagte Lord Altamount. «Habe ich recht?» «Sie ist in den Vereinigten Staaten. Zunächst in Washington, dann in Chicago und in Kalifornien. Das Letzte, was ich gehört habe, war, dass sie von Austin aus zu einem hochrangigen Wissenschaftler geflogen ist.» «Was macht sie denn da?» «Man sollte annehmen, dass sie dort nach Informationen sucht.» «Was für Informationen?» Mr. Robinson seufzte. «Das würden wir auch gerne wissen. Es ist anzunehmen, dass es sich um dieselben Informationen handelt, die auch wir so dringend suchen, und dass sie es für uns tut. Aber man weiß ja nie – es könnte auch für die andere Seite sein.» Er drehte sich um und sah Lord Altamount an. «Soviel ich weiß, reisen Sie heute Abend nach Schottland. Stimmt das?» «Ganz richtig.» «Das sollten Sie nicht tun, Sir», sagte James Kleek. Er sah mit besorgtem Gesicht auf seinen Arbeitgeber. «Es ist Ihnen letztlich nicht gut bekommen. Es wird eine sehr anstrengende Reise, wie auch immer sie reisen, per Flugzeug oder Bahn. Können Sie das nicht Munro und Horsham überlassen?» «In meinem Alter ist es Zeitverschwendung, vorsichtig zu sein», sagte Lord Altamount. «Wenn ich von Nutzen sein kann, möchte ich gern ‹in den Sielen sterben›, wie man so sagt.» Er lächelte Mr. Robinson an. «Sie sollten besser mit uns kommen, Robinson.» Kapitel 23 Die Reise nach Schottland I Der Staffelführer fragte sich, worum es eigentlich ging. Er war es gewöhnt, immer nur halb eingeweiht zu werden. Da steckte die Sicherheit dahinter, nahm er an. Die gingen kein Risiko ein. Er hatte so eine Sache schon mehr als einmal durchgeführt. Eine Maschine voller Leute an einen ungewöhnlichen Ort geflogen, mit ungewöhnlichen Passagieren, unter sorgfältiger Vermeidung aller Fragen außer den reinen Fakten. Einige der Passagiere auf seinem Flug waren ihm bekannt, aber nicht alle. Er erkannte Lord Altamount. Ein kranker Mann, sehr krank, dachte er. Wahrscheinlich hielt er sich nur mit bloßer Willenskraft noch am Leben. Der eifrige Mann mit dem Habichtsgesicht war anscheinend sein besonderer Wachhund. Der weniger auf seine Sicherheit als auf seine Gesundheit achtete. Ein getreuer Hund, der ihm niemals von der Seite wich. Er würde Aufbaumittel bei sich haben, Stimulanzien, die ganze Medizin-Trickkiste. Der Staffelkapitän fragte sich, warum kein Arzt bereitstand. Das wäre noch von besonderer Vorsicht gewesen. Das Gesicht des Mannes sah wie ein Totenkopf aus. Ein nobler Totenkopf. Wie eine Marmorbüste in einem Museum. Henry Horsham kannte der Staffelkapitän ganz gut. Er kannte auch mehrere der Sicherheitsleute. Und Oberst Munro, etwas weniger kriegerisch als sonst, er wirkte eher besorgt. Alles in allem jedenfalls nicht sehr glücklich. Da war noch ein massiger Mann mit gelbem Gesicht. Er könnte ein Ausländer sein. Ein Asiate? Was machte der denn hier, in einem Flugzeug nach Nord-Schottland? Der Staffelkapitän sagte sehr höflich zu Oberst Munro: «Ist alles bereit, Sir? Der Wagen wartet.» «Wie weit ist es genau von hier?» «Siebzehn Meilen, Sir, eine schlechte Straße, das ist aber kein Problem. Es sind noch Extradecken im Wagen.» «Sie haben Ihre Order? Wiederholen, bitte, Staffelkapitän Andrews.» Der Staffelkapitän wiederholte die Order und der Oberst nickte zufrieden. Als der Wagen endlich davonfuhr, sah der Staffelkapitän ihm nach und fragte sich, warum in aller Welt ausgerechnet diese Leute über das einsame Moor zu einem verehrungswürdigen alten Schloss fuhren, wo ein kranker Mann wie ein Einsiedler lebte und im Allgemeinen keine Freunde oder Besucher empfing. Horsham wusste Bescheid, nahm er an. Horsham musste eine Menge seltsamer Dinge wissen. Nun, Horsham würde ihm wohl kaum irgendetwas erzählen. Der Wagen wurde gut und sorgfältig gefahren. Er fuhr schließlich über eine kiesbestreute Einfahrt und hielt vor der Veranda. Es war ein Gebäude mit Türmen aus schweren Quadersteinen. Laternen hingen beiderseits der großen Eingangstür. Die Tür öffnete sich, bevor man noch den Klingelknopf berühren oder Einlass verlangen musste. Eine alte Schottin von über sechzig Jahren mit strengem, finsterem Gesicht stand im Eingang. Der Chauffeur half den Insassen heraus. James Kleek und Horsham halfen Lord Altamount beim Aussteigen und stützten ihn auf dem Weg die Treppe hinauf. Die alte Schottin trat zur Seite und machte einen ehrfürchtigen Knicks. Sie sagte: «Guten Abend, Eure Lordschaft. Der Herr wartet schon auf Sie. Er weiß, dass Sie kommen, wir haben Zimmer vorbereitet und überall Feuer für Sie gemacht.» Eine weitere Gestalt erschien nun in der Halle. Es war eine große, magere Frau zwischen fünfzig und sechzig, eine noch hübsche Frau. Ihr schwarzes Haar war in der Mitte gescheitelt, sie hatte eine hohe Stirn, eine Adlernase und gebräunte Haut. «Hier ist Miss Neumann, sie wird sich um Sie kümmern», sagte die Schottin. «Danke, Janet», sagte Miss Neumann. «Sieh zu, dass das Feuer in den Schlafzimmern nicht ausgeht.» Lord Altamount schüttelte Miss Neumann die Hand. «Guten Abend, Miss Neumann.» «Guten Abend, Lord Altamount. Ich hoffe, die Reise war nicht zu anstrengend für Sie.» «Wir hatten einen sehr guten Flug. Das ist Oberst Munro, Miss Neumann. Dies sind Mr. Robinson, Sir James Kleek und Mr. Horsham von der Sicherheitsabteilung.» «Ich erinnere mich an Mr. Horsham. Wir sind uns, glaube ich, vor vielen Jahren schon einmal begegnet.» «Ich habe es nicht vergessen», sagte Henry Horsham. «Es war bei der Leveson-Stiftung. Sie waren damals schon Professor Shorehams Sekretärin, glaube ich.» «Ich war zuerst seine Assistentin im Laboratorium und dann seine Sekretärin. Und ich bin immer noch, soweit er es benötigt, seine Sekretärin. Er braucht auch eine Krankenschwester, die mehr oder weniger dauerhaft hier im Hause lebt. Von Zeit zu Zeit muss man Änderungen vornehmen – Miss Ellis, die jetzt hier ist, hat erst vor zwei Tagen von Miss Bude übernommen. Ich habe vorgeschlagen, dass sie in der Nähe des Raumes, in dem wir uns aufhalten werden, verfügbar ist. Ich dachte, Sie ziehen Zurückgezogenheit vor, aber sie sollte nicht außer Reichweite sein, falls sie gebraucht wird.» «Ist er bei sehr schlechter Gesundheit?» «Er leidet nicht», sagte Miss Neumann. «Aber Sie müssen sich darauf vorbereiten, wenn sie ihn längere Zeit nicht gesehen haben. Er ist nur noch der Schatten eines Mannes.» «Nur noch einen Augenblick, ehe Sie uns zu ihm führen. Seine Geisteskraft ist doch nicht allzu sehr beeinträchtigt? Kann er verstehen, was man zu ihm sagt?» «Oh ja, er kann alles genau verstehen, aber er ist halbseitig gelähmt, er kann nicht sehr deutlich sprechen, aber das wechselt oft, und er kann nicht ohne Hilfe gehen. Sein Verstand ist meiner Ansicht nach noch so klar wie früher. Der einzige Unterschied ist, dass er sehr schnell müde wird. Nun, hätten sie gern erst noch eine kleine Erfrischung?» «Nein», sagte Lord Altamount. «Nein, ich möchte nicht länger warten. Wir sind in einer dringenden Angelegenheit hier, also, wenn Sie uns nun bitte zu ihm führen wollen – Ich denke, er erwartet uns?» «Er erwartet Sie, ja», sagte Miss Neumann. Sie führte sie einige Treppen hinauf, einen Korridor entlang und öffnete die Tür zu einem Raum mittlerer Größe. Es gab dort Wandbehänge, Hirschgeweihe sahen auf sie herab, der Raum war ein ehemaliges Jagdzimmer. Die Möblierung war kaum verändert worden. Auf der einen Seite des Raumes stand ein großer Plattenspieler. Der Mann saß in einem Sessel am Feuer. Sein Kopf zitterte ein wenig, auch seine linke Hand zitterte. Seine Gesichtshaut war auf einer Seite nach unten gezogen. Man konnte ihn ohne Umschweife nur als das Wrack eines Mannes bezeichnen. Ein einstmals groß gewachsener Mann, kräftig und stark. Er hatte eine schöne Stirn, tief liegende Augen und ein knorriges, entschlossenes Kinn. Die Augen unter den schweren Brauen zeugten von Intelligenz. Er sagte etwas. Seine Stimme war nicht schwach, sie war klar, aber die Laute waren nicht immer deutlich. Die Sprache war ihm nur teilweise verloren gegangen, man konnte ihn noch verstehen. Lisa Neumann stellte sich neben ihn und sah ihm auf die Lippen, um notfalls zu übersetzen, was er sagte. «Professor Shoreham heißt Sie willkommen. Er ist sehr erfreut, Sie hier zu sehen, Lord Altamount, Oberst Munro, Sir James Kleek, Mr. Robinson und Mr. Horsham. Er bittet mich, Ihnen zu sagen, dass er noch gut hören kann. Alles, was Sie ihm sagen, kann er verstehen. Bei eventuellen Schwierigkeiten kann ich Ihnen behilflich sein. Was er Ihnen sagen möchte, wird er Ihnen durch mich übermitteln können. Wenn er zu müde zum Sprechen wird, kann ich seine Lippen lesen, wir verständigen uns auch in Zeichensprache, falls es Schwierigkeiten gibt.» «Ich werde versuchen», sagte Oberst Munro, «Ihre Zeit nicht zu verschwenden und Sie so wenig wie möglich zu ermüden, Professor Shoreham.» Der Mann im Sessel nickte mit dem Kopf. «Einige Fragen kann ich an Miss Neumann stellen.» Shorehams Hand streckte sich in einer schwachen Geste nach der Frau an seiner Seite. Laute kamen ihm von den Lippen, wieder nicht ganz erkennbar für alle, aber sie übersetzte schnell. «Er sagt, dass er sich darauf verlassen kann, dass ich alles übermittle, was sie ihm sagen möchten oder er Ihnen.» «Sie haben, glaube ich, schon einen Brief von mir erhalten», sagte Oberst Munro. «Das ist richtig», antwortete Miss Neumann. «Professor Shoreham hat Ihren Brief erhalten und kennt den Inhalt.» Eine Krankenschwester öffnete die Tür einen Spaltbreit – trat jedoch nicht ein. Sie flüsterte: «Kann ich irgendetwas besorgen oder tun, Miss Neumann? Für einen der Gäste oder Professor Shoreham?» «Ich glaube nicht, vielen Dank, Miss Ellis. Ich wäre aber froh, wenn Sie in Ihrem Zimmer am Ende des Ganges bleiben würden, falls wir irgendetwas benötigen.» «Sicherlich – ich verstehe.» Sie ging und schloss die Tür leise hinter sich. «Wir wollen keine Zeit verlieren», sagte Oberst Munro. «Zweifellos ist Professor Shoreham über die laufenden Ereignisse unterrichtet.» «Voll und ganz», sagte Miss Neumann, «soweit er sich dafür interessiert.» «Ist er auch informiert über die wissenschaftlichen Entwicklungen und Ähnliches?» Robert Shorehams Kopf bewegte sich leicht hin und her. Er antwortete selbst. «Damit habe ich völlig abgeschlossen.» «Aber Sie kennen in etwa die Lage, in der sich die Welt befindet? Wissen über den Erfolg der sogenannten Jugendrevolution? Die Machtergreifung von jugendlichen, voll aufgerüsteten Streitkräften?» Miss Neumann sagte: «Er ist vollständig informiert über alles, was sich abspielt – zumindest im politischen Sinn.» «Die Welt wird heute beherrscht von Gewalt, Leiden, revolutionären Lehren, einer abartigen, unglaublichen Herrschaftstheorie einer anarchistischen Minderheit.» Ein leichter Zug von Ungeduld ging über das abgezehrte Gesicht. «Das weiß er alles», sagte Mr. Robinson plötzlich. «Es ist nicht nötig, alles noch mal durchzukauen. Er weiß über alles Bescheid.» Er fragte: «Erinnern Sie sich an Admiral Blunt?» Der Kopf senkte sich wieder. Etwas wie ein Lächeln erschien auf den schiefen Lippen. «Admiral Blunt erinnert sich an eine wissenschaftliche Arbeit, die Sie für ein bestimmtes Projekt durchgeführt haben – ich glaube, Sie nennen so etwas ein Projekt? Projekt Benvo.» Sie sahen seinen aufmerksamen Blick. «Projekt Benvo», sagte Miss Neumann. «Da gehen Sie aber weit zurück, Mr. Robinson, wenn Sie sich daran erinnern.» «Es war Ihr Projekt, nicht wahr?», fragte Mr. Robinson. «Ja, es war sein Projekt», Miss Neumann sprach jetzt mit mehr Selbstverständlichkeit für ihn. «Wir können keine Atomwaffen einsetzen, keinen Sprengstoff, kein Gas, keine Chemie. Aber Ihr Projekt, Projekt Benvo, könnten wir nutzen.» Stille herrschte. Und dann kamen da wieder diese seltsamen verzerrten Laute aus dem Mund von Professor Shoreham. «Er sagt», übersetzte Miss Neumann, «Benvo wäre erfolgreich einsetzbar unter den Umständen, in denen wir uns gegenwärtig befinden –» Der Mann im Sessel hatte sich ihr zugewandt und sagte etwas zu ihr. «Er möchte, dass ich es Ihnen erkläre», sagte Miss Neumann, «an Projekt B. später Projekt Benvo genannt, hat er lange Jahre gearbeitet, hat es aber letzten Endes aus persönlichen Gründen aufgegeben.» «Weil er sein Projekt nicht wirklich realisieren konnte?» «Nein, er war nicht gescheitert», sagte Lisa Neumann. «Wir sind nicht gescheitert. Ich habe mit ihm an diesem Projekt gearbeitet. Er hat es aus ganz bestimmten Gründen aufgegeben, aber gescheitert ist er nicht. Er hatte Erfolg. Er war auf dem richtigen Weg, hat es entwickelt, in verschiedenen Laborexperimenten getestet, und es hat funktioniert.» Sie wandte sich wieder Professor Shoreham zu, machte ein paar Handbewegungen, berührte ihre Lippen, das Ohr, den Mund nach einem merkwürdigen Code. «Ich habe ihn gefragt, ob ich erklären soll, wie Benvo funktioniert. Und er möchte wissen, wie Sie davon erfahren haben.» «Wir haben darüber von einer alten Freundin von Ihnen gehört. Nicht von Admiral Blunt, er konnte sich nicht mehr an viel erinnern, sondern von der anderen Person, mit der Sie einmal darüber gesprochen haben, Lady Matilda Cleckheaton.» Wieder drehte sich Miss Neumann ihm zu und sah ihm auf die Lippen. Sie lächelte schwach. «Er sagt, er dachte, Matilda sei schon vor Jahren gestorben.» «Sie ist durchaus noch am Leben, und sie hatte die Idee, dass wir uns Professor Shorehams Entdeckung anhören sollten.» «Professor Shoreham wird Ihnen die Hauptpunkte dessen, was sie wissen wollen, erklären. Doch er muss Sie warnen, dass dieses Wissen völlig wertlos für Sie ist. Papiere, Formeln, Berichte und Nachweise dieser Versuche, alles wurde vernichtet. Aber da Ihre Fragen nur mit einer allgemeinen Beschreibung von Projekt Benvo zu befriedigen sind, kann ich Ihnen genau erklären, worin es besteht. Die Anwendung und der Zweck von Tränengas zur Kontrolle einer aufrührerischen Menge sind Ihnen bekannt, bei gewalttätigen Demonstrationen und so weiter. Es löst einen Weinkrampf aus, schmerzhafte Tränen und Schleimhautentzündungen.» «Und das hier ist etwas Ähnliches?» «Nein, es ist nicht im Mindesten ähnlich, aber es kann demselben Zweck dienen. Die Wissenschaftler haben sich etwas einfallen lassen. Man kann nicht nur die Grundgefühle und -reaktionen der Menschen ändern, sondern auch geistige Charakteristika. Man kann den Charakter eines Menschen verändern. Die Eigenschaften eines Aphrodisiakums sind wohlbekannt. Sie führen zu einem Zustand sexuellen Begehrens, es gibt verschiedene Drogen, Gase oder Drüsenoperationen – jedes dieser Dinge kann zu einer Veränderung der Geisteskraft, gesteigerter Energie wie etwa bei Veränderungen an der Schilddrüse führen. Professor Shoreham möchte Ihnen mitteilen, dass es einen bestimmten Prozess gibt – er wird Ihnen jetzt nicht sagen, ob es Drüsen betrifft oder ein Gas, das man herstellen kann, aber es gibt etwas, das den Menschen in seiner ganzen Lebenseinstellung verändern kann – in seinen Reaktionen auf andere Menschen und das Leben im Allgemeinen. Er kann sich in einem Zustand mörderischer Wut befinden, er kann krankhaft gewalttätig sein, doch durch den Einfluss von Projekt Benvo verwandelt er sich völlig in jemand anders. Er wird – es gibt nur eine Bezeichnung dafür, die schon im Namen liegt, er wird benevolent, gütig. Er möchte anderen Gutes tun. Er strahlt Freundlichkeit aus. Er verabscheut es, anderen Schmerzen zu bereiten oder Gewalt anzuwenden. Benvo kann über eine große Fläche verteilt werden, es kann auf Hunderte, Tausende von Menschen einwirken, wenn es in ausreichenden Mengen hergestellt und erfolgreich verteilt wird.» «Wie lange hält die Wirkung an?», fragte Oberst Munro. «Vierundzwanzig Stunden? Länger?» «Sie verstehen nicht», sagte Miss Neumann. «Es ist von Dauer.» «Dauerhaft? Sie verändern die Natur eines Menschen, Sie haben einen Bestandteil seines Daseins verändert, natürlich einen physischen Bestandteil, was eine permanente Wesensveränderung hervorgerufen hat. Und das können Sie nicht wieder rückgängig machen? Sie können ihn nicht wieder in den Zustand zurückversetzen, in dem er sich befunden hat? Man muss es als permanente Veränderung akzeptieren?» «Ja. Zunächst war es vielleicht nur eine Entdeckung von eher medizinischem Interesse, aber Professor Shoreham hatte es vorgesehen als Abschreckungsmittel zur Anwendung im Krieg, bei Massenaufständen, Aufruhr, Revolutionen, Anarchie. Er betrachtete es nicht rein medizinisch. Es erzeugt keine Glücksgefühle bei den Betroffenen, nur den großen Wunsch, andere glücklich zu machen. Das ist ein Gefühl, das jeder das ein oder andere Mal im Leben empfindet. Man hat den großen Wunsch, jemanden, eine Person oder viele Menschen – gesund, glücklich und zufrieden zu sehen, all diese Dinge. Und da die Menschen diese Dinge empfinden können und sie auch wirklich empfinden, muss es eine Komponente im Körper geben, die diesen Wunsch kontrolliert. Und wenn man diese Komponente einsetzt, kann es in Ewigkeit so weitergehen.» «Wunderbar», sagte Mr. Robinson. Er klang eher nachdenklich als begeistert. «Wunderbar. Welche Entdeckung. Was für eine Sache, die man da zum Einsatz bringen kann – aber warum sollte man es tun?» Der Kopf auf der Sessellehne drehte sich langsam zu Mr. Robinson: «Er sagt, sie verstehen es besser als die anderen.» «Aber das ist doch die Lösung», sagte James Kleek. «Es ist die exakte Lösung. Es ist wunderbar.» Miss Neumann schüttelte den Kopf. «Projekt Benvo», sagte sie, «steht nicht zum Verkauf und ist nicht zu verschenken. Es ist aufgegeben worden.» «Wollen Sie damit sagen, die Antwort lautet Nein?», fragte Oberst Munro ungläubig. «Ja. Professor Shoreham sagt, die Antwort lautet Nein. Er hat entschieden, es sei gegen –» Sie hielt einen Augenblick inne und sah wieder auf den Mann im Sessel. Er machte eigenartige Gesten mit dem Kopf, mit einer Hand, und ein paar gutturale Laute kamen aus seinem Mund. Sie wartete und sagte dann: «Er wird es Ihnen selbst sagen, er hatte Angst. Angst vor dem, was die Wissenschaft angerichtet hat in der Zeit ihrer Triumphe, ihrer Vorherrschaft. Die Dinge, die man herausgefunden hat und weiß, die Dinge, die man entdeckt und der Welt überantwortet hat. Die Wunderdrogen, die sich nicht immer als Wunderdrogen herausstellten. Das Penicillin, das Leben gerettet hat, und das Penicillin, das Leben genommen hat. Die Herztransplantationen, die Enttäuschung gebracht haben, und die Enttäuschung, wenn der Tod plötzlich unerwartet eintritt. Er hat im Zeitalter der Atomspaltung gelebt; es gab neue Vernichtungswaffen. Die Tragödie der Radioaktivität; die Umweltverseuchung, die neue industrielle Entdeckungen mit sich gebracht haben. Er hatte Angst vor dem, was die Wissenschaft anrichten könnte, wenn sie unkontrolliert angewendet würde.» «Aber das hier ist doch ein Gewinn, ein Gewinn für jedermann», rief Munro. «Das war so vieles. Immer ein großer Gewinn, eine große Wohltat für die Menschheit. Und dann kommen die Nebenwirkungen und, schlimmer als das, die Tatsache, dass sie manchmal eben keine Wohltaten, sondern Katastrophen gebracht haben. Und deshalb hat er sich entschieden aufzugeben. Er sagt:» – sie las es von einem Stück Papier in ihrer Hand ab, während er neben ihr in seinem Sessel zustimmend mit dem Kopf nickte. «Ich bin damit zufrieden, dass ich erreicht habe, was ich wollte. Ich habe meine Entdeckung gemacht. Aber ich habe mich entschieden, sie nicht zu veröffentlichen. Sie musste vernichtet werden. Und so wurde sie zerstört. Also lautet meine Antwort an Sie Nein. Es gibt keine Güte, keine Gutartigkeit zum Abzapfen aus dem Hahn. Vielleicht wäre das einmal möglich gewesen, aber heute sind alle Formeln, alles Wissen, meine Notizen und mein Bericht über das notwendige Verfahren dahin – zu Asche verbrannt –, ich habe mein Geistesprodukt vernichtet.» II Robert Shoreham kämpfte sich zu einem röchelnden Sprechen durch. «Ich habe mein Geisteskind vernichtet und kein Mensch auf der Welt weiß, wie ich dazu gekommen bin. Ein Mensch hat mir geholfen, aber er ist tot. Er starb ein Jahr nachdem wir zum Erfolg gekommen waren, an Tuberkulose. Sie müssen wieder abreisen. Ich kann Ihnen nicht weiterhelfen.» «Aber die Kenntnisse, die Sie besitzen, könnten die Welt retten.» Der Mann im Sessel gab ein seltsames Geräusch von sich. Es war Gelächter. Das Gelächter eines gebrochenen Mannes. «Die Welt retten. Die Welt retten! Was für eine Phrase! Das ist es, was Ihre jungen Leute da draußen machen, das glauben sie zumindest! Sie brausen los voller Gewalt und Hass, um die Welt zu retten. Aber sie wissen nicht wie! Sie müssen es selbst bewerkstelligen, aus ihren eigenen Herzen heraus, aus ihrem eigenen Verstand. Wir können ihnen keine künstliche Methode verabreichen, um das zu bewerkstelligen. Nein. Eine künstliche Güte? Eine künstliche Freundlichkeit? Nichts von alledem. Es wäre nicht real. Es wäre bedeutungslos und gegen die Natur.» Dann sagte er langsam: «Gegen Gott.» Die letzte Worte kamen plötzlich, klar artikuliert. Er sah seine Zuhörer der Reihe nach an. Es war, als bäte er sie um Verständnis, auch wenn er sich wenig Hoffnung machte. «Ich hatte das Recht, das zu vernichten, was ich geschaffen hatte –» «Das bezweifle ich sehr», sagte Mr. Robinson. «Wissen ist Wissen. Was Sie entwickelt haben – zum Leben erweckt haben, das sollten Sie nicht zerstören.» «Sie haben ein Recht auf Ihre Meinung – aber diese Tatsache müssen Sie akzeptieren.» «Nein», Mr. Robinson stieß das Wort heftig hervor. Lisa Neumann wandte sich ärgerlich zu ihm um. «Was wollen Sie damit sagen?» Ihre Augen blitzten. Eine gut aussehende Frau, dachte Mr. Robinson. Eine Frau, die wahrscheinlich ihr Leben lang in Robert Shoreham verliebt gewesen war. Ihn geliebt hatte, mit ihm gearbeitet hatte und nun an seiner Seite lebte, ihm behilflich war mit ihrem Verstand, ihm Hingabe schenkte in ihrer reinsten Form, ohne Mitleid. «Man erfährt so manches im Laufe seines Leben», sagte Mr. Robinson. «Ich glaube nicht, dass ich ein langes Leben haben werde. Ich bin einfach zu übergewichtig.» Er seufzte, als er an seinem Körper heruntersah. «Aber ich weiß so manches. Wissen Sie, Shoreham, ich habe recht. Sie werden auch zugeben müssen, dass ich recht habe. Sie sind ein ehrlicher Mensch. Sie würden Ihre Arbeit nicht zerstören. Sie hätten sich niemals dazu überwinden können. Sie haben sie noch irgendwo, weggeschlossen, versteckt, wahrscheinlich nicht in diesem Haus. Ich vermute, und ich äußere wirklich nur eine Vermutung, dass sie es irgendwo in einem Schließfach oder in einer Bank haben. Sie weiß auch, dass Sie es dort haben. Ihr vertrauen sie. Sie ist der einzige Mensch auf der Welt, dem Sie vertrauen.» Shoreham sagte, und diesmal war seine Stimme fast deutlich: «Wer sind Sie? Wer zum Teufel sind Sie?» «Ich bin nur ein Mann, der etwas von Geld versteht», sagte Mr. Robinson, «und von den Dingen, die mit Geld einhergehen, wissen Sie. Menschen und ihre Eigenheiten, ihre Lebensgewohnheiten. Wenn Sie wollten, könnten Sie die Arbeit fortführen, die Sie lediglich weggeschlossen haben. Ich behaupte nicht, dass Sie jetzt dieselbe Arbeit machen könnten, aber ich glaube, es ist alles noch irgendwo vorhanden. Sie haben uns Ihre Ansicht mitgeteilt und ich will nicht behaupten, dass sie ganz falsch ist», sagte Mr. Robinson. «Vielleicht haben Sie recht. Wohltaten für die Menschheit sind eine brenzlige Sache. Der arme alte Beveridge etwa, mit seiner Sozialversicherung. Keine Not mehr, frei von Furcht, frei von was weiß ich allem. Er dachte, er schüfe einen Himmel auf Erden, als er das sagte, plante und ausführte. Aber er hat keinen Himmel auf Erden geschaffen und ich glaube auch nicht, dass Ihr Benvo oder wie immer Sie es nennen (hört sich wie Reformhausnahrung an) den Himmel auf Erden bringt. Güte birgt ihre Gefahren, wie alles andere auch. Was es bewirken kann, ist, eine Menge Leiden, Schmerzen, Anarchie, Gewalt und Drogenabhängigkeit zu verhindern. Ja, es wird eine Menge böser Dinge verhindern, und es könnte etwas Wichtiges retten. Es könnte, gerade noch rechtzeitig, den jungen Menschen etwas bringen. Ihr Benvoleo – nun hört es sich an wie ein Patentreiniger – wird die Menschen gütig stimmen, und ich gebe zu, es kann sie herablassend, selbstgerecht und selbstzufrieden machen, aber es besteht auch eine geringe Chance, selbst wenn Sie die Natur der Menschen unfreiwillig verändern und sie dieses Wesen für immer, bis zu ihrem Tode beibehalten müssten, so würden doch vielleicht ein oder zwei – nicht viele – eine natürliche Berufung zu dem in sich entdecken – in Demut, nicht Stolz –, was sie unfreiwillig tun mussten. Sich wirklich verändern, meine ich, ehe sie sterben. Die neuen Verhaltensweisen, die sie sich angeeignet haben, nicht ablegen können.» Oberst Munro sagte: «Ich verstehe nichts von dem, was ihr da redet.» Miss Neumann antwortete: «Er redet Unsinn. Sie müssen Professor Shorehams Antwort akzeptieren. Er darf mit seinen eigenen Erfindungen machen, was er will. Sie können ihn zu nichts zwingen.» «Nein», sagte Lord Altamount. «Wir werden dich nicht foltern, Robert, oder zwingen, dein Versteck zu verraten. Du tust, was du für richtig hältst. Das ist abgemacht.» «Edward?», sagte Robert Shorham. Seine Stimme versagte ihm wieder etwas, seine Hände gestikulierten, und Miss Neumann übersetzte schnell. «Edward? Er fragt, ob Sie Edward Altamount sind?» Shoreham sprach wieder und sie übernahm seine Worte. «Er sagt, Lord Altamount, wenn Sie definitiv, von ganzem Herzen und mit ganzem Verstand ihn bitten, Ihnen Projekt Benvo unter Ihre Verfügungsgewalt zu geben… Er sagt –», sie machte eine Pause, schaute und hörte zu – «er sagt, sie seien der einzige Mann des öffentlichen Lebens, dem er jemals vertraut habe. Wenn Sie es wünschen –» James Kleek stand plötzlich aufrecht da. Eifrig, schnell wie der Blitz, stand er neben Lord Altamounts Stuhl. «Lassen Sie mich helfen, Sir. Sie sind krank. Es geht Ihnen nicht gut. Treten Sie etwas zurück, Miss Neumann. Ich – ich muss zu ihm. Ich – ich habe seine Medikamente hier, ich weiß, was zu tun ist –» Seine Hand verschwand in der Tasche und kam mit einer Spritze wieder heraus. «Wenn er die nicht sofort bekommt, ist es zu Ende mit ihm –» Er hatte Lord Altamounts Arm gefasst, rollte den Ärmel auf, kniff die Haut zwischen die Finger und hielt die Spritze bereit. Aber jemand anders bewegte sich auch. Horsham war schon quer durchs Zimmer, stieß Oberst Munro zur Seite: seine Hand schloss sich über der Hand von James Kleek, der er die Spritze entwand. Kleek kämpfte, aber Horsham war zu stark für ihn. Und jetzt war auch Munro da. «Also Sie waren das, James Kleek», sagte er. «Sie sind der Verräter, ein treuer Diener, der kein treuer Diener war.» Miss Neumann war zur Tür gegangen – hatte sie weit geöffnet und rief. «Schwester. Kommen sie schnell. Kommen Sie.» Die Schwester erschien. Sie warf einen raschen Blick auf Professor Shoreham, aber der winkte ab und zeigte quer durch den Raum zu Horsham und Munro, die den sich wehrenden Kleek festhielten. Ihre Hand reichte in die Kitteltasche. Shoreham stammelte: «Es ist Altamount, eine Herzattacke.» «Von wegen Herzattacke», brüllte Munro, «es ist versuchter Mord.» Er blieb stehen. «Halt den Kerl fest», sagte er zu Horsham und sprang quer durch den Raum. «Mrs. Cortman? Seit wann sind Sie denn Krankenschwester? Wir hatten sie ja fast aus den Augen verloren, als Sie uns in Baltimore entwischt sind.» Millie Jean kämpfte noch mit ihrer Kitteltasche. Jetzt erschien ihre Hand mit einer kleinen automatischen Pistole. Sie sah auf Shoreham, aber Munro blockte sie ab und Lisa Neumann stand vor Shorehams Sessel. James Kleek schrie: «Auf Altamount, Juanita – schnell, auf Altamount.» Ihr Arm schnellte hoch und sie schoss. James Kleek sagte: «Verdammt guter Schuss!» Lord Altamount hatte eine klassische Erziehung genossen. Er sah James Kleek an und murmelte schwach: «Jamie? Et tu, Brute!» und fiel zurück gegen die Stuhllehne. III Dr. McCulloch sah sich um, etwas unsicher, was er noch tun oder sagen sollte. Der Abend war für ihn eine etwas ungewöhnliche Erfahrung gewesen. Lisa Neumann trat zu ihm und stellte ein Glas neben ihn. «Ein heißer Grog», sagte sie. «Ich wusste schon immer, Sie sind die Beste von allen, Lisa», sagte er anerkennend. «Ich wüsste schon gern, was das hier alles zu bedeuten hat – aber ich nehme an, das ist eine so geheime Sache, dass mir niemand etwas darüber erzählen wird.» «Es geht dem Professor doch gut, oder?» «Der Professor», er blickte freundlich in ihr besorgtes Gesicht. «Ihm geht es gut. Wenn Sie mich fragen, hat ihm das sehr gut getan.» «Ich dachte, vielleicht der Schock –» «Es geht mir gut», sagte Shoreham. «Ich brauchte Schockbehandlung – ich fühle mich – wie soll ich sagen, wieder lebendig.» Er sah überrascht aus. McCulloch sagte zu Lisa: «Merken Sie, wie viel kräftiger seine Stimme ist? Apathie ist der größte Feind in solchen Fällen – was er braucht, ist seine Arbeit, die Anregung einer geistigen Tätigkeit. Musik ist schön und gut – sie hat ihn besänftigt und das Leben in Ruhe genießen lassen. Aber er ist ein Mann von so großer intellektueller Kraft – und er vermisst die geistige Betätigung, die einmal sein Lebenselixier war. Setzen Sie ihn wieder daran, wenn Sie können.» Er nickte ihr ermutigend zu, während sie ihn skeptisch ansah. «Ich glaube, Dr. McCulloch», sagte Oberst Munro, «wir schulden Ihnen ein paar Erklärungen über die Ereignisse des heutigen Abends, selbst wenn unsere höheren Mächte eine Politik der Geheimhaltung verlangen. Lord Altamounts Tod –» «Die Kugel hat ihn nicht getötet», sagte der Arzt. «Der Tod ist durch Schock eingetreten. Die Spritze hätte ihren Zweck erfüllt – Strychnin. Der junge Mann –» «Ich habe sie ihm gerade noch entreißen können», sagte Horsham. «Er war also der Übeltäter?», fragte der Doktor. «Ja – und er wurde mehr als sieben Jahre mit Vertrauen und Zuneigung bedacht. Er war der Sohn eines der ältesten Freunde von Lord Altamount –» «Das kann passieren. Und die Dame – sie steckten beide unter einer Decke?» «Ja. Sie hat sich die Stelle hier mit falschen Zeugnissen erschwindelt. Sie wird auch polizeilich wegen Mordes gesucht.» «Mord?» «Ja. Mord an ihrem Mann, Sam Cortman, dem amerikanischen Botschafter. Sie hat ihn auf den Stufen der Botschaft erschossen – und später etwas von maskierten jungen Männern, die ihn attackierten, erzählt.» «Warum hatte sie es auf ihn abgesehen? War das politisch oder persönlich?» «Wir nehmen an, er hat einige ihrer Aktivitäten entdeckt.» «Ich würde sagen, er vermutete Untreue», sagte Horsham, «stattdessen fand er ein Wespennest von Spionage und Verschwörung. Und sein Frau leitete die ganze Geschichte. Er wusste nicht recht, wie er damit umgehen sollte. Ein netter Kerl, aber etwas langsam im Kopf – und sie war intelligent genug, schnell zu handeln. Wunderbar, wie sie Kummer heucheln konnte bei dem Gedenkgottesdienst.» «Gedenk –», sagte Professor Shoreham. Alle drehten sich verwundert zu ihm um. «Schwierig auszusprechen, Gedenk – aber das meine ich so. Lisa, wir müssen wieder mit der Arbeit beginnen.» «Aber, Robert –» «Ich bin wieder zum Leben erwacht. Frag den Doktor, ob ich mich noch schonen muss.» Lisa wandte den Blick fragend zu Dr. McCulloch. «Wenn Sie das tun, verkürzen Sie Ihr Leben und werden in die Apathie zurücksinken –» «Also», sagte Shoreham. «Mo-Mode, das ist medizinische Mode heutzutage. Jeder, selbst wenn er auf der Schwelle des Todes steht – soll weiterarbeiten –» Dr. McCulloch lachte und stand auf. «Gar nicht mal so falsch. Ich schicke Ihnen ein paar Pillen zur Unterstützung.» «Die werde ich nicht nehmen.» «Sie schaffen das schon.» An der Tür blieb der Arzt stehen. «Ich würde nur gern wissen, wie Sie die Polizei so schnell hierherbekommen haben?» «Staffelkapitän Andrews», sagte Munro, «hatte alles im Griff. Er kam auf die Minute. Wir wussten, dass die Frau hier irgendwo in der Nähe war, hatten aber nicht die geringste Ahnung, dass sie sich schon im Hause befand.» «Nun – ich gehe jetzt. Stimmt das alles, was Sie mir erzählt haben? Ich habe das Gefühl, ich werde gleich aufwachen, weil ich mitten im neuesten Krimi eingeschlafen bin. Spione, Morde, Verräter, Spionage, Wissenschaftler –» Er ging nach draußen. Es war still im Raum. Professor Shoreham sagte langsam und deutlich: «An die Arbeit –» Lisa sagte das, was alle Frauen immer sagen: «Du musst vorsichtig sein, Robert –» «Nein – nicht vorsichtig. Die Zeit könnte knapp werden.» Dann sagte er wieder: «Gedenk –» «Was meinen Sie damit? Sie haben es schon einmal gesagt.» «Gedenken. Ja. Für Edward. Ein Denkmal. Ich habe schon immer gedacht, er hat das Gesicht eines Märtyrers.» Shoreham schien in Gedanken versunken. «Ich würde Gottlieb gern dabeihaben. Aber vielleicht ist er schon tot. Ein guter Mitarbeiter. Mit ihm und mit dir, Lisa – hol die Sachen aus der Bank –» «Professor Gottlieb lebt noch – man findet ihn in der Baker Foundation in Austin, Texas», sagte Mr. Robinson. «Wovon redest du überhaupt?», fragte Lisa. «Von Benvo, natürlich. Zum Gedenken an Edward Altamount. Er ist dafür gestorben, nicht wahr? Niemand sollte umsonst gestorben sein.» Epilog Sir Stafford Nye füllte zum dritten Mal ein Telegrammformular aus. ZP 354XB91 DEPS. Y. HABE HOCHZEITSFEIER ARRANGIERT FUER DONNERSTAG NAECHSTER WOCHE IN ST CHRISTOPHERS IN THE VALE IN LOWER STAUNTON 2:30 NACHMITTAGS STOP NORMALER ANGLIKANISCHER RITUS FALLS R.K. ODER GRIECHISCH-ORTHODOXER RITUS GEWUENSCHT BITTE ANWEISUNG TELEGRAFIEREN STOP WO BIST DU UND WELCHEN NAMEN MOECHTEST DU FUER DIE HOCHZEITSZEREMONIE VERWENDEN STOP MEINE NICHTE FUENF JAHRE ALT UND SEHR UNGEZOGEN MOECHTE ALS BRAUTJUNGFER TEILNEHMEN IN WIRKLICHKEIT SEHR SUESS HEISST SYBIL STOP HOCHZEITSREISE VOR ORT ICH DENKE WIR SIND IN LETZTER ZEIT GENUG UMHERGEREIST GEZEICHNET PASSAGIER NACH FRANKFURT AN STAFFORD NYE BXY 42698 AKZEPTIERE SYBIL ALS BRAUTJUNGFER SCHLAGE TANTE MATILDA ALS TRAUZEUGIN VOR STOP NEHME HEIRATSANTRAG AN OBWOHL NICHT OFFIZIELL ANGETRAGEN STOP CHURCH OF ENGLAND RITUS ZUFRIEDENSTELLEND AUCH ARRANGEMENT HOCHZEITSREISE STOP BESTEHE AUF ANWESENHEIT DES PANDABÄREN STOP ZWECKLOS ZU SAGEN WO ICH BIN DA SCHON WIEDER WEG WENN DICH DIES ERREICHT STOP GEZEICHNET MARY ANN «Sehe ich einigermaßen passabel aus?», fragte Stafford Nye nervös und verdreht den Kopf, um in den Spiegel zu schauen. Es war die Anprobe für seinen Hochzeitsanzug. «Nicht schlechter als jeder andere Bräutigam», sagte Lady Matilda. «Die sind immer nervös. Nicht so wie die Bräute, die sind meist schrecklich übermütig.» «Wenn sie nun nicht kommt?» «Sie kommt schon.» «Ich fühle mich – ich fühle mich irgendwie komisch.» «Das kommt von der zweiten Pastete, die du unbedingt essen wolltest. Du bist aufgeregt wie jeder Bräutigam. Mach nicht so viel Theater, Staffy. Du wirst schon alles richtig machen – Ich meine, es wird alles in Ordnung sein, wenn du in die Kirche kommst –» «Da fällt mir ein –» «Du hast doch nicht vergessen, die Ringe zu kaufen?» «Nein, nein, ich habe nur vergessen dir zu sagen, dass ich ein Geschenk für dich habe, Tante Matilda.» «Das ist aber sehr nett von dir, mein lieber Junge.» «Du hast gesagt, der Organist sei gegangen –» «Ja, Gott sei Dank.» «Ich habe dir einen neuen Organisten mitgebracht.» «Wirklich, Staffy, was für eine ausgefallene Idee! Wo hast du ihn gefunden?» «In Bayern – er singt wie ein Engel –» «Er muss hier nicht singen. Er muss die Orgel spielen.» «Das kann er auch – er ist ein hochtalentierter Musiker.» «Warum möchte er Bayern verlassen und nach England kommen?» «Seine Mutter ist gestorben.» «Oh je, das ist unserem Organisten auch passiert. Organistenmütter scheinen sehr anfällig zu sein. Muss man ihn bemuttern? Ich bin nicht sehr gut darin.» «Ich glaube, begroßmuttern oder beurgroßmuttern würde schon ausreichen.» Die Tür flog plötzlich auf und ein engelgleiches Kind im rosa Schlafanzug mit Rosenknospen übersät hatte seinen dramatischen Auftritt – und sagte in süßen Tönen, wie jemand, der ein überschwängliches Willkommen erwartet: «Ich bin es.» «Sybil, warum bist du nicht im Bett?» «Es ist nicht sehr schön im Kinderzimmer –» «Das bedeutet, du warst ungezogen und Nanny ist böse mit dir. Was hast du angestellt?» Sybil guckte zur Decke und begann zu kichern. «Es war eine Raupe – eine pelzige. Ich hab sie auf sie gesetzt und sie ist hier verschwunden.» Sybils Finger zeigte auf eine Stelle in der Mitte ihrer Brust, wo nach dem Modejargon das Dekollete zu finden ist. «Kein Wunder, dass Nanny böse war – brr», sagte Lady Matilda. In diesem Augenblick trat die Nanny ein, sagte, dass Miss Sybil zu übermütig sei, ihr Gebet nicht sprechen und auch nicht zu Bett gehen wolle. Sybil schlich sich an Tante Matildas Seite. «Ich möchte mein Gebet bei dir aufsagen, Tilda –» «In Ordnung, aber dann gehst du ins Bett.» «Oh ja, Tilda.» Sybil kniete nieder, faltete ihre Hände und gab verschiedene merkwürdige Geräusche von sich, die offenbar ein notwendiges Vorspiel für die Annäherung an den Allmächtigen im Gebet waren. Sie seufzte, stöhnte, grunzte, gab ein endgültiges verschnupftes Schnäuzen von sich und legte los: «Bitte, lieber Gott, segne Daddy und Mammi in Singapur und Tante Tilda und Onkel Staffy und Amy und die Köchin und Ellen und Thomas und alle Hunde und mein Pony Grizzle und meine besten Freundinnen Margaret und Diana und Joan, meine frühere Freundin, und mach, dass ich ein gutes Mädchen werde, um Jesu willen, Amen. Und bitte, Gott, lass Nanny nett zu mir sein.» Sybil stand auf, tauschte einen Blick mit Nanny in der Sicherheit, dass sie einen Sieg davongetragen hatte, sagte gute Nacht und entschwand. «Irgendjemand muss ihr von Benvo erzählt haben», sagte Lady Matilda. «Übrigens, wer ist denn dein Trauzeuge?» «Das habe ich ganz vergessen – muss ich denn einen haben?» «Nun, es ist so üblich.» Sir Stafford nahm ein kleines Plüschtier in die Hand. «Der Panda soll mein Trauzeuge sein – das freut Sybil – das freut Mary Ann – und warum nicht? Der Panda war von Anfang an dabei – schon seit Frankfurt…»